Schlatter, Adolf - 25. Jesus unsere Hoffnung

Drei Dinge, sagte Paulus, bleiben. Was bleibt also nicht? Die Theologie der Kirche bleibt nicht, auch nicht ihre prophetische Theologie, ihre Weissagung. „Als ich ein Kind war, dachte ich wie ein Kind, und als ich ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war.„ Die Sitte der Kirche bleibt nicht; ihr Ringen mit dem Bösen wird schwerer, wenn die Not größer wird, und ihre die Gerechtigkeit herstellende Arbeit wird wirksamer, wenn ihre Kraft wächst. Die Verfassung der Kirche bleibt nicht; sie wechselt mit ihrer wechselnden Lage. Was bleibt? Drei Dinge, sagte Paulus; der Glaube, denn unser Verhältnis zu Gott ist befestigt und mit Gewißheit durchleuchtet, die Hoffnung, denn unser Verlangen bleibt auf das gerichtet, was kommt, und die Liebe, denn die Alleinherrschaft unserer Eigensucht ist gesprengt, und wir leben nicht für uns selbst. Bleibt aber die Hoffnung wirklich? Hat sie sich nicht in der Kirche gleich nach der apostolischen Zeit völlig verändert? Können wir noch hoffen, wie Jesus hoffte, als er zum letzten Mal mit seinen Jüngern auf dem ölberg saß und zur heiligen Stadt und zur Pracht ihres Tempels hinübersah; und wie die Apostel hofften, z. B. Johannes, als ihn das Gesicht zum Zeugen der richterlichen Handlung im Himmel machte, bei der das bisher versiegelte Buch, in dem das Urteil Gottes über die Menschheit stand, geöffnet wurde, so daß nun das göttliche Urteil zur Vollstreckung kommen kann?

Wie es beim Ende Jesu stand, zeigt uns das, was an den drei Kreuzen auf Golgatha geschah. Alle drei, die dort nebeneinander an den Kreuzen starben, sprachen von der Zukunft, weil der königliche Name, der Christusname, der über dem Kreuz Jesu stand, den Blick aller auf das wandte, was kommen wird. „Bist du nicht der Christus? Steig herab.“ Diese Stimme verzichtete auf die Hoffnung, die der Name Jesu erweckt hatte. Stieg er nicht herab, starb er am Kreuz, dann war für den, der so sprach, mit dem Ende Jesu auch seine Verheißung tot. Das war auch die Meinung des Pilatus, als er Jesus den Christus, den König der Juden, hieß. Wenn irgendeiner der von der Judenschaft Erwartete war, dann war es nach seinem Urteil Jesus. Darum hing er ihn gegen die jüdische Einrede mit seinem königlichen Namen an das Kreuz, damit dieser für immer widerlegt und abgetan sei. Derselbe Gedanke drängte sich aber auch an die Jünger mit erschütternder Kraft heran. In einem von ihnen hatte er den Haß entzündet, in den anderen die Klage erweckt: „Wir hofften, er werde Israel erlösen.„ Das ist die erste, nächstliegende Antwort, die wir der Verheißung Jesu geben können: Verzicht. Sie ist die Antwort aller, für die die Geschichte Jesu mit seiner Kreuzigung endet, und zieht ihre Stärke aus dem mächtigen Abstand zwischen dem, was uns die Verheißung sagt, und dem, was uns die Geschichte zeigt. Sind wir nicht verpflichtet, dem zu trauen, was uns unser Auge sichtbar macht, und uns an das zu halten, was die Geschichte verwirklicht hat? Das ist aber offenkundig, daß die Verheißung Jesu auch heute noch ebenso hoch über dem schwebt, was die Erfahrung lehrt, als an dem Tage, da auf Golgatha die drei Kreuze standen.

