Schlatter, Adolf - 28. Was ist uns nun die Bibel?

Ein Nachwort

Wir ziehen nun aus dem, was uns an der Bibel sichtbar ward, ein Endurteil1).

Zwar dürfen wir weder uns selbst noch anderen das schlichte, unbefangene Lesen der Schrift verdächtigen, das alle Formeln, in denen die Kirche und Theologie den Wert der Bibel ausgedrückt haben, beiseite läßt und sie einfach nimmt, wie sie vor uns liegt. So mit der Schrift umzugehen, ist uns durch die gebende, helfende, dienende Art Jesu erlaubt. Er stellte sich allen in Worten und Taten dar und ließ sie zuhören und seine Werke beschauen, damit sie bei sich bedächten, ob sie ihre Hoffnung auf ihn setzen wollten und den Gesalbten Gottes in ihm zu erkennen vermöchten. Er hat ihnen freilich zugemutet, daß sie zu einer festen Einsicht und gewissen Überzeugung gelangen, und die, die in Ungewissem Schwanken hängenblieben und stets aufs neue ein Zeichen begehrten, hat er ein böses und ehebrecherisches Geschlecht genannt. Aber er hat seinen Namen niemand aufgedrängt und nicht als fertige Formel seinem Verkehr mit den Menschen vorangestellt; denn er machte aus dem Bekenntnis zu ihm keinen Gesetzesdienst. Auch die Namen, die die Erhabenheit und Wichtigkeit der Bibel ausdrücken, sollen wir nicht als ein Joch und eine Last auf uns legen, weil uns die Schrift nicht dazu gegeben ist, um mit ihr ein Stück Gesetzesdienst zu üben. Sie bietet sich uns als Gabe und Hilfe dar, nicht bloß, damit wir ihr dienen und Verehrung erzeigen, sondern zuerst, damit wir uns von ihr dienen lassen und hören, was sie uns zeigt, und empfangen, was sie uns gibt. Aber daraus soll eine helle und feste Überzeugung in uns erwachsen und aus der Betrachtung der Schrift der Strahl der Erkenntnis hervorbrechen, die ein geschlossenes Urteil in sich hat.

Ist die Schrift Gottes Wort? Wie wir diese Frage beantworten, hängt davon ab, ob uns durch die Bibel Gott deutlich und gewiß geworden ist. Das ist uns allen klar, daß uns Erkenntnis Gottes nur durch Gott selber gegeben wird. Denn Gott wird nur so weit erkannt, als er sich selbst zu erkennen gibt. Nie bringen wir Gott in unsere Gewalt, so daß wir ihn vor unser Auge stellen und mit unserem Geist durchdringen könnten, sondern alle Erkenntnis Gottes ist Gottes eigene Gabe. Gibt uns die Schrift ein helles, deutliches Bild von Gott, dann ist gewiß, daß sie in Gott ihren Ursprung hat. Das Wort, das uns Gott offenbart, ist Gottes eigenes Wort an uns.

In allen ihren Teilen erweckt die Schrift mit wunderbarer Kraft das Andenken an Gott. Achten wir auf den Gott des Gesetzes, der in der Allmacht des Wunders sein Volk nach Kanaan führt als dessen gerechter Richter und gnädiger Versorger, oder auf den Verkehr der Propheten mit Gott, wie sie Gottes Zorn über Israels böse Dinge empfinden und ins Bußwort fassen und an seiner Treue ihre Hoffnung nähren, so daß sie zur herrlichen Verheißung wird, oder erwägen wir, wie Gott in dem wohnte, der das Kreuz getragen hat, und ihn mit seiner Gegenwart erfüllte, so daß er wußte: er ist der Vater und ich der Sohn, oder achten wir auf den Gott des Friedens und den Vater aller Barmherzigkeit, vor dem Paulus gerechtgesprochen und versöhnt sein Leben führt, überall finden wir nicht nur helle, reiche Gedanken über Gott, nein, ein Haben Gottes, ein bei Gott sein und mit Gott leben, das jeden Leser der Bibel mit Macht in die Nähe Gottes stellt. Was an hellen, reinen Gedanken über Gott und an freudigem, dankbarem Glauben, der in Gottes Güte und Vollkommenheit ruht, unter uns vorhanden ist, stammt aus der Bibel. Solche geschichtlichen Betrachtungen reichen freilich für die Frage nicht hin: ist die Bibel Gottes Wort? Dazu muß sich unsere eigene Seele bewegen und das, was uns von außen gegeben wird, mit dem vereinigen, was in uns selber ist. Zur Speise gehört ein Hungriger; ihn nährt sie. Erweist sich uns Gott, wie ihn uns die Bibel zeigt, als unser Gott, den wir um deswillen, was wir inwendig in uns selber sind, fassen können und ehren müssen, so daß wir ihm zu glauben und ihn anzubeten imstande und getrieben sind, dann ist die Gewißheit in uns gewirkt, daß die Bibel das Wort Gottes ist. Diese Erkenntnis kann kein Dritter für uns besorgen. Das Bekenntnis zur Schrift als zum Worte Gottes ist in jedem, in dem es Wahrheit ist, seine freie Tat, die Frucht seines inneren Erlebnisses, durch das der Gott der Schrift zu seinem Gott geworden ist.

