Schlatter, Adolf - 08. Der Zwiespalt zwischen der Bibel und dem Judentum vor dem Neuen Testament

Seit der Heimkehr der Gemeinde aus Babylonien wuchs die Geltung der Schrift in Jerusalem von Geschlecht zu Geschlecht, und als es gelungen war, den Angriff der syrischen Könige auf das Judentum abzuwehren, stand die Herrschaft des Gesetzes über die Gemeinde unerschütterlich fest. Daher nahmen die wandernden Teile der Gemeinde, die sich in allen Ländern von Persien bis nach Spanien niederließen, die heiligen Bücher überallhin mit, und als sie in Ägypten und den anderen griechischen Ländern rasch den Zusammenhang mit der heimischen Sprache verloren, hatten sie den Mut, die heiligen Schriften ins Griechische zu übersetzen. Dadurch wurde aus der Bibel das Band, das zwischen den weitzerstreuten Teilen des Volks die Einheit schuf. Darum führte auch die starke Anziehung, die das Judentum in allen Ländern auf zahlreiche Glieder der anderen Völker ausübte, nicht zu einer Vermengung des Judentums mit fremden religiösen Gewöhnungen, weil sich auch die neu Eintretenden willig unter die Herrschaft des Gesetzes stellten. Weil der Jude die Bibel bei sich hatte, war ihm überall die Möglichkeit gegeben, sich einen Gottesdienst zu verschaffen. Überall entstanden die Betsäle, die die heilige Lade enthielten, in denen die heiligen Schriften lagen. Denn das Hauptstück des neuen Gottesdienstes bestand darin, daß die Gemeinden durch die Vorlesung des Gesetzes und der Propheten hörten, was ihr Gott ihnen gebot. Mit der Vorlesung der biblischen Bücher verband sich dann in der gottesdienstlichen Versammlung „die Lehre„, durch die der Gemeinde gezeigt wurde, wie sie in den bestimmten, ihr gegebenen Lagen dem Gebot der Schrift zu gehorchen habe.

Der Ernst, mit dem sich die Gemeinde gläubig an die Bibel hielt, kam darin zum Ausdruck, daß sie sich die Entstehung der Schrift durch die Inspirationslehre verdeutlichte. Sie deutete sich damit die Entstehung der Schrift aus dem Vorgang, durch den der Prophet das göttliche Wort empfing. Dieses wurde ihm dadurch zuteil, daß der Geist auf ihn kam; ebenso schrieben nun Mose und die Propheten ihre Schriften vom Geist beherrscht. Damit war die religiöse Schätzung der Bibel zur Geltung gebracht. Der, den die Gemeinde hören wollte, war Gott, nicht der Prophet nach seiner menschlichen Stellung und seinen menschlichen Gedanken, sondern einzig und vollständig Gott, dessen Wort dadurch vom menschlichen Denken und Reden abgesondert wurde, daß der Prophet es im bewußtlosen Zustande empfing. Diese Vorstellung vom „Wirken des Heiligen Geistes entnahm der Jude nicht der Schrift, sondern der Weise, wie die Propheten der anderen Religionen ihre Inspirationen empfingen. Sie versetzten sich in Schlaf und Bewußtlosigkeit, um so das willenlose Werkzeug der göttlichen Mächte zu werden, in deren Namen sie reden wollten. Diese Lehre von der Entstehung der Schrift hat zwar die Aufmerksamkeit auf die Schrift und die Verehrung für sie gestärkt, hat aber auch ihr Verständnis und ihren Gebrauch gehemmt, weil es den jüdischen Lehrern noch nicht zum Bewußtsein kam, daß sie sich so das Verhältnis des Propheten zu Gott als unversöhnte Entzweiung dachten, da nach dieser Vorstellung Gott nur dadurch offenbar wurde, daß der Mensch verschwand, und Gott nur deshalb reden konnte, weil der Mensch verstummte.

Neben der Schrift, die der Gemeinde die Einheit gab durch das Bekenntnis zum einen Gott und durch den überall gleichartig vollzogenen Ritus, von dem vor allem die Beschneidung und der Sabbat Bedeutung hatten, machten sich aber noch andere religiöse Einflüsse in der Gemeinde mit starker Wirkung geltend, und dies brachte in ihr Verhältnis zur Schrift Schwankungen hinein. Denn jede Gruppe vertrat ihre Überzeugung dadurch, daß sie sie mit der Schrift verwob, wobei die stärkere Geltung nicht der Aussage der Schrift, sondern der eigenen Meinung zufiel. Derselbe Vorgang wiederholt sich nicht nur in der älteren, sondern auch in der heutigen Kirche, so daß ein beträchtlicher Teil unserer Bibelnot an dieser Stelle entsteht.

Bei den Griechen war aus ihrer Geschichte „Rationalismus“ entstanden, d. h. eine unbeschränkte Zuversicht zu den Leistungen des Denkens, die als das geeignete Mittel betrachtet werden, durch das die Welt beherrscht werden könne. Ihren Inhalt schöpfte ihre Vernunft aus der Natur, woraus sich folgerichtig ergab, daß sich der Wille auf diejenigen Güter, die unsere natürlichen Begehrungen befriedigen, auf Reichtum, Macht und Glück richtete. An diese Ziele blieb auch die Frömmigkeit gebunden, die nun in Gott den suchte, der dem Menschen beim Erwerb der natürlichen Güter behilflich sei. Daher entstand auch in der Judenschaft eine rationale Theologie, die sich die von der Schrift erzählten Ereignisse nach ihren natürlichen Bedingungen zu verdeutlichen suchte, deshalb nahm sie am Wunder als dem Merkmal des allmächtig schaffenden Gottes Anstoß. Sie stellte sich z. B. die Frage, wie Abraham zur Erkenntnis Gottes gekommen, wie also die Religion entstanden sei, und beantwortete sie durch die Ableitung des Gottesbewußtseins aus der Sternkunde, also durch eine Theorie, die die psychologische Möglichkeit der Erkenntnis Gottes aufzeigen wollte. Das ergab eine Menge von Erweiterungen zu dem von der Schrift Berichteten, und die Zuversicht der Griechen zu dem, was ihre Schlüsse ihnen als wahrscheinlich darstellten, hatte zur Folge, daß solche vernünftige Legenden mit derselben Wertschätzung aufgenommen und verbreitet wurden wie das Schriftwort selbst.