Auch die zweite Stimme, die vom anderen Kreuz herkam, sprach vom Christus und seinem Reich, vom König, der um zu herrschen, kommen wird. Ein „Bandit“ sprach so, der sich mit Raub und Gewalttat befleckt hatte; aber den Blick auf den Verheißenen hatte er deshalb nicht verloren. So hofften in Galiläa und Jerusalem alle, die sich zur alleinigen Herrschaft Gottes bekannten, um ihretwillen gegen die Machthaber zum Schwert griffen, dadurch zu „Banditen„ wurden und sich nun bereitmachen mußten, „ihr Kreuz zu tragen“. Sie taten es in der Gewißheit, daß das Himmelreich, Gottes Herrschaft, dennoch komme. Ihre Hoffnung war allein auf Gottes Macht, die Wunder wirkt, gestellt; darum war ihr Zukunftsbild zur Gegenwart der absolute Gegensatz. Wie die Nacht neben dem Tag, stand das Kreuz neben dem Auferstehen, die Herrschaft der Sünder neben der Herrschaft Gottes, die gegenwärtige Welt neben der kommenden. Das drängte aber die Hoffnung nicht in ein Jenseits hinüber. Gott hatte seine Herrschaft schon in der ihm geheiligten Gemeinde begründet, und das brachte in den finsteren Zwischenraum zwischen dem gegenwärtigen Elend und der kommenden Herrlichkeit die Füllung hinein. In dieser Wartezeit mußte die Gemeinde ihm dienen, sich zu seiner Herrschaft bekennen, kämpfen und treu sein bis zum Tod.

Diese Hoffnung blieb nicht, sondern zerbrach. Als der Kampf in Verzweiflung endete, die letzten Kämpfer ihre letzte Burg in der Wüste, Masada, nicht mehr halten konnten, ihre letzte Hoffnung begruben und sich selbst töteten, da haben sie, wie Josefus sagt, dessen Darstellung unter rethorischem Aufputz eine tiefe Wahrheit verbirgt, ihren Blick zum Himmel gewandt, in den ihre Seele aus. diesem nichtigen Leben, das in Wahrheit ein Totsein sei, gerettet werde, und diese Wendung in der Hoffnung vollzog allmählich die ganze Judenschaft. In ihrer Lehre hielt sie zwar die Erwartung des: Verheißenen fest, aber das Ziel ihrer Hoffnung wurde „das Paradies„, in das die Seele mit dem Tode eintritt.

Es dauerte nach dem Tode der Apostel nicht lange, so ging die Kirche denselben Weg wie die Judenschaft. Zwar blieb der kommende Gottestag, an dem sich Christus in der Herrlichkeit seiner Gottheit offenbaren wird, ein Hauptstück ihres Lehrsystems. Der Jüngste Tag bringt den Weltuntergang, das Weltgericht, das Ende der Zeit, die ewige Welt. Das war aber nur noch Lehre, die den Willen nicht zu erfassen vermochte, und wenn sie ihn bewegte, so schuf sie viel mehr Furcht als Hoffnung, weil Christus „kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten“. Die Hoffnung der Christenheit verlangte nach dem Himmel, nach dem, was die Seele nach dem Tode empfangen soll, wo sie von Sünde, Schmerz und Tod befreit, für sich das ewige Leben erhält.

Der, der neben Jesus starb, ging noch nicht diesen Weg und klammerte sich nicht an das, was der Seele im Reich der Toten oder im Himmel geschehe, sondern hielt sich an den Namen Jesu, der von seiner königlichen Sendung sprach, und bat: „Du wirst in dein Reich kommen; dann denke an mich.„ Und diese Hoffnung hat ihm Jesus bestätigt, und zur Verbürgung seiner Verheißung, daß er auch zu denen gehören werde, an denen er, wenn er die Gemeinde in die Vollendung führe, die Herrlichkeit der göttlichen Gnade und die Fülle des göttlichen Lebens offenbare, sagte er ihm: „Nicht erst einst, sondern heute, nicht nur dann, wenn ich zum Herrn der Gemeinde werde, sondern auch im Paradies wirst du bei mir sein.“ Weil die Gemeinde, die an ihn glaubt, dann, wenn er stirbt, ihren Ort bei ihm hat, wird sie auch dann bei ihm sein, wenn er sein die Welt vollendendes Werk vollbringt. Nun gab es für die Hoffnung nirgends mehr einen dunklen Raum; nun war sie so weit und so groß gemacht, wie das Werk des Christus ist, das die Lebenden und die Toten umfaßt.

