Schlatter, Adolf - Heilige Anliegen der Kirche - Die heilige Geschichte und der Glaube. 2. Rede

Schlatter, Adolf - Heilige Anliegen der Kirche - Die heilige Geschichte und der Glaube. 2. Rede

Der Glaube der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Gemeinde hat seinen Grund in der Geschichte gehabt. über dem ganzen alten Testament steht das Wort: ich bin der Herr, der dich aus Ägypten, aus dem Ort der Knechte, ausgeführt hat, und formt den Blick der alttestamentlichen Gemeinde zu Gott. Und die ganze neutestamentliche Gemeinde ist auf Jesus gegründet und schöpft aus ihm ihr nach oben gewandtes Erkennen und Lieben. Kann es denn unter uns eine Streitfrage werden, ob sich der Glaube auf die heilige Geschichte beziehe als auf seinen Gegenstand?

Wir fassen zuerst noch einmal ins Auge, warum in der Bibel Glaube und Geschichte in fester Einigung beisammenstehen, damit wir nochmals dessen gewiss werden, dass wir mit dieser Gestalt unserer frommen Gedanken nicht nur der lieben Gewohnheit folgen, sondern auf der Wahrheit stehen.

1. Das Gottesbild der Schrift ist voll personhaft bestimmt. Sie stimmt die Frage nach Gott, die sie in uns erweckt, auf den Ton: was ist Gottes Wille? Und als die göttliche Gabe, in der wir unsere Lust und Seligkeit finden sollen, nennt sie uns nichts sachliches, sondern Gottes Gnade, die Gottes Blick und Wohlgefallen auf uns lenkt. Gewiss beruft uns die Schrift auch dazu, „Erben Gottes“ zu werden, zuerst aber dazu, Kinder Gottes zu sein, und nur den Kindern Gottes teilt sie auch ein göttliches Erbe zu. Alles, was wir an Kraft und Eigentum für Leib und Seele auf Erden und im Himmel für uns erwarten dürfen und empfangen können, wird von der Schrift in das göttliche Lieben eingeschlossen, als in die erste und höchste Gabe, ohne die es für uns keinen Anteil an göttlicher Kraft und göttlichem Besitztum gibt. Deshalb gibt es für das Auge der Propheten und Apostel keinen anderen Ort, in welchem sich Offenbarung Gottes in vollem Sinne finden könnte, als die Geschichte. Denn in der Geschichte handelt die Person. Indem Gott die heilige Geschichte schafft, tritt er als Person mit uns in Berührung und macht seinen heiligen und gnädigen Willen für uns offenbar.

Als das andere Gebiet der Realität steht der Geschichte die Natur gegenüber, wie wir sie sowohl außer uns, als an uns selber finden, nicht nur an unserem Leib, sondern auch in unserer Innerlichkeit. Auch sie ist etwas bewegtes, nicht nur etwas daseiendes, sondern etwas geschehendes, ein Reich des Lebens, das nicht in Passivität gefangen ist. Von dem aber, was wir Geschichte heißen, unterscheidet sich das natürliche Werden und Geschehen dadurch, dass es nicht der Persönlichkeit entspringt. Die Natur ist eine un- und unterpersönliche Sphäre des Lebens. Darum ist dort die Kraft das Bewegende, hier dagegen ist es der Wille. Die Kraft offenbart sich in Wirkungen und aus solchen besteht die Natur; der Wille dagegen offenbart sich in Taten und aus solchen besteht die Geschichte. Nicht schon da, wo Wirkungen erfolgen, sondern erst da, wo Taten geschehen, nicht schon da, wo Kräfte sich regen, sondern da, wo sich der Wille sichtbar macht, wird der Gott der Schrift offenbar und Gemeinschaft Gottes mit uns gestiftet. Darum besteht Gottes Lob in der Bibel im Preise seiner großen Taten.