Aber wir hören ja Menschen in der Schrift! Als wäre dies ein Einwand gegen ihren Ursprung aus Gott. Gott hat so mit uns geredet, daß er Menschen machte, Menschen begabte, Menschen erfüllte mit seiner Wahrheit und Kraft. Man hat sich freilich in der Kirche oft bemüht, die Menschen in der Bibel auszulöschen, damit Gott in ihr erscheine, und es regte sich auch in dieser Weise, die Bibel zu betrachten, ein reiner und richtiger Trieb. Diese Regel leitet uns an, Gott nicht uns gleichzustellen, weil es uns allein daran liegen muß, Gott zu hören, Gott zu erkennen, Gott zu gehorchen, und wir aus der Schrift nichts gewonnen haben, wenn wir in ihr nur Menschen finden, psychologisch interessante Charakterköpfe, geniale Geister und dgl. mehr. Wahr ist es, daß da, wo Gott erscheint, der Mensch ein verschwindendes Nichts und wertlose Nebensache wird. „Was liegt an ihnen allen, an Mose und Jesaja, Johannes und Paulus? Hier gilt das Wort des Apostels: „Welcherlei sie gewesen sind, daran ist mir nichts gelegen.“ Aber daß wir den allein wahrhaftigen Gott durch die Schrift erkennen, daran muß uns alles gelegen sein. Wir haben aber mit diesem Gedanken Gottes Weise und Weg noch nicht vollständig erfaßt. Wir haben nur auf Gottes Macht geachtet, die den Menschen in die Tiefe stellt, weit unter die Erhabenheit Gottes hinab. Aber Gott will uns in der Schrift etwas anderes zeigen als seine Macht. Darum hat er sich nicht dadurch kundgetan, daß er den Menschen erniedrigte, beiseite schob und verschwinden ließ, sondern dadurch, daß er die Menschen erweckte, zu ihm emporhob, in die Gemeinschaft mit ihm versetzte und ihnen dadurch das Amt und den Dienst übertrug, seine Zeugen in der Welt zu sein. Das erst gibt eine rechte Offenbarung Gottes und ein göttliches Wort, das ihn ganz kundtut; denn dies ist der Weg der Gnade. Gott macht Menschen zu seinen Zeugen, durch die wir ihn erkennen und hören; das ist nicht die Schwäche, sondern die Herrlichkeit der Schrift.

Die Männer, die durch die Bibel zu uns reden, haben eine helle und gewisse Erkenntnis Gottes, Einblick in seinen Rat und Anteil an seiner Liebe. Woher? Nicht aus einer besonderen Naturanlage oder eigenen Geschicklichkeit, auch nicht bloß wegen ihres besonderen Lebenslaufs; vielmehr gilt auch hier: wo Gott offenbar wird, da macht er sich selber offenbar. Er selbst hat sich seine Boten erweckt und gestaltet und ihr Herz mit seinem Wort gefüllt und ihren Sinn mit seinem Licht erleuchtet, so daß sein eigenes Wort in ihrem Munde ist und durch ihren Dienst verkündigt wird. Der Geist ist die Weise, wie Gott inwendig bei einem Menschen gegenwärtig ist und ihn bewegt und mit ihm redet und ihn dadurch reden macht, was Gottes ist. So gewiß die Schrift von Gott herkommt, so gewiß stammt sie aus Gottes Geist.