Neben der Vernunftreligion entstand in der Judenschaft auch jene Frömmigkeit, die wir Mystik heißen, die sich unbefriedigt von dem wegwandte, was das Studium der Welt gewährt, weil es die zentrale Stelle des inwendigen Lebens leer ließ. Sie verlangte statt dessen nach einer Berührung mit Gott, die sich im inwendigen Lebensstand spürbar mache. Für diese Frömmigkeit wurde ein großer Teil der biblischen Berichte leer; was konnten ihr noch die Geschichten über die Erzväter oder über Moses Kampf mit dem Pharao sagen? Denn diese Frömmigkeit war von der Gemeinde völlig abgelöst und beschäftigte die einzelnen nur mit sich selbst, nur damit, wie sie im eigenen Inneren die Offenbarung Gottes erlangen. Die Geltung der Schrift und ihre Entstehung durch die Inspiration standen aber völlig fest. Da ihnen das, was die Schrift sagte, sinnlos und unbrauchbar schien, halfen sie sich mit derjenigen Methode der Deutung, die wir Allegorie nennen, die an die Stelle der bestimmten, individuellen Personen und Ereignisse Ideen setzt. Die biblische Geschichte wird als die Schale behandelt, die aufgebrochen werden müsse, um zu dem Kern zu gelangen, der nun die eigene Frömmigkeit nähren kann, und dieser Kern bestand aus denjenigen Gedanken, in denen sich die eigene Frömmigkeit des Auslegers aussprach. Da auch diese Art von Schriftdeutung mit breiter Strömung in die Kirche hineinfloß, schuf und schafft sie auch in ihr die Unfähigkeit, auf das zu hören, was die Schrift uns zeigt.

Nachdem Jerusalem das Joch der griechischen Könige abgeworfen hatte, verwahrte es sich auch innerlich gegen die griechisch gewordenen Formen der Frömmigkeit. Deshalb sagte man in Jerusalem mit Eifer, was uns die Bibel gebe, sei nicht eine Theorie oder Philosophie, sondern sei das uns verpflichtende Gesetz, durch dessen Übertretung die Schuld und durch dessen Erfüllung das Verdienst entstehe. Dadurch wurde für die Frömmigkeit der Jerusalemiten das Hauptanliegen das gute Werk. Damit war aber der Blick der Frommen beständig auf ihr eigenes Verhalten zurückgebeugt, und das Gesetz, das sie als ihren Mittler mit Gott verehrten, wurde zur Scheidewand zwischen ihnen und Gott. Was die Schrift über sein gnädiges Wirken sagte, war an die zweite Stelle gedrängt und von dem abhängig gemacht, was das heilige Recht, das zu einem das ganze Leben umspannenden System ausgebildet wurde, den Frommen zur Pflicht machte.

Auch die Weissagung der Bibel, die der Gemeinde ihre Hoffnung gab, schien immer wieder einer Erneuerung zu bedürfen, weil sich mit dem Fortgang der Zeit der Blick in die Zukunft notwendig veränderte. Propheten, die jetzt noch als die Bringer eines göttlichen Wortes vor die Gemeinde traten, hatte sie nicht mehr. Die, die die Weissagung erneuern wollten, taten es darum dadurch, daß sie sich auf den Standpunkt eines alten Propheten zurückversetzten, z. B. Adams, Henochs, Moses, und sich ausdachten, was er wohl gesagt hätte, wenn er für die Gegenwart des Auslegers gesprochen hätte. Sie taten dies in der Überzeugung, daß der Prophet Anteil an der Allwissenheit Gottes empfangen habe und darum den unbeschränkten Vorblick in die Zukunft gehabt haben müsse, konnten sich aber dabei doch dem Eindruck nicht entziehen, daß zwischen dem göttlichen Wissen und dem Blick des Propheten ein Unterschied bleibe. Sie ließen deshalb den Propheten nur in Sinnbildern und Gleichnissen von dem reden, was für ihn noch ferne Zukunft war. Diese Darstellungen der die Hoffnung belebenden Gedanken in Bildern ergaben denjenigen Zweig der jüdischen Literatur, den wir „Apokalypsen“ heißen.

Alle diese schwankenden Gebilde, die aus dem mächtigen Ringen zwischen der Schrift und den religiösen Bestrebungen der Judenschaft entstanden, die rationale Geschichtsforschung, die die natürlichen Zusammenhänge der biblischen Geschichte festzustellen sucht, die Allegorie, die die Verbindung der Bibel mit der eigenen Frömmigkeit durch die Umdichtung der Bibel herstellen will, die Würdigung der Bibel als des Gesetzbuches, das die Unterwerf ung von uns verlangt, die Zusammenstellung der aus der Weissagung geholten Bilder zu einem die letzten Dinge beschreibenden System und vor allem die ungeistliche Inspirationslehre wanderten aus der Judenschaft auch in die Kirche hinüber und legen sich oft als eine Decke über die Schrift, die uns den Zugang zu ihr erschwert1).

1)
Vgl. besonders Schlatter, Gesdiichte Israels, 3. neu bearb. Ausgabe, 1925
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