2. Dieselbe Betrachtung überträgt die Schrift auch auf den Christus. Wie sie den Vater fasst, so gestaltet sie auch das Bild des Sohns. Für den Blick der Apostel besteht die Bedeutung Christi in nichts sachlichem, sondern darin, dass er kommt und bei uns gegenwärtig ist, in seiner Gnade, die versöhnt und verzeiht und uns ihm verbunden macht. Das nehmen die Apostel hin als Gottes allgenugsame Gabe an die Welt, als sein Offenbarwerden für uns und seine Gegenwart bei uns. Nichts was Jesus hatte oder jetzt im Himmel hat, weder sein Kleid noch seine Lehre, nichts was sich gesondert von ihm ergreifen ließe, vielmehr er selbst galt den Aposteln als der Grund ihres Heils, und aus seinem Heilandsherzen schöpften sie ihren Frieden. Damit ist aber gegeben, dass sich ihnen Jesu Geschichte als der Heilsgrund offenbarte, wodurch sie auch zum Glaubensgrunde wird, weil der Heilsgrund und der Glaubensgrund nicht auseinander fallen. Die Entfernung der Geschichte aus dem Glauben schließt den Verzicht auf eine wirklich religiös gedachte Christologie in sich. Er würde uns jenen Blick auf Jesus unmöglich machen, in welchem ein ganzes Vertrauen, ein ganzer Gehorsam, ein ganzes Lieben, ein ganzer Anschluss enthalten ist. Wir haben tatsächlich von ihm keine Gabe, die von seiner Person ablösbar wäre. Als er von der Erde schied, war nichts vorhanden als die von ihm vollbrachte Tat, die von ihm gelebte Geschichte. Darum kann der Glaube, der auf Christus zielt, seinen Inhalt nur aus der Geschichte schöpfen; er gründet sich auf Christi Tat.

3. Wie wir zu Gott aufsehen und was uns Christus bedeutet, das bedingt weiter das Bild, das wir uns vom Menschen machen. Denn unser Gottesbild und unser Menschenbild haben zu einander innige Beziehungen. Die Zuwendung des Menschen zu Gott denkt sich die Bibel vollständig personhaft. Ganze, eigene, freie Hingabe an Gott ist das, was sie dem Menschen aufgibt und auch in ihm pflanzt. Sie kümmert sich nicht nur um unsere Meinungen, hat es auch nicht nur auf ein Stück unsres Eigentums abgesehen, das wir Gott opfern sollen, sondern möchte uns selbst zu Gott hinwenden. Es gilt hier im höchsten Sinn: „ich suche nicht das Eurige, sondern euch.“ Wir sind zum willentlichen Dienst Gottes berufen, in welchen wir ohne Vorbehalt mit unserer ganzen Person eingehen dürfen, und dadurch sind wir zu Trägern einer Geschichte gemacht. Unser eigener Lebenslauf erhält den vollen Ernst derselben, da unsere eigene Tat unser Geschick bedingt und den ganzen Verlauf unsres Daseins bestimmt. Zugleich greift diese auch höchst wirksam, teils fördernd, teils hemmend, in den Lebenslauf der anderen ein. Wie weit unsere Geschichte sich ausdehne, welchen Umfang sie ausfülle, ist hierbei nebensächlich. Der entscheidende Punkt ist der, dass wir den uns zugeteilten Dienst mit dem Einsatz eines ganzen Willens durchführen. Dadurch ist aber unser Glauben der Geschichte zugewandt. Diese unsere Lebensgeschichte sollen wir nicht isoliert von Gott vollbringen, sondern aus ihm und durch ihn und zu ihm. Darum ist es von großer Wichtigkeit, dass wir mit unserem Bitten und Glauben unsere eigene Geschichte umspannen, damit unsere Tat aus Gottes Tat erwachse und unser Dienst auf Gottes Gabe gegründet sei.

Die heilige Geschichte Voraussetzung einer geheiligten Lebensgeschichte.

Wir haben noch nicht die richtige Glaubensstellung erlangt, wenn nur das, was wir leiden, uns zum Glauben treibt. Wohl lehrt Not beten, und doch kann es der noch nicht, den nur die Not dazu treibt, nicht auch der ihm übergebene Dienst. Auch ist es nicht nur Genuss, was wir bei Gott glaubend suchen dürfen; nicht weniger haben wir uns von ihm ein Lebenswerk zu erbitten, das seiner Gnade dient. Wäre jedoch die Geschichte nicht geeignet, Inhalt unsres Glaubens zu sein, dürften wir uns nicht auf Gottes Taten gründen, so würde auch unsere eigene Lebensgeschichte von diesem Verzicht mit umfasst. Ist die geschehene Geschichte leer von göttlichem Handeln, so wird dies auch die zukünftige Geschichte sein. Damit kommt über unsere Frömmigkeit notwendig eine bloß passive Erschlaffung. Sie besteht dann noch aus unsern Meinungen, die ja vielleicht vortrefflich sind, oder aus unsern Stimmungen, die recht lieblich und friedlich sein mögen; immer aber ist der zerstörende Riss in uns gestiftet, der den Herd und Mittelpunkt unsres Lebens für Gott, verschlossen hält. Der Bruch der Einheit in unserm Innern hat weiter die Störung der Gemeinschaft mit den anderen zur Folge. Diese passiven Frömmigkeitsformen sind alle separatistisch; sie suchen ihre Befriedigung in einer für die anderen verschlossenen Innerlichkeit und werden gleichgültig gegen deren Lebenslauf, während die Geschichte uns beisammen hält. Durch Geschichte entstehen geeinigte Reiche und durch die heilige Geschichte Gottes Reich.