Die Bitte des Schachers: „Denke an mich, wenn du in dein Reich kommst„, blieb die der Jünger, so lange sie lebten, und sie war in ihrem Herzen mit der Antwort Jesu verbunden und darum mit Jubel gefüllt: ob wir leben oder sterben, wir sind sein. Diese Hoffnung hat Petrus zu seinem Kreuz geleitet und Paulus bis zum Ende seines Laufs getragen und Johannes stark gemacht, zu „bleiben“, auch als die anderen alle gegangen waren; für Johannes blieb es „die letzte Stunde„, so lange er bleiben mußte. Dem Blick auf den Tod wichen sie nicht aus; aber sie verweilten nicht beim Schicksal ihrer Seele. Größeres begehrten sie, Gottes Offenbarung vor der Welt, das Wirksamwerden seiner Gerechtigkeit und Gnade, die Gegenwart des Christus, der allem, was geschaffen wird, Gottes Größe zeigen wird.

Was hinderte die Kirche, in ihrer Hoffnung mit den Aposteln verbunden zu bleiben? Ein Anstoß ergab sich für sie daraus, daß sich die Gedanken, mit denen die Weissagung das Kommende beschrieb, nicht unverändert wiederholen ließen und dem Ideal der Erkenntnis nicht entsprachen, das sich unter dem griechischen Einfluß in der Kirche festgesetzt hatte. Sie träumte von einem „Wissen, das uns abseits von der Geschichte und der Erfahrung zuteil werden soll, und beschrieb vor allem den Propheten, wie es schon die Judenschaft getan hatte, als den, dessen Auge in den göttlichen Blick, für den es keine Beschränkung gibt, hineinversetzt sei. Nun hat aber sowohl die Geschichte Jesu als die seiner Jünger daran ein wesentliches Merkmal, daß sie sein Kreuz und seine Verherrlichung, sein vollbrachtes und sein vollkommenes Werk, auch zeitlich eng miteinander verbanden. Doch dies war nur eine Schwierigkeit neben vielen anderen, die es der Kirche erschwerten, die neutestamentliche Weissagung zu bewahren. Weil sich die Weissagung einzig damit be- . schäftigte, die Hoffnung zu erwecken, und nicht jetzt schon die Erkenntnis des Kommenden darbot, ließ sich aus den neutestament-lichen Worten kein zusammenstimmendes Bild der kommenden Dinge gewinnen. Denn die bildlichen Stoffe, die die weissagenden Worte verwenden, wechseln in ihnen in reicher Mannigfaltigkeit. Dieser Grund gibt uns aber nicht das Recht, die Weissagung Jesu abzulehnen. Denn wir lernen es nicht erst an seiner Weissagung, daß er unsere Gemeinschaft mit ihm nicht auf seine Erkenntnis gründet und uns nicht dadurch den Eingang in Gottes Reich verschafft, daß er uns an Gottes Wissen Anteil gibt. Seine Botschaft war gründlich entstellt, als sie nur dazu benutzt wurde, um unser Bewußtsein mit göttlichen Gedanken zu füllen. Sowie wir uns das deutlich machen, hört die törichte Rede vom „Irrtum“ Jesu und seiner Boten auf. Was sie taten war, daß sie weissagten; das bedeutet, sie haben in dem, was geschah, das Wirken Gottes erkannt, dessen, der war und ist und kommt, der anfängt und vollendet. Ihr Blick auf Gott hatte die Gewißheit in sich, daß das, was Gott gibt, nicht ein Stückwerk, sondern ein Ganzes ist und nicht mit dem vergehenden Augenblick vergeht, sondern den ganzen Ablauf der Zeit durchdringt. Daruni entsteht aus der Vergangenheit immer neu eine Gegenwart und aus der Gegenwart eine Zukunft, und diese wiederholt nicht nur, was einst geschehen war, sondern vollendet es. Weil aber das Bild für das Kommende aus dem Geschehenen geschöpft werden muß und nirgends anders gesucht werden darf, bleibt jede Weissagung von der Erkenntnis verschieden. Das ist jedoch keine Schwächung oder Trübung der Weissagung, sondern das ist die Weise, wie sie an der Wahrheit Anteil hat. Sie würde phantastisch und zur leeren, willkürlichen Einbildung, wenn sie sich vom Gegebenen und Wahrgenommenen löste, bleibt dagegen wahr, wenn sie. auch beim Aufschwung zu den höchsten Höhen und entlegensten Fernen vom Empfangenen bewegt ist und im Geschehenen ihre Wurzel hat. An der Weissagung Jesu und der Apostel ist dies in aller Deutlichkeit sichtbar. Aus seiner Sohnschaft Gottes, somit aus einer ihn jetzt erfüllenden Wirklichkeit, aus seiner Gewißheit der Herrschaft Gottes, somit aus einer von ihm restlos bejahten Gegenwart entstand das „Bald“, mit dem er sein königliches Wirken verhieß. Ebenso hatte die Weissagung der Apostel in der erfahrenen Christusherrlichkeit Jesu ihren Grund.

