Schlatter, Adolf - 21. Meine Erfahrung mit der Bibel

Ein Rückblick

Sie hat mich durch mein Leben begleitet, meine Bibel, vom Elternhaus an, wo die Eltern sie für sich selber und mit uns Kindern lasen, durch meine Schuljahre hindurch, in denen Professoren sie mir zu erklären versuchten, in die langen Jahre meiner akademischen Arbeit hinein, für die sie sowohl für meine Forschung als für meine Lehrarbeit der alles andere überragende Gegenstand blieb. Wie sieht mich jetzt am Schluß meiner theologischen Arbeit meine Bibel an? Indem ich einiges aus meiner Erfahrung mit der Bibel hervorhole, dürfte aufs neue deutlich werden; warum wir uns angesichts der Gefahren beim Gebrauch der Schrift nicht zu fürchten brauchen.

Ein Eindruck wird mir immer wieder mit neuer Überraschung gewährt: die Schrift ist unerschöpflich. Es gibt selbstverständlich auch eine neutestamentliche Wissenschaft, die in der Ablehnung Jesu ihr Ziel hat und die Welt von seinem Anspruch, daß der Anschluß an ihn uns den Anteil an Gott, „die Religion„, gewähre, befreien will. Diese Art von wissenschaftlicher Arbeit wird nach einem Ende begehren, weil man nicht endlos kämpfen kann; ein endlos fortgesetzter Kampf wäre kein Sieg. Dann kann sich der Eindruck im Forscher festsetzen: nun ist genug gesprochen; das Urteil ist begründet; nun endlich Schluß. Wenn dagegen das Ohr für das neutestamentliche Wort offen ist, dann stellt sich ein anderer Vorgang ein; dann wächst e& beständig, nicht nur an den abgelegenen Stellen, die der Blick nur selten trifft. Nein, — auch die Vorgänge, die mir schon ungezählte Male zum Gegenstand der Beobachtung und lehrenden Verdeutlichung geworden sind, auch die Worte, die fortwährend als die immer gültige Regel das christliche Verhalten ordnen, zeigen eine immer neue, nie ganz enthüllte, aber immer vollständiger sich enthüllende Unerschöpflichkeit.

Ich kann diese Erfahrung nicht nur darauf zurückführen, daß alles, was besteht und geschieht, eine Unendlichkeit umfaßt, die die Grenzen unseres Bewußtseins weit überragt, daß es also an keinem einzigen Punkt eine fertige Wissenschaft gibt, bei keinem Teil der Natur und bei keinem Vorgang der Geschichte. Denn es berührt uns überall eine unendliche Fülle von Wirklichkeit, von der unser Auge nur einen kleinen Teil erfaßt. Das gilt freilich auch von jedem Ereignis der biblischen Geschichte. Aber die Unerschöpflichkeit der Schrift entsteht nicht nur aus der Massenhaftigkeit des Wirklichen, die die schmale Enge unseres Bewußtseins nicht fassen kann, sondern gerade das, was uns an der Bibel offen ist und uns unser geistiges Eigentum verchafft, erglänzt in immer neuem Licht. Damit bewährt sie ihre Verheißung, daß sie uns das göttliche Wirken versichtbare und das Werkzeug der gebenden Gnade sei, die unseren Blick zu Gott erhebt. Das Merkmal Gottes ist Unerschöpflichkeit, und dieses Merkmal haftet nach meiner Erfahrung in voller Deutlichkeit an der Schrift.