Wir stehen mit der Erwägung, ob unser Glauben auf die Geschichte ziele, nicht nur vor einem formalen Problem. Sie ist die Frage nach dem persönlichen Gott, die Frage nach Christus als dem, der unser Heilsgut ist, die Frage nach dem Sinn unsres Lebens, ob auch uns sich eine Geschichte erschließe, die zwar nicht eine heilige, wohl aber eine geheiligte zu werden vermag.

Wir sind aber auch dazu heute vereinigt, um uns deutlich zu machen, warum sich für weite Kreise in unserer Kirche an dieser Stelle eine Schwierigkeit findet, die der fröhlichen und gewissen Gründung des Glaubens auf die heilige Geschichte widerstrebt. Theologische Kontroversen entstehen nie bloß aus der Willkür einzelner Lehrer; vielmehr kommen in denselben jeweilen diejenigen Schwierigkeiten zur Sprache, die in abgestufter Weise schließlich doch uns alle berühren und in denen eine klare Stellung zu gewinnen uns allen aufgegeben ist.

Das mächtigste Motiv, das sich gegen die gläubige Schätzung der heiligen Geschichte sträubt, liegt im Eindruck, den die Natur auf uns macht.

Wie eine kleine Insel, ja wie ein Tröpflein im Meer steht das persönliche Leben neben dem naturhaften Geschehen da, nicht nur wegen der quantitativen Unermesslichkeit des letzteren, sondern auch wegen seiner intensiven Übermacht. Wie gering ist in unserem eigenen Lebenslauf der Bereich dessen, was aus uns selber kommt, was als Gebilde unsres Willens unsere Tat ausmacht, was die Frucht unserer Liebe ist, sei es zum Vater, sei es zu den Menschen, neben dem, was um uns und an uns und in uns in der Weise eines Naturvorgangs geschieht, dem wir widerstandslos unterworfen sind! So wie unser Wille über die Schwelle unsres Herzens tritt und in die Tat sich verwandelt, wird er vom ganzen Geflecht des Naturprozesses umspannt, von dem er keine Lösung finden noch auch suchen kann, weil er ohne denselben völlig wirkungslos und irreal bleibt. Noch greller drängt sich dies der Beobachtung im Geschick der großen Gemeinschaften auf, in die jedes einzelne Menschenleben hineingepflanzt ist. Wie wenig scheint hier die Persönlichkeit zu bedeuten neben der umfassenden Herrschaft jener Bewegungen und Veränderungen, die sich mechanisch vollziehen! Das eine Wort „Entwicklung!“ stellt uns den ganzen Schwarm dieser Empfindungen und Betrachtungen vor die Seele. „Entwicklung“ ist nicht mehr Geschichte, ist nicht mehr Tat, sondern ein passives Geschoben- und Gestaltetwerden von der Umgebung aus. Hier sind die Vorgänge des menschlichen Lebens nach Naturkategorien gedacht und der Mensch hat den Schlüssel für das Rätsel seines Wesens unter sich, bei den Dingen gesucht.