Ein zweiter Riegel, der der Kirche den Zugang zur Verheißung Jesu verschloß, entstand durch ihr Weltbild, und durch unsere Natur- und Geschichtswissenschaft sind diese Schwierigkeiten noch gewachsen. Sie regten sich aber schon in der alten Christenheit sofort sehr kräftig, sowie die Botschaft Jesu bei der griechischen Bevölkerung heimisch wurde. Für sie sah die Welt ganz anders aus als für Jesus und die Seinen. In Palästina gab es keine Astronomie, überhaupt keine Naturlehre, die allen einen starken Eindruck von der Festigkeit des natürlichen Geschehens gab, die durch die Mathematik zum Ausdruck kommt; im griechischen Bereich gab es dagegen die Anfänge der Astronomie und Mathematik. Die palästinische Gemeinde machte sich das, was Gott sei, durch seine Taten deutlich, die der Gemeinde ihre Geschichte gegeben hatten, während für die Griechen ihre Geschichte religiös unfruchtbar geblieben war und ihnen als das Erzeugnis der menschlichen Willkür oder dann als das Spiel eines heimtückischen Schicksals erschien. Von den palästinischen Frommen sträubte sich keiner gegen den natürlichen, leiblichen Grund unseres inwendigen Lebens. Bei ihnen blieb die Würde unseres Leibes, ein Werk des göttlichen Schaffens zu sein, unverletzt, auch wenn sie in ihm den Grund der uns fesselnden Ohnmacht mit schmerzhafter Klarheit erkannten, Phil. 3, 21. In den frommen Griechen lebte dagegen ein starkes Gefühl für den Zwiespalt zwischen unserem inwendigen und unserem leiblichen Leben, das nicht selten zur Angst vor den natürlichen Vorgängen und zu ihrer Verachtung führte. Unter dem Einfluß dieser Gedanken wurde die Verheißung Jesu unfaßbar. Wenn die Natur für den Geist und für Gott das andere, das Fremde und Feindliche war, was konnte die Hoffnung noch anderes begehren als die Befreiung vom Leib, die Entrückung aus der Natur, die Flucht aus der Welt, für die das Weltende und der Weltbrand herbeigewünscht wird? Statt dessen verhieß Jesus, daß er seine Gemeinde mitsamt ihrem Leib und ihrer Natur zu ewiger Gemeinschaft mit sich vereine, und sah in seiner neuen Herabkunft auf die Erde die Krönung seiner Sendung.