Aber wie wir eine Offenbarung Gottes träumen, bei der der Mensch zunichte wird, so denken wir uns auch das Wirken des Geistes gern so, daß der Mensch dadurch in Schlaf versinkt und in seiner Tätigkeit gebunden wird. Gottes Geist zerstört nicht, sondern schafft. Er ist der Erzeuger der wahrhaften, ihrer selbst bewußten Erkenntnis und des reinen, seiner selbst mächtigen Willens. Das, was er zerbricht, ist der sündliche Wille und die finsteren Gedanken, die aus der falschen Begierde entspringen; aber die natürliche Gestalt der Seele zerbricht er nicht, sondern erfüllt sie mit Gottes Gaben und erweckt und kräftigt sie zu dem, was der Mensch in sich selber nicht vermag. Auch jener unrichtige Gedanke will eine Wahrheit ausdrücken, indem er betont, daß das, was vom Geiste kommt, nicht aus uns selber stammt. Aber es bleibt uns deshalb nicht fern und fremd. Es ist nicht von uns, aber in uns. Gerade, weil Gott im Geiste zu den Menschen tritt, sind seine Gaben ernst gemeint, wirkliche Gaben, die ihr völliges Eigentum werden, das sie haben und besitzen als ein Stück ihrer eigenen Person. Deshalb werden Gottes Boten durch das Wirken des Geistes ihrer charaktervollen Eigenart nicht entkleidet, sondern der Geist schafft und vollendet diese und macht sie zu Menschen aus einem Guß, bei denen Gedanke und Wille, Wort und Werk aus demselben heiligen Trieb entspringen und von Gottes Licht und Wahrheit durchdrungen sind.

Was aus Gott stammt, hat sein Siegel darin, daß es sich selber gleich bleibt, und das Kennzeichen der Wahrheit besteht in der Einigkeit, zu der sie unsere Gedanken bringt. Wir stehen darum weiter vor der Frage: ist die Bibel mit sich einstimmig? Aber auch hier liegt uns ein trüber Gedanke nahe, durch den wir die Einheit der Schrift ins Äußerliche verkehren, wie sie etwa durch Formeln und Gesetze erzeugt werden kann, denen alles von außen her unterworfen wird. Die Einheit, die wir wünschen, gleicht oft einem leeren, öden Einerlei. Gott schuf Menschen, die ihn kennen; deshalb, weil er sie schuf, ist keiner von diesen seinen Zeugen dem anderen gleich. Jeder empfängt eine besondere Gabe, und Gott ist ihm in besonderer Weise faßlich und nahe. Gott ist unerschöpflich reich an Gestaltungen. Der Geist erzeugt, je reicher er wirkt, um so mehr ein personhaftes Leben. Aber das Personhafte ist in allem eigenartig. Darum ist das Wort, das aus dem Geiste stammt, immer wieder anders und neu. Welch ein Reichtum geistiger Gebilde liegt uns in der Bibel vor. Wir sehen die Geschlechter einander folgen, und jedes hat seinen eigenen Gedankenkreis und seine besondere Frömmigkeit und dient Gott in seiner Weise. Jeder Prophet hat seine ihn unterscheidenden Eigenschaften und jeder Apostel eine eigene Form des Evangeliums. Stellen wir die kluge Überlegung der Sprichwörter, mit der sie den geselligen und geschäftlichen Umgang mit den Menschen überdenken und ordnen, und die Offenbarung des Johannes zusammen, in der Johannes nur himmlische Gestalten vor sich sieht, nichts in seiner natürlichen Form uns vorgeführt wird und alle irdischen und zeitlichen Anliegen begraben sind, oder vergleichen wir die Sorgfalt, womit die priesterlichen Teile des Gesetzes den Opferdienst pflegen, wo jeder kleine Opferbrauch unermeßlich heilig und absolut notwendig wird und unter der Androhung des göttlichen Zorns und der Todesstrafe befohlen wird, mit der Freiheit des Apostels Paulus, der zu allen Dingen Macht hatte, nur daß er nichts über sich selbst zur Macht werden ließ, dessen Gottesdienst darin bestand, daß er im Geist mit Glauben auf die Gerechtigkeit hoffte, oder gehen wir von der tiefen Beugung, mit welcher der Prediger alle hohen und herrlichen Dinge, die die Menschen rühmen, vor seinem Auge versinken sieht, hinüber zu Johannes, der im Licht des Lebens wandelt, die Welt überwunden hat, trinkt, so oft er dürstet, und Ströme lebendigen Wassers von sich ausgehen sieht auf den dürren Boden um ihn her, so haben wir vor Augen, in welche weiten Abstände das innere Leben der heiligen Männer sich entfaltet hat, wie ausgedehnte Bahnen das Wort der Schrift durchmißt. Solange wir das göttliche Wort nur nach der Weise des Gesetzes fassen, wird uns die Mannigfaltigkeit und Fülle vielleicht verwirren. Für unseren Gesetzesdienst mag uns die Mühe kleiner, der Erfolg sicherer erscheinen, wenn die Schrift weniger mannigfaltig wäre und keine Unterschiede aufzeigte, sondern überall dieselbe deutliche Formel hören ließe. Anders lernen wir vom Reichtum der Schrift denken, wenn wir Gottes Gabe in ihr erkannt haben, durch die Gott uns speist mit Wahrheit und Gerechtigkeit, damit wir selbst ein Werk seines Geistes würden in seiner Erkenntnis und Gemeinschaft. Dann dient der Reichtum der Schrift der göttlichen Gnade und Größe zur Verherrlichung.