Der Zug der Zeit, doch nicht bloß dieser, sondern auch bleibende, unvergängliche Impulse der Wahrheit haben den Blick auch bei der heiligen Geschichte auf ihre Naturseite gelenkt. Wir haben jene Darstellungen der Geschichte Israels, Jesu und der Apostel erhalten, bei denen das Geflecht der naturhaft wirkenden Faktoren den breiten Raum des Bilds ausfüllt und das Nachdenken darauf zielt, dasselbe in seine Glieder zu zerlegen und jedes in seiner Wirkungsweise zu beobachten. Vom kanaanitischen und babylonischen Element im alten Israel, vom Beitrag der vorderasiatischen Kultur und Barbarei und Überkultur zu seiner Geschichte, vom Einfluss des Beduinen einerseits, des Rabbinen andrerseits auf den Gedanken der Schrift, vom Emportauchen Jesu aus der Atmosphäre seiner Zeit, von seiner naturhaften Gebundenheit an die jüdischen Bewusstseins- und Lebensformen, von der Entwicklung des Paulus vom Schriftgelehrten zum Apostel u. dgl., haben wir alle mancherlei gehört. Es ist leicht fasslich, warum sich die wissenschaftliche Arbeit mit kräftiger Neigung zu solchen Problemen hingezogen fühlt. Sowie wir es mit einem naturhaften Geschehen zu tun haben, lässt sich der Hergang auf eine konkrete, genaue Formel bringen. Die Proportion zwischen der Kraft und ihrer Wirkung ist berechenbar. Was dagegen in der Geschichte aus dem Willen geboren ist und als Tat in ihr erscheint, hat immer etwas geheimnisvolles an sich. Es ist der Berechnung nicht zugänglich, sondern hat die Majestät einer schlechthin positiven Wirklichkeit.

Eine nach dem Naturschema gedachte Geschichte begründet keinen Glauben mehr. Je mehr die Persönlichkeit in ihr erbleicht, um so mehr verblasst das Göttliche in ihr; ist sie ganz verneint und begraben, so ist das Göttliche verdeckt. Heilige Geschichte ist nur das, was aus heiligem Geiste stammt, und vom heiligen Geiste kann nur dann gesprochen werden, wenn es heilige Persönlichkeiten gibt, in denen er lebt als in seinem Werk. Die mannigfaltigen Gebilde des Naturprozesses dagegen stehen nicht über uns, sondern neben uns, da sie doch nur Variationen derselben Kräfte und Gesetze sind, die auch uns bilden. Ein innerliches Interesse kann sich nicht mehr an sie heften; für uns gibt es bei ihnen nichts zu suchen, nichts zu empfangen, nichts zu glauben.

Zwei Dinge sind hier zu sagen. Wir dürfen nicht naturlos denken, so wenig als wir naturlos zu leben berufen sind. In aller echten Geschichte und zumal auch in der heiligen Geschichte liegt eine starke Bejahung der Natur. Nicht der sprunghafte Wille oder die vereinzelte Tat erzeugt Geschichte, sie beruht vielmehr auf der fortwirkenden Macht derselben. Die Tat von gestern bestimmt, was heute ist, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die anderen, die mit uns verbunden sind, wie wiederum ihr Wollen und Handeln uns erfasst. Diese Festigkeit der fortwirkenden Kraft empfängt das, was aus dem Geiste kommt, durch seine Verbindung mit der Natur. Diese erscheint innerhalb der Geschichte als das dem Geist gegebene Werkzeug, durch das er seinen Dienst ausrichten soll. Und da auch in der heiligen Geschichte diese Verbindung des persönlichen Lebens mit seinem natürlichen Kleide nicht gelöst, vielmehr bestätigt ist, stellt sich jeder naturwidrige Gedanke auch als schriftwidrig und gottwidrig dar. Nicht darin liegt in jenen Gedankenreihen, die manche unter uns erschüttern, das Versuchliche, dass sie auf das naturhafte, mechanische, willenlose Element im Geschichtslauf hinweisen, sondern die Versuchung, die an diesen Arbeiten haftet, besteht darin, dass wir nichts mehr sehen als dieses unpersönliche Kräftespiel, so dass es als das einzig reale unserm Auge sowohl Gott, wie uns selbst verhüllt.