Ich gab darum meinen jungen Freunden das Neue Testament mit der Zuversicht in die Hand, daß ihr Gespräch mit ihm, wenn es überhaupt gelingt, es zu erwecken, kein Ende finden kann. Ich kenne die Furcht nicht, daß ich ihren Blick dadurch nur rückwärts wende, ihr Leben nur auf Vergangenes gründe und sie durch den der Christenheit verliehenen Besitz in eine unbewegliche Ruhe versetze. Es ist für uns alle ein hoch über uns stehendes, unsere ganze Kraft spannendes Ziel, das die Schrift zu uns rede. Eine Kirche, die nur lehren will, was immer gelehrt wurde, und nur tun will, was immer schon getan wurde, hat sich vom Neuen Testament gelöst. Wenn dieses zu uns reden kann, dann versetzt es die Kirche in ihrer Erkenntnis und in ihrer Praxis in eine Bewegung, die „das, was dahinten ist, vergißt“ und sich mit starker Liebe „nach dem streckt, was vorne ist.„

Es gibt Kollegen, die einen doppelten Verkehr mit der Schrift pflegen und sie das eine Mal „geschichtlich“, das andere Mal „geistlich„ auslegen. Die oft gehörte Klage geht ihnen zu Herzen, daß der Eifer, mit dem wir die geschichtlichen Vorgänge erforschen, uns religiös lahme und die Bibel für uns unfruchtbar mache. Meine Erfahrung widersprach diesem Gedankengang. Da mich mein akademisches Amt zur Feststellung der geschichtlichen Tatbestände verpflichtete, gehörte freilich der größere Teil meiner Arbeit dem menschlichen Gewand des Neuen Testaments. Wie der Erklärer des Alten Testaments die Pflicht hat, auch in Ninive und Babylon, in Memphis und Theben heimisch zu sein, so war es meine Pflicht, mich mit der Judenschaft Jerusalems in Verbindung zu bringen, aus der die erste Christenheit entstanden ist. Das läßt sich nicht ohne Arbeit erhäschen und brachte das mit sich, was im Kreise unserer Geistlichen gelegentlich als „Pedanterie“, als „Verirrung in philologische Kleinarbeit„ bedauert wurde. Ich habe aber meinerseits diesen Teil meiner Arbeit nie als hemmend und lästig empfunden, weil mich jeder Schritt, der mich in die Geschichte einführte, aus der die Schrift entstand, in verstärktem Maße auch mit ihrer geistlichen und göttlichen Kraft in Berührung gebracht hat. Ich kann darum die, die gern eine Bibel hätten, „die sie weise zur Seligkeit macht“, Laien und Geistliche, nur bitten, sich nicht weichlich vor der Anstrengung zu scheuen, durch die wir uns ein möglichst deutliches Bild von den geschichtlichen Vorgängen verschaffen, mit denen die Bibel zusammenhängt. Die Gleichgültigkeit gegen die menschliche Art der biblischen Worte hat die Christenheit beim Empfang ihrer geistlichen Gaben nicht unterstützt, sondern gefährlich gehemmt.

Aus zwei deutlich verschiedenen Vorgängen entsteht, wie immer wieder betont werden muß, unser Verständnis des biblischen Worts. Mit dem einen wenden wir unsern Blick von uns selbst weg und geben unser Ohr mit entschlossener Abkehr von unseren eigenen Meinungen und Wünschen denen hin, die in der Schrift zu uns reden, und richten unseren Blick auf das, was sie uns zeigen als an ihnen und durch sie geschehen. Aus diesem ersten, unentbehrlichen Vorgang entsteht sodann ein zweiter; wir halten die Schrift an das hin, was in uns selbst als unser Bedürfnis und unsere Erkenntnis vorhanden ist, und verbinden sie mit unserem eigenen Lebensstand, so daß aus ihrem Wort unsere eigene Gewißheit und unsere eigene Entschließung wird. Diese beiden Bewegungen sind aber in unserem inwendigen Leben untrennbar miteinander verbunden, so daß die Verkümmerung der einen Funktion auch die andere nur kümmerlich entstehen läßt. Wer nicht sehen lernt, lernt auch nicht glauben, wie der, der nicht glauben will, auch nicht sehen kann, auch dann nicht, wenn der Argwohn seinem Blick die bohrende Schärfe verschafft.