Sowohl die naturalistische Einrede, die die unbewegliche Festigkeit der Natur bewundernd preist, als der idealistische Widerspruch, der die Natur als das Nichts, als Schein von sich stößt, ist mit dem Ende der griechischen „Welt nicht verstummt, sondern hat unter uns verstärkte Kraft gewonnen. Der Gegensatz wurde dadurch wesentlich verschärft, daß sich die Gegnerschaft nicht nur gegen den Leib und die aus „Materie“ bestehende Natur, sondern auch gegen unser inwendiges Leben richtete und auch den geistigen Vorgang mit seiner Fassung in die Zeit und seiner Gebundenheit an den Ort als „Erscheinung„ wertete. Wenn alles, was sich uns zeigt, uns in Schein einhüllt und unser Auge nirgends etwas Wirkliches erfaßt, an das wir uns mit entschlossener Bejahung anschließen dürften, dann gibt es freilich für uns keine andere Hoffnung als die, mit der sich die auf Masada Sterbenden, gestärkt durch das Beispiel der Inder, trösteten, daß vielleicht hinter dieser Welt der Erscheinung ein Jenseits vorhanden sei, zu dem uns der Tod den Zugang öffne.

Die Frage, ob wir die Hoffnung, die uns die Verheißung Jesu gibt, in uns tragen oder sie abweisen, findet aber nicht durch die Bearbeitung unseres Weltbildes die Entscheidung. Denn die Verheißung Jesu war nicht eine Folgerung aus seinem Weltbild, etwa eine Ableitung aus einer Physiologie, die die Seelensubstanz als unsterblich beschriebe, oder der Schlußsatz zu einer Geschichtsphilosophie, die etwa Adam und Christus nebeneinanderstellte und aus Adams Fall die Wiederaufrichtung der Welt durch Christus erschlösse. Er sprach vielmehr mit seiner Verheißung das aus, was er selber ist, daß er der Sohn des Vaters und der Träger seiner Gnade ist. Daher entsteht aus unserem Gottesbewußtsein, nicht aus unserem Weltbild die Entscheidung für oder gegen seine Verheißung. Nur dann kann sie in uns wirksam werden und uns unsere Hoffnung geben, wenn uns Jesus seinen Gott sichtbar macht, den Gott, der der Schöpfer ist, auch der Geber dieses unseres Raums und dieser unserer Zeit, auch der Bildner dieses unseres Leibes und dieser unserer Erde, auch der Regierer unserer Geschichte und der Wirker unserer Gemeinschaft, die unser Leben zusammenfügt, der darum für dies alles, weil er sein Schöpfer ist, auch sein Vollender ist, und wenn er uns in seinem Gott, dem schaffenden, den Vater zeigt, den, der in ihm sein ewiges Wort mit Fleisch und Blut geeint hat, den, der ihm die Vollmacht gegeben hat, Kindschaft Gottes in der Menschheit herzustellen und uns als unser Herr zu der in Gott verbundenen Gemeinde zu einigen. Nur wenn wir den Schöpfer kennen, können wir auf den Vollender hoffen, der das vollendet, was wir als sein Werk geworden sind, und nur wenn wir den Sohn kennen, können wir auf ihn hoffen als auf den, durch den der Vater die aus ihm lebende und in ihm geeinigte Gemeinschaft seiner Kinder schaffen wird.