Und das Zweite, was hier zu sagen ist, ist dies: so lange Glaube das ist, wodurch wir Gott zu ehren haben, kann es uns nicht in Verwunderung setzen, dass die Wahrnehmung des göttlichen Handelns für uns mit Schwierigkeiten begleitet ist. Schwände der Schleier, den jetzt das natürliche Geschehen über alles breitet, was göttlich und geistlich ist, wäre dann unser Blick zu Gott hin noch Glaube und nicht vielmehr das Schauen? Wäre es nicht das ewige Leben, wenn der Zwiespalt zwischen Person und Natur an uns geschlichtet wäre? Ob wir aber auch hier ein Rätsel vor uns haben, das auf unser Denken und auf unser Wollen kräftig drücken kann: es ist uns allen zugleich auch das Auge gegeben, das über die in der Natur uns gesetzte Schranke hinaus zu sehen vermag. Wir alle wissen, dass wir uns selbst verleugnen, wenn wir uns nur als ein Stück Natur ansehen. Das ist die wunderbare Weise, wie Gott sich uns Menschen beweist. Sein Beweis ist der, dass wir ihn nicht verlieren können, ohne uns selbst zu verlieren. Es gilt die Regel: verleugnest du mich, so verlierst du dich selbst; findest du mich, so gewinnst du auch dich selbst. Mit dem Göttlichen geht uns zugleich das wahrhaft Menschliche auf oder unter. Durch diese Wahrheit tritt die Natur selbst dafür ein, dass wir das breite Feld des natürlichen Geschehens dem unterordnen, woran uns der heilige Wille Gottes sichtbar wird. Denn dagegen, dass wir uns selbst aufgeben und verneinen, dagegen sträubt sich auch unsere Natur.

Die geschichtslose Betrachtung der Bibel falsch.

Eine zweite Schwierigkeit, die es manchem erschwert, durch die heilige Geschichte Glauben zu erlangen, ist intellektueller Art. Was der Geschichte angehört, steht in der Ferne von uns. Wie weit müssen wir rückwärts blicken, bis wir neben dem irdischen Lebensgang Jesu stehen. Die Propheten und Patriarchen Israels sind vollends für uns in eine weit entlegene Vergangenheit gerückt. Aus dem Vergehen, das an der Geschichte haftet, folgt aber, dass auch das Erinnerungsbild verblasst. Es ist völlig unmöglich, dass der ganze Lauf der Ereignisse unverkürzt und ungetrübt den Späteren noch sichtbar sei. Ein ganz zutreffendes geschichtliches Wissen gibt es für kein Glied des Geschichtslaufs; wir haben es nicht einmal von unserm eigenen Lebenslauf. Immer sind es nur einzelne Spuren, die uns teilweise noch erkennen lassen, was geschehen ist. Deshalb setzt hier die Forscherarbeit mit fröhlichem Entdeckungseifer ein, sucht diese Spuren zu sammeln, zu verbinden, zu deuten, hält dadurch unser Geschichtsbild im Fluss und führt nicht selten beträchtliche Umbildungen in ihm herbei. Treibt nicht diese Unsicherheit den Glauben von der Geschichte fort? Glauben ist nicht ein schwankendes Raten und Vermuten, nicht ein Fragen und Suchen, dem die Antwort fehlt; vielmehr wollen und sollen wir nur dann vom Glauben reden, wenn uns eine Gewissheit fasst und trägt. Gibt es denn heute noch eine Gewissheit über das, was vor so langer Zeit geschehen ist und erst durch eine so weithin gestreckte Überlieferung zu uns herunterkommt?

Es hat nicht an allerlei Versuchen gefehlt, hier künstliche Hilfe zu bieten. Die früheren Geschlechter der Kirche haben sich dadurch Sicherheit und Gewissheit zu bereiten gesucht, dass sie die Bibel ganz von der Geschichte trennten und sie über sie emporstellten, als von ihr völlig unberührt. Immer zielte der Glaube der Kirche auf die großen Taten Gottes, in denen seine Gnade sich kund tat. Aber das Zeugnis von dieser heiligen Geschichte, das Buch, das uns von ihr Nachricht gibt, stellten sie von der Geschichte ganz abseits, als nachträglich dazu gekommen durch Gottes Wundermacht. Diese geschichtslose Betrachtung der Bibel war falsch. Sie führt uns nicht aus der heiligen Geschichte heraus, sondern in sie hinein, ist nicht ein Ersatz für dieselbe, sondern ein Glied derselben. Ihr Werden gehört selber mit zu jenen Taten Gottes, die in seinem heiligen und gnädigen Willen ihre Wurzel haben. In diesem Geschichtslauf hat jeder Teil derselben seinen bestimmten Ort und damit auch ein bestimmtes Maß von Einblick in die Ereignisse, die ihm vorangehen und nachfolgen. Daher bietet uns der biblische Bericht nicht jene äußerliche Sicherheit, die einst von ihm verlangt und ihm beigelegt wurde.