Die Einheit, die die Schrift bedarf und hat, besteht darin, daß alle ihre Weisungen sich gliedlich zu einem Ganzen zusammenfügen, an dem ich keinen Punkt verschieben kann, ohne daß das Ganze bewegt wird, keinen Teil wegwerfen kann, ohne daß ich das Ganze verliere, und mit keinem Teile mich einigen kann, ohne daß ich das Ganze an mich ziehe und ins Ganze geleitet werde. Diese Einheit ist uns äußerlich dadurch dargetan, daß alle Teile der Schrift aus einer festgefügten Geschichte hervorwachsen, die nirgends bricht und zerreißt. Sie treten aus einer einheitlichen Gemeinde hervor, deren Entwicklung einen genau zusammenhängenden Lebenslauf ergibt. Der größte Schritt ist der vom Alten zum Neuen Testament; aber wie stark sind hier die Klammern! Jesus, der das Neue schafft und die Freiheit der Gnade gibt und die Völker zu Gott beruft, stellt sich zugleich völlig unter die alte Schrift, bejaht sie unbedingt und macht sie zur heiligen Regel, die seinen Gang auf Erden geleitet hat. Und Paulus, der die Eigenart des neutestamentlichen Wortes am schärfsten hervorhebt, ergreift gerade das scheinbar entfernteste Glied des Alten Testaments, das Gesetz, mit höchster Energie. Indem er das, was das Gesetz will und wirkt, mit neuer Kraft erlebt, tritt er in die Fülle und Freiheit des Glaubens empor.

Was uns die Geschichte der Bibel von außen zeigt, das bewährt sich auch inwendig in unser aller Lebensgang. Das eine Wort der Schrift führt zum anderen; sie zieht als ein Ganzes in uns ein. Man kann nicht Paulus verstehen, ohne auch Jakobus zu begreifen, nicht im Neuen Testament leben, ohne daß uns das Alte faßlich und heilig wird. Wer mit den Sprüchen denken lernt, der lernt auch mit den Psalmen beten und mit den Propheten hoffen und mit den Aposteln glauben. Können wir mit Hiob ergeben vor Gott schweigen, dann können wir auch am Evangelium uns freuen und danken, jetzt, nachdem uns Jesus vor Augen steht. Wer von Mose den Ernst des göttlichen Gebotes lernt, ist damit auch auf den Weg der Freiheit gestellt, die ihm anbrechen wird, wenn Gott in seiner Güte ihm erscheint. Das mag sich im Lebenslauf der einzelnen oft seltsam dehnen und strecken, es wird sich dennoch bewähren, daß der Einklang mit der Schrift, wenn er an einer Stelle gewonnen ist, in ihr Ganzes führt.

Der Wechsel und die Mannigfaltigkeit der Schrift bringt darum in unseren Verkehr mit ihr keine Unsicherheit. Wir dürfen uns jedes einzelne Wort völlig aneignen. Die Schranke, die dem einzelnen Spruch und Buch anhaftet, kann uns nur dann gefährlich werden, falls wir die Willigkeit in uns ersterben lassen, auch das zu hören, was die Schrift daneben sagt. Jesus hat uns die richtige Stellung zur Bibel in einer bedeutsamen Stunde an sich selbst gezeigt. Die dem Glauben gegebene Verheißung, die unter Gottes Schutz keine Gefahr mehr kennt und keinen Schaden fürchtet, wurde ihm mit verführerischer Kraft vorgehalten. Sie war ein unzweifelhaftes, echtes Gotteswort, und Jesus hat sie mit ungeteilter Zuversicht ergriffen. Allein: „wiederum steht geschrieben.“ In derselben Weise, wie er die dem Glauben erteilte Zusage ergriff, war sein Ohr auch für die Warnung und Furcht Gottes offen. Er schaute mit dem gleichen hellen Blick und demselben Gehorsam in das Ganze der Schrift. Auf diesem Wege werden wir durch die vielen Wahrheiten, in die die Bibel sich teilt, nicht verwirrt, sondern in die ganze Wahrheit geführt.