Damit ist uns bereits die tiefste Ursache sichtbar geworden, die die Hoffnung der Christenheit von dem ablenkte, was das Ziel der neutestamentlichen Schar gewesen ist. Die Kirche ging nicht bloß deshalb andere Wege, weil sie bei Jesus und den Aposteln keine „Lehre von den letzten Dingen“ fand, die ihr Verlangen nach Erkenntnis befriedigt hätte, auch nicht nur deshalb, weil sie sich nicht mit unserer Natur aussöhnen konnte, sondern ihren Leib von sich abschüttelte, sondern deshalb, weil auch ihr Verhältnis zu Jesus nicht mehr dasselbe war wie das der ersten Jüngerschar. Die Hoffnung bleibt, sagte Paulus, weil der Glaube bleibt und weil die Liebe bleibt. Die drei Bleibenden sind unlöslich aneinander gebunden. Um deswillen, was geschehen ist, kommt das Zukünftige, und um deswillen, was kommt, ist das Geschehene geschehen. Wandelt sich der Glaube, der das uns Gesagte und Gezeigte faßt und an dem uns Gegebenen hängt, so ändert sich auch die Hoffnung, die nach dem Kommenden verlangt, und ebenso ist die Wandlung in der Liebe notwendig von einer Wandlung in der Hoffnung begleitet. Für die Christenheit, die auf die Apostel folgte, hatte aber der Glaube nicht mehr zuerst und allein in Jesus seinen Grund, sondern sie heftete ihn an das, was ihr in ihrer Gegenwart als die Bezeugung Gottes und die Vermittlung seiner Gnade sichtbar war, an den Bischof, der ihr die göttliche Lehre sagte, an das Sakrament, das ihr die wirksame Gnade zutrug, an die Kirche, die als die Heilsanstalt ihre Glieder zum ewigen Leben führt. Es ist offenkundig, daß die Kirche dabei nach den größten Worten suchte, um die Einheit Jesu mit Gott zu preisen, und das machte, daß ihr Glaube und ihre Hoffnung christlich blieben. Ohne Christus wäre das alles nicht vorhanden, woran sie glaubte, und ohne ihn wäre es nicht wirksam und könnte keine Hoffnung hervorbringen. Er stand vor und über allen diesen Heiligtümern als der, der ihre heilsame Wirkung ermöglicht hatte. Darum beschaute die Kirche mit Andacht das Wunder in seiner Person, aus dem die Wunderbarkeit der Kirche und ihre Macht, zu erlösen, zu trösten und uns über das Sterben emporzuheben, stammte. Eben deshalb geht aber, genau gesprochen, ihr Glaube nicht mehr auf ihn und wendet sich nicht mehr an ihn als den Gebenden und Wirkenden, der uns das gibt und das an uns wirkt, was Gottes Gnade gibt und wirkt. In den Jüngern Jesu war aber das der Vorgang, der sie mit Jesus verband, und deshalb war auch ihr Hoffen ebenso vollständig und ausschließlich auf ihn und sein Wirken gerichtet, wie es ihr Glaube war.

Darum beschaute ihre Hoffnung nicht ihren eigenen Zustand und beschäftigte sich nicht mit unserem Geschick. Nicht ihr eigenes Bild füllte ihren hoffenden Blick, ihr leuchtendes Angesicht, von dem nun die Blässe des Todes gewichen ist und auf dem nun der Glanz des ewigen Lebens liegt, nicht ihre eigene Gestalt, die nun vom verweslichen Kleid befreit, das Herrlichkeitsgewand trägt, das Sternenkleid, den geistlichen Leib, nicht ihre Gemeinschaft miteinander, die das wieder vereint, was der Tod getrennt hat. Herrlicheres schaute ihr hoffender Blick. Darnach verlangten sie, daß Jesus sein Werk vollende, daß er gegenwärtig sei, herrsche und seine Herrlichkeit offenbar mache, darnach, daß er Gottes Größe allem zeige, was geschaffen ist, und Gottes Gerechtigkeit an allem, was lebt, wirksam mache, und Gottes Gnade über sein ganzes Reich ausbreite.

Daraus entstand keine Unsicherheit im Blick auf den Ausgang ihres eigenen Lebens. Er war ja in allem, was er tat und tun wird, der Diener der Gnade, und über seinem königlichen Wirken leuchtete ebenso hell wie über seinem Kreuz sein „für euch„. Wird er offenbar, so sucht er das Auge derer, die ihn sehen; wird er gegenwärtig, so bringt das ihnen die Vereinigung mit ihm; herrscht er, so schafft er ihr Leben; richtet er, so befreit er sie von allem, was Gottes Werk verdirbt. Eben dadurch erwies sich seine Verheißung als universal, als Gottes Wort, daß sie im Griff nach dem Ganzen jeden einzelnen ergriff.