Nah verwandt mit dieser Weise, die Bibel zu betrachten, ist ein Gedanke, der uns gegenwärtig nicht selten als Trost gegen das Schwankende in unserm geschichtlichen Wissen angeboten wird. Die Bedeutung der Vergangenheit für uns hafte nicht, sagt man, an dem, was geschehen sei, sondern am Bilde der Dinge, das uns begleite. Am Bild des Heilands erwachten wir zum Glauben, wobei es für uns gleichgültig sei, was er selbst wirklich gewesen sei und erlebt habe. Auch hier wird das Bibelwort vom Geschichtslauf abgelöst und als dessen Ersatz behandelt. Damit wird aber ein scharfer Schnitt in den Glaubensstand gewagt. Redlicher Glaube ist ein ungebrochenes Ja; ein solches stellt sich nicht mehr her in dem Augenblick, wo wir für unser Geschichtsbild auf die Wirklichkeit verzichtet haben. Ob wir uns durch ein Gedankenbild zu mancherlei bedeutsamen Gedanken anregen lassen, oder ob uns eine Wahrheit fasst und regiert, das sind verschiedene Vorgänge und nur der letztere verdient den Namen „Glauben“. Haben wir aber das, was wir Idee heißen, von der Geschichte geschieden, so ist sie nicht mehr ohne Einschränkung wahr und das Ja, das wir ihr geben, ist geknickt.

Darum ist es kein stichhaltiger Beruhigungsgrund, wenn man uns sagt: die Veränderungen im geschichtlichen Bild, in welchem wir die heilige Geschichte sehen, seien ja für unsere Frömmigkeit gleichgültig. Vielmehr hat die an der Bibel getane geschichtliche Arbeit unzweifelhaft deutliche Rückwirkungen auf den Glaubensstand der Kirche. Es lässt sich hier keine Scheidung künstlich aufrichten. Dies jedoch ist allerdings wahr, dass die Arbeit, welche sich mit der Mehrung und Reinigung unsres geschichtlichen Wissens beschäftigt, ihren Stoff überwiegend an der Naturseite des Geschichtslaufs hat. Das bunte Geflecht der vermittelnden Vorgänge ist an jedem Geschichtslauf das, was in der Erinnerung nur spärlich fortlebt und der Vergänglichkeit verfällt. Die großen Grundlinien des göttlichen. Willens in seinem Ernst und in seiner Gnade strahlen dagegen mit unmissverständlicher Deutlichkeit aus dem heiligen Geschichtslauf hervor.

Die Hilfe, die uns in dieser Hinsicht auf den geraden Weg leitet, besteht in der einfachen Erinnerung, dass Glaube eine ehrliche und wahrhaftige Sache ist, bei der keine Künstelei Raum hat. Es ist uns nicht aufgegeben, Meinungen uns einzuprägen, die für uns ohne Grund und Wahrheit sind. Für jeden wird das Maß seines Glaubens durch die Kraft und Helligkeit seines Auges bedingt. Der uns fasslichen Wahrheit haben wir uns mit ungeteiltem Herzen zu ergeben und uns dabei dessen zu getrösten, dass unser Denken und Wissen und Glauben unter Gottes Vergebung geschieht.

Der Glaube entsteht aus dem „für mich“.

Es tritt aber oft noch eine dritte Schwierigkeit uns in den Weg, die tiefste von allen, die nicht unser Wissen, sondern das Verlangen und Begehren unseres Herzens trifft. Im Glauben denken wir an eine Überzeugung, die nicht bloß unsern Verstand, sondern uns selbst beherrscht, darum auch unser Wollen in kräftiger Spannung ihrem Gegenstand zulenkt. Scheinbar steht aber die heilige Geschichte von unsern persönlichen Anliegen weit entfernt. Gott hat Israel aus Ägypten geführt; was habe ich davon? Simson riss den Dagontempel ein; was geht das mich an? Cyrus ließ Israel nach Jerusalem heimkehren; das ist ja längst vorbei! Solche Betrachtungen machen keineswegs an der Grenze des Alten Testamentes halt: dieselbe Frage wiederholt sich im Anblick Jesu. Er sagte dem Aussätzigen: „ich will es, sei rein“; was habe ich davon? Er rief den Zöllner in seine Gemeinschaft; wie bin ich dadurch mit einer Gabe beschenkt? Und schließlich stehen wir vor dem Kreuz und sehen ihn sterben und fragen: was soll das für mich bedeuten? und fragen am Ostermorgen: was hat das mit mir zu tun?