Haben wir auf jene drei ersten Fragen die rechte Antwort erlangt, so werden wir auch bei unserer letzten Frage uns zurechtfinden: ob wir an die Bibel glauben dürfen. Jeder Blick auf Gott hat den Antrieb zum Glauben in sich, weil er als der unbewegliche Fels uns sicher trägt und uns den Stützpunkt gewährt, auf dem uns Ruhe und Friede bereitet ist. Eben das ist der Glaube, daß wir Gott unser redliches und ungeteiltes Ja darbringen. Und daß wir die Bibel als Gottes Wort an uns bejahen, das ist der Glaube an sie; dadurch haben wir uns ihr mit einer festen Gewißheit verbunden und unseren Willen ihr hingegeben, so daß wir am Bibelwort die Leitung und damit auch den Frieden haben. Es muß uns alles klar bleiben, was Gott zum Grunde unseres Glaubens macht. Wir suchen ihn oft nur in der Macht Gottes, zu der auch die Allwissenheit gehört. Allwissenheit ist geistige Macht, über jede Schranke emporgehobenes Vermögen des Erkennens. Man hat zur Glaubwürdigkeit der Schrift oft dies gezählt, daß sie in jedem „Wort vollständig richtig sei, daß sich nirgends ein Versehen, nirgends eine Dunkelheit, nirgends eine Verschiedenheit zwischen dem Sachverhalt und der Darstellung zeige. Diese Fehllosigkeit besitzt die Bibel nicht, weder in ihrer Geschichtsschreibung noch in ihrer Weissagung. Sowie der Erzähler aus der Ferne auf die Ereignisse zurückschaut, löst sich das geschichtliche Bild vom wirklichen Hergang der Sache ab, und die Weissagung erfährt durch die Erfüllung nicht bloß Bestätigung, sondern auch Berichtigung.

Denn indem Gott durch Menschen spricht, macht er sie als Menschen mit all ihrer Schwachheit zu seinen Boten. Der Glaubensgrund ist dadurch nicht verletzt. Läge uns in der fehllosen Richtigkeit der Bibel ein Meisterstück der göttlichen Macht vor Augen, so wären wir dadurch noch nicht zum Glauben ermächtigt und berufen. Gottes Macht beugt uns und stellt uns in die Ferne und deckt die Kluft auf zwischen ihm und uns. Der Grund zum Glauben wird dadurch gelegt, daß die Gnade Gottes sich zu uns herniederläßt und uns zu ihm erhebt und die gütige, freundliche, innige Beziehung zu uns stiftet, die uns an seiner Liebe und Gabe Anteil gibt. Hierfür ist die Schrift das vollgültige Zeugnis, gerade weil sie keine allwissende Geschichtsschreibung und lückenlose Weissagung enthält, wohl aber die Herablassung Gottes uns sichtbar macht, die die Männer der Bibel in seinen Dienst zog mitsamt den Schranken ihres Wesens, in denen ihre persönliche Art und ihre geschichtliche Lage sie festhielten, und gerade so seinen Namen durch sie verkündigen und preisen ließ.

Etwas von der Kraft Gottes müssen wir freilich sehen, damit der Glaube in uns entstehen kann. Dieser getröstet sich der Gnade, weil sie allmächtig ist, und an der Gabe, die wir empfangen, erwacht der freudige Mut, der auf das Vollkommene wartet. Würde die Schrift nur Dunkelheiten, Schwächen der Auffassung und Lücken des Wissens enthalten, so wäre sie nicht mehr Glaubensgrund. Allein wenn wir über dem, was zur menschlichen Schwachheit der biblischen Männer zu rechnen ist, übersehen, wie Großes ihnen gegeben war, so ist das unsere Schuld. Der Rückblick der biblischen Erzähler auf den Auszug Israels aus Ägypten war nicht mehr deutlich; dafür ist es aber eine große Wirkung Gottes, daß die Hauptsache an jenem Ereignis so mächtig in Israel fortlebte, daß Gott selbst mit seinem gewaltigen Arm Israel nach Kanaan gebracht habe. Die Sprüche Jesu sind in der evangelischen Überlieferung mehrfach gruppiert, und wir können in keiner Weise überall ihren ursprünglichen Wortlaut verbürgen.

Aber was ändert das an dem großen Wunder, daß ein so helles und reines Bild Jesu in der Seele der Apostel entstand und in der Gemeinde sich forterhielt? Wer Grund zum Glauben sucht der findet ihn in der Schrift in reicher Fülle; denn sie richtet bestandig an uns ein Wort, durch das das ewige Licht der Wahrheit Gottes uns erreicht und unsere Seele zu Gott gezogen wird, so daß wir in Gott unseren Herrn erkennen und durch Christus unseren Vater nennen.

Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.

Das ist aber das Wort, welches unter Euch verkündigt ist.

1. Petr. 1, 25.

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Schlußwort aus der „Einleitung in die Bibel„
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