Für sich selbst begehrten die Jünger Jesu mit Ernst, daß er sie richte. Sie hofften nicht nur, daß er durch sein richterliches Handeln aus der Welt die entferne, die sie verderben, sondern verlangten auch, daß er über ihr Werk sein Urteil spreche. Sie wußten sich ihm verpflichtet, waren in seinen Dienst gestellt und taten ihre Arbeit mit dem, was ihm gehörte und von ihm ihnen gegeben war. Sie taten sie im klaren Bewußtsein ihrer Freiheit mit dem Einsatz ihrer eigenen Liebe. Darum war es ihr inniges Anliegen, aus seinem Mund zu hören, wie er über sie urteile. Sie konnten sich nicht selbst richten, nicht selbst sich rechtfertigen. Am Lob, das sie sich selber gaben, lag ihnen nichts; aber daran lag ihnen alles, daß sein Urteil alles verwerfe und vernichte, was seinem Willen widersprach, und alles bestätige und ewig wirksam mache, was eins mit seinem Willen war.

Vor dem Tode fürchteten sie sich nicht. Galt es zu sterben, so „übergaben sie ihre Seele dem treuen Schöpfer“ und baten, daß er „ihren Geist aufnehme„. Dazu brauchten sie keine Theorien, sondern nur das eine, daß sie wußten: wir sind sein. Dachten sie daran, daß Jesus im Himmel sei in der ewigen Gottesstadt und beim ewigen Heiligtum, so konnten sie auch vom „ewigen Haus“ sprechen, das für sie bereit sei, wenn ihr Zelt abgebrochen werde, 2. Kor. 5, 1. Damit verdunkelten sie sich aber nie ihr großes Ziel, Jesu Sendung in die Welt, Gottes Verklärung am irdischen Ort, und sie murrten nicht, daß es nun für sie einen „Zwischenzustand„ gebe und sie auf ihre Vollendung warten müßten, sondern sie begehrten nur das eine, daß der Verlauf ihres Lebens mit dem Werk Jesu verbunden bleibe, sie, solange er im Himmel ist, zu ihm in den Himmel führe und sie dann durch die Auferstehung mit ihm vereine, wenn er auf der Erde seine Gemeinde sammeln wird.

Das war das Verlangen der „ersten Liebe“, aber nicht mehr das der folgenden Geschlechter. Ihr Blick war auf ihr eigenes Schicksal gerichtet, auf ihr vom Sterben befreites Leben, auf die Vollendung und Verherrlichung der Seelen, die ihnen der Anblick Gottes und Jesu bringen wird. So bekam das Verlangen nach der eigenen Seligkeit, nach der Erhaltung und Verklärung des lieben eigenen Ichs, die Herrschaft über die Hoffnung, und dadurch verarmte sie. Nun beschäftigte sie nur noch den einzelnen mit seinem eigenen Geschick und verkümmerte zum Trost, der die uns plagenden Nöte versüßt.

Das war kein über das Neue Testament emporführendes Wachstum, nicht eine Erhebung über die Verheißung Jesu. Auch an dieser Stelle bewährt das Neue Testament seine richtende, reinigende, aufbauende Vollmacht. Der evangelischen Christenheit sollte das deutlich sein, weil von der Reformation1) wieder der Anschluß des Glaubens an Jesus gesucht und gefunden wurde. Aber unsere Hoffnung blieb noch an dem hängen, was vorher war. Darum blieb das Lied der evangelischen Kirche hauptsächlich — es gibt einige Ausnahmen — Sterbenslied und Ausmalung der himmlischen Seligkeit.

Not bereitet uns die Verheißung Jesu dann, wenn wir sie zum Spielzeug machen, das uns die Kenntnis der kommenden Dinge schon jetzt verschaffen soll. Wer die Weissagung des Neuen Testaments wirklich gehört hat, hat schweigen gelernt. Zur Not wird sie uns weiter, wenn wir nur nach unserem eigenen Heil begehren. Sie ist uns dazu gegeben, damit wir beten lernen: Es komme dein Reich.

1)
Vgl. Schlatter, Die Offenbarung des heiligen Geistes in der deutschen Reformation, 18 S. Oskar Günther-Verlag, Dresden-Klotzsche
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autoren/s/schlatter_a/hib/25._jesus_unsere_hoffnung.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
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