Oft wurde ich vor die Frage gestellt, ob es uns wirklich möglich sei, zu hören, zu sehen, wahrzunehmen, ob nicht alles, was unser Auge füllt, aus unseren eigenen Zuständen seinen Gehalt und seine Form bekomme, ob wir also mit Wahrheit eine Überzeugung „schriftgemäß„, einen Glauben von Jesus uns gegeben heißen dürften. Das ist freilich deutlich, daß wir uns nie in zwei gänzlich geschiedene Hälften zerschneiden können, so daß wir jetzt ohne Mitwirkung des uns gehörenden Eigentums in reiner Objektivität unser historisches Wissen gewännen und hernadi aus unserem eigenen Inneren in eigener Schöpfermacht Religion hervorbrächten, ohne daß unsere Geschichte aus derjenigen erwüchse, die vor uns und für uns geschehen ist. Ebensowenig wurde mir aber eine finstere Notwendigkeit sichtbar, die uns zwänge, unsere geistige Arbeit dadurch zu verderben, daß wir die Stufen der Erkenntnis, das Wahrnehmen und das Urteilen, das Hören und das eigene Reden, das Empfangen und das selbsttätige Bilden, gegeneinander kehren und durcheinander wirren. Bleibt es eine ernste, tief einschneidende Forderung, daß wir im Verkehr mit der Schrift nicht uns selber hören und uns selber beschauen, sondern still und offen uns vor die stellen, die im Auftrag Gottes zu uns reden, diesen Teil unseres christlichen Berufs unausführbar zu heißen, war mir immer und ist mir heute noch verwehrt.

Somit bekam die Schrift für mich nicht ein doppeltes Gesicht und bestand nicht aus zwei innerlich verschiedenen und nur äußerlich vermengten Worten, von denen das eine innerhalb der Geschichte geworden, das andere vom Geiste gewirkt wäre und das eine zum Gegenstand meiner historischen Bearbeitung und das andere zum Grund meines gläubigen Gehorsams wurde, und eben deshalb, weil mir die Schrift das göttliche und menschliche Denken und Reden, das göttliche und menschliche Wollen und Wirken geeinigt zeigte, ist sie mir zum Heiligtum geworden, das über allem, was sonst heilig ist, steht. Denn so ist sie der Tatbeweis für die nie auszudenkende Herrlichkeit des gnädigen Gottes, der Menschen mit sich eint und in seinen Dienst beruft.

Für die, die es als religiöse Not und schweren Anstoß empfinden, daß die historische Arbeit nicht nur die jüdischen und kirchlichen Überlieferungen über die heiligen Bücher berichtigte, sondern auch von den eigenen Aussagen der Bibel an wichtigen Stellen die ihnen gesetzten Grenzen erkennbar macht, hat es mir nie an warmem Mitgefühl gefehlt. Die Last, die sie tragen, wurde ihnen ja von der Theologie der älteren Kirche auferlegt. Sie tragen sie deshalb, weil die vor uns stehende Christenheit in der Schrift das ihr gegebene Gesetz gefunden hat, das göttliche Gesetz, das in unantastbarer Hoheit den unbedingten Gehorsam von uns verlangt, das sich als Mittler zwischen Gott und uns stellt, an den unser Zugang zu Gott gebunden sei. Den, der das göttliche Gesetz mit Ernst trägt und mit Eifer für dasselbe kämpft, soll niemand schelten. Zur eigenen Not wurden mir aber diese Ergebnisse der historischen Arbeit nie, eben deshalb, weil ich das göttliche Wirken, das die Schrift hervorbrachte, nicht von der Geschichte entfernt hielt, sondern an den die Bibel schaffenden Vorgängen wahrnahm. Den Wert, den die historische Arbeit herzustellen hat, sehe ich darin, daß sie die Verdeutlichung der biblischen Texte bewirkt. Wenn aber ihre Aussagen durch die kritischen Urteile konkrete Bestimmtheit und dadurch Verständlichkeit erhielten, so war damit für mein Auge auch ihre göttliche Größe mit zunehmender Deutlichkeit enthüllt und ihre geistliche Kraft verstärkt.