Damit berühren wir die Stelle, die für das Werden des Glaubens entscheidend ist. Eben dieses „für mich“ ist das Glaubenswort. Da, wo es aus der Seele hervorbricht, ist der Glaube geboren. Unsre älteren Lehrer drückten das so aus: es gebe einen Glauben, der von der Wahrheit der heiligen Geschichte völlig überzeugt sei und doch noch nicht errette und rechtfertige; das sei der „allgemeine“ Glaube; rechtfertigend werde er dadurch, wenn das „für mich vollbracht“ in unsere Überzeugung aufgenommen sei. Erst dadurch ist ein ganzes, ungeteiltes Ja im Anblick dessen, was Gott tat, in uns vorhanden. So erst wird der Prophet unser Prophet, der Apostel unser Apostel, der Versöhner unser Versöhner, Gottes Gebot mein Gebot, Gottes Gnade mein Besitz.

In gewissem Sinn ist es völlig richtig, dass nichts vergangenes, sondern nur was gegenwärtig ist, zum Gegenstand unseres Glaubens werden kann. Die Gabe, die uns jetzt hilft und hebt, wird Glaubensgrund. Aber sind die Taten Gottes wirklich vergangen? Ist nicht eben dies, dass wir sie für vergangen achten, der naturalistische Schein, der uns irre führt? Wir erleben es an uns selbst, in welch ernstem Sinne die Geschichte nicht vergeht. Sie bricht aus der Persönlichkeit hervor und tritt auch wieder mit einer bleibenden Wirkung in dieselbe zurück und schafft als ihre Frucht das, was wir selber sind und bleiben. Und zumal die heilige Geschichte, deren Wirker der ewige Gott ist, ist nicht vergangen, bildet vielmehr mit ewiger Kraft den Grund, aus dem die neue Gottestat entsteht, die uns jetzt regiert, beugt, erquickt, erlöst. Mit dem gegenwärtigen Gott bleibt auch das göttliche Werk uns gegenwärtig; mit dem bei uns seienden Christus ist auch seine Heilandstat bei uns.

Es reicht nicht an die Wirklichkeit hinan, wenn wir uns die Beziehung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart nur durch die Idee vermitteln, die sich uns in der Geschichte erkennbar mache. Dies kann freilich eine Hilfe sein, durch die wir das Geschehene mit unserem eigenen Leben verknüpfen. Wir sagen: wie Gott Israel berufen hat, so hat er auch die Christenheit berufen; wie er dort in Gnade und Gericht sein Regiment geübt hat, so übt er es auch an uns; wie Jesus vor dem Aussätzigen in seiner Heilandsmacht stand, so hält er sich auch zu uns; wie er dem Schächer am Kreuz verzieh, so verzeiht er auch uns. Lösen wir aber die Idee heraus aus der Tat, als wäre jene allein das Unvergängliche, so ist immer noch ein geschichtsloses Element in unserm Gedankengang zurückgeblieben, das störend wirken kann. Die heilige Geschichte ist nicht nur eine Beispielsammlung für große und wahre Gedanken, sondern ist die Leben schaffende Macht. Zwischen dem, was Gott tat und heute tut, und einst tun wird, waltet ein ursachlicher Zusammenhang der strengsten und kräftigsten Art. Weil Gott Israel berufen hat, darum ist auch die Christenheit berufen und wir in ihr. Weil Gott Israels Sünde nicht ungestraft ließ, darum widersteht er auch unserer Bosheit. Weil Jesus dem Aussätzigen, der ihn anrief, die Heilandsgnade erwies, darum hat er sie heute noch und erweist er sie auch uns. Darum weil er das Kreuz einst getragen hat als der Vergebende, darum ist uns heute der Zugang zu Gott aufgetan und in Kraft der von ihm vollbrachten Kreuzestat ist Jesus heute unser Versöhner mit Gott.

Die Idee nicht abzulösen von der Geschichte.

Nur das natürliche Element, das der Tat zum Werkzeug dient, geht dahin; ihre Wurzel und Frucht hat sie dagegen in der Persönlichkeit, und dort bleibt sie ewiglich. Gottes große Taten, die einst geschehen sind, durchwalten darum in unvergänglicher Segensmacht unser aller Lebenslauf und bilden immer wieder den sichern Glaubensgrund. Es hat seine vollkommene Wahrheit, wenn wir auch heute noch vor der heiligen Geschichte stehen mit dem dankbaren Wort: Das tatst Du auch für mich. Eben dies ist das Glaubenswort.

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