Das gab mir die Ruhe im theologischen Kampf, die jeder bedarf, der seine Bibel lesen will, ohne die es keine fruchtbare Beschäftigung mit ihr geben kann. Sie hat mich auch beim schwersten Kampf, der gegenwärtig den Kreis der neutestamentlichen Arbeiter spaltete, nicht verlassen, bei derjenigen Frage, die den ganzen Bestand unserer Frömmigkeit ergreift, bei der Christusfrage. Die auf der anderen Seite stehende rüstige Schar von wissenschaftlichen Arbeitern urteilt, die Erwartung Jesu, Gott wirke durch ihn die Offenbarung seiner alles vollendenden Herrlichkeit und habe ihn zum Herrn der Menschheit erhöht und zum Schöpfer der ewigen Gemeinde gemacht, sei zerfallen, womit auch das Grundwort des Alten Testaments, daß es ein von Gott geschaffenes Volk, eine heilige, zum Dienst Gottes berufene Gemeinde gebe, zerfällt. Aber auch die, die unseren religiösen Zustand in dieser Weise deuten, denken nicht klar, wenn sie deshalb das Neue Testament mißachten und nur ganz Weniges in ihm, etwa Lukas 15, auch für uns noch wertvoll heißen. Im Gegenteil, auch dann stände das Neue Testament mit leuchtender Größe über allem, was die Geschichte sonst geschaffen hat, und gäbe uns die Regel, die unseren religiösen Zustand vollständig bestimmt. Es würde uns dann freilich zeigen, daß es innerhalb der Menschheit keinen anderen Altar geben könne als den für den unbekannten und unerkennbaren Gott, daß Gottes Regierung den Gedanken, es gebe für den Menschen Kindschaft Gottes, Gemeinschaft mit Gott zur Einigung des menschlichen Willens mit dem göttlichen, Verklärung des menschlichen Lebens zu Gottes Werk, als eine unerfüllbare Hoffnung widerlegt habe. Aber auch dann ergäbe sich unser gesamtes Denken und Verhalten aus dem, was das Neue Testament uns zeigt.

Die Schwäche kommt in die gegen das Neue Testament gerichtete Bestreitung deshalb hinein, weil sie ihre Gründe nicht im Neuen Testament, nicht im Werk Jesu und seiner Boten hat, sondern ihr Urteil auf das gründet, was auf das Neue Testament folgte, auf die Geschichte der Kirche, auf unseren eigenen Zustand, wie ihn uns die Verwandlung des Christentums in den Katholizismus und den Protestantismus bereitet hat. Aus dem Kontrast, der sich hier zeigt, entsteht das Urteil, daß das Werk Jesu zerfallen sei. Ich blieb und bleibe deshalb beim Neuen Testament, weil mir seine kritische Kraft gegenüber allem, was die Kirche leistet, sichtbar ist. Ich nehme sie zuerst an meinem eigenen Denken und Verhalten wahr, sehe sie aber auch im Verhältnis des neutestamentlichen Wortes zu allem, was die Kirche schuf, zu ihrer Theologie, zu ihrem Kultus, zu der von ihr zwischen uns hergestellten Gemeinschaft. Das letzte Wort über Gottes Willen steht nicht der Kirche zu, sondern gehört dem Neuen Testament.

Damit zeigt sich das Höchste, was uns die wissenschaftliche Arbeit an der Bibel gewährt. Ihr Ziel, das Verständnis des Neuen Testaments, beschenkt uns sofort noch mit Größerem als nur mit Gedanken. Das verstandene Wort gibt uns den Willen und wird zum wirksamen Grund unseres Lebens. Durch seine Gegenwart entsteht in uns das Wunder, vor dem wir alle, die wir es kennen, anbetend die Hände falten: Gründung unseres Lebens in Gott, die Ermächtigung, ihm zu glauben, die Befreiung von der Notwendigkeit, für uns selbst zu leben, das Vermögen, seinen gnädigen Willen zu tun. Weil dies der Ausgang unseres Verkehrs mit dem Neuen Testament ist, darf der Fleiß der Kirche, der sich um sein Verständnis müht, nicht erlahmen. Er ist ein kleiner Teil des Dankes, den sie dem schuldet, der in Jesus „sein Angesicht über uns leuchten ließ“.

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