Schlatter, Adolf - 11. Jesu Verhalten gegen Gott

Als der Vorblick auf das Kreuz die Jünger Jesu erschütterte und sie zu einer neuen Entscheidung der Frage nötigte, ob sie bei ihm bleiben wollen, brachte Jesus den Gegensatz, der ihn von seinen Jüngern, seine Jünger von ihm unterschied, auf die Formel: „Bedacht sein auf das, was Gottes ist; bedacht sein auf das, was der Menschen ist„ (Matthäus 16, 23). Wir dürfen mit Zuversicht annehmen, daß in jenem Moment alles sichtbar wird, was ihn bewegt, daß jetzt derjenige Gedanke und Wille hervortritt, der ihn immer und völlig regierte. Denn jener Entschluß entschied über alles; er setzte, indem er das Kreuz ergriff, seinen ganzen Willen, alles, was er war und hatte, an sein Ziel, und die Jünger erwiesen ihm damit, daß sie sich auch jetzt mit ihm verbanden, ein Vertrauen, von dem jede Beschränkung entfernt war. Die Norm, auf die er jetzt seine und ihre Entschließung gründete, hatte somit für ihn die absolute Gültigkeit und war die Quelle, aus der er alle seine Gedanken und Entschließungen schöpfte.

Ans Licht tritt in diesem Moment nichts als derjenige Vorgang, den wir Frömmigkeit oder Religion heißen, er aber in seiner ganzen Reinheit und Herrlichkeit.

Für sein Auge scheidet sich klar, was Gott und was dem Menschen angehört. Wenn er Gottes gedenkt, so ist das für ihn nicht eine Vermutung, nicht ein Wunsch und Postulat, sondern Gewißheit, und das Merkmal der Gewißheit — daß wir sie nie nur als unser besonderes Merkmal, als einen uns allein gehörenden Privatbesitz betrachten können, sondern als für alle vorhanden schätzen müssen, so daß wir alle an ihr beteiligen möchten —, tritt an Jesus auch in jenem Moment unzweideutig hervor, da er nicht nur für sich selber Gottes und des Menschen Ziel unterscheidet, sondern auch den Jüngern dieselbe Erkenntnis zumutet und von ihnen erwartet, daß sie wissen, ob sie ihrer eigenen Begehrung gehorchen oder auf das sehen und nach dem verlangen, was er das Eigentum Gottes nennt. Es gibt kein Wort Jesu, kein von ihm erzähltes Werk, das ihn uns anders darstellte; immer steht er vor uns als der, der „den Vater kennt“.

Bedenken wir Jesu Haltung in jenem Moment, dann liegen alle Vorstellungen als unhistorisch, als Verfälschung seines Bildes hinter uns, die seinen Gottesgedanken als das Produkt der Entbehrung, des ungestillten Durstes nach einer für ihn unerreichbaren Lebensgestalt, darum als im Zweifel errungen beschreiben. Wir kennen freilich diese Art von Religiosität reichlich — sei es, daß uns die Beschränkung und Verwirrung unserer Gedanken die Frage nach Gott gibt, weil wir die Lücken unserer Weltanschauung mit einem religiösen Gedanken füllen möchten —, sei es, daß die Belastung unserer Empfindung und der Druck, der unseren Lebensakt zusammenpreßt, uns an Gott erinnert, damit die Seligkeit, die im Gottesbewußtsein entsteht, uns erquicke, — sei es, daß die Gebundenheit unseres Willens, dem sich eine Norm zeigt, die wir nicht auszuführen vermögen, und ein Ziel winkt, das wir nicht erreichen, uns nach, Gott verlangen macht. Das alles ergibt nie die Stellung Jesu vor Gott, nie die Gewißheit dessen, der das Kreuz anfaßt, weil er nur nadi dem begehrt, was Gottes ist. Sein Gottesgedanke ist in ihm als unverlierbarer Besitz befestigt, ein Teil seines Ichs. Hier wird die Religion nicht gesucht und gewünscht; hier ist sie da.

Daher fehlt auch im Wort und Werk jede Annäherung an das religiöse Experiment. Er war gegen jeden Gedanken und jede Handlung verschlossen, durch die Gott zu einer Äußerung veranlaßt, zu einer Offenbarung bewogen, zu einem Erweis seiner Gnade erweckt werden sollte. Das Experiment wird dem Suchenden zum Bedürfnis und zum Werkzeug. Jesus aber ging ans Kreuz, nidit um zu erfahren, was Gottes Ziel und Werk sei, sondern weil er desselben gewiß gewesen ist.

Das gab seinem Wort auch in jenem feierlichen Augenblick dasjenige Merkmal, das wir immer bei ihm finden: durchsichtige Einfalt und geschlossene Klarheit. Auch jetzt, wo der menschliche Gedanke Grund genug finden konnte, von der Verborgenheit Gottes und der Rätselhaftigkeit seiner Regierung zu sprechen, wo Jesus aussprach, daß sich Israel endgültig gegen ihn gewendet habe und sein Beruf, ihm Gottes Gnade anzubieten, ihm selbst den Tod bringe, ergab sich für ihn aus der Frage: Gottes Sache oder des Menschen Sache, was wählt ihr? die Entscheidung für alle mit unzweideutiger Sicherheit. Das hinderte ihn nicht, auch in die Tiefen des göttlichen Willens hineinzublicken und auszusprechen, wie sein Ausgang der göttlichen Gnade und dem göttlichen Recht zur Offenbarung diene. Aber die Entscheidung gewann er nicht erst durch die Aufklärung des göttlichen Werks und erreichte seine Gewißheit nicht erst durch die Ausweitung der Erkenntnis, nicht erst dadurch, daß ihm die göttliche Regierung ihren Grund enthüllte und ihre Weisheit zeigte, sondern er besaß sie durch seinen inwendigen Lebensstand, als Element seines Seins, nicht erst als Resultat seines Denkens. Aus seiner Gewißheit erwuchs ihm sodann sein Einblick in das Geheimnis Gottes, sein Vermögen, seine Seele als das Lösegeld hinzugeben, durch das er die Gebundenen befreit, seinen Leib als das Brot zu preisen, mit dem er der Welt das Leben gibt, sich als den Ewigen zu bezeugen, während er auf dem Wege zum Kreuze war. Solche Worte sind aber die Frucht seiner Gewißheit, nicht die Wurzel und ihre Bedingung; denn er hat sie auf Grund dessen, was er seine Sohnschaft Gottes hieß. Darum wurde er, der sich als den Einzigen wußte, der Gott kennt, nicht zum Theologen, der Gott zu verstehen und zu klären versucht, sondern zum Widersacher und Richter aller an Gott sich herandrängenden Gedanken, zum Erlöser von allen Sorten jener Religion, bei der der Mensch Gott bloß zum Gegenstand seines Denkens machen will.

Gewißheit Gottes hatte er, daher nicht nur einen Gottesgedanken, nicht nur eine Gotteslehre, sondern den zu Gott gewendeten Willen, so daß er als der, der für Gottes Sache einsteht, das Kreuz erfaßt. Dadurch bekommt sein von Gott redendes Wort wieder dasjenige Kennzeichen der Wahrheit und Gewißheit, das ihr nie fehlen kann. Sie ist nicht in uns, wenn sie nur den Lauf unserer Gedanken bestimmt, dagegen unsere Begehrung und Handlung unberührt läßt. Die echte Gewißheit regiert unseren Willen. Jesus hat aber seinen Jüngern zu sagen vermocht: „Ihr zwar begehrt auch mit eurer Frömmigkeit nur euer Glück, eure Größe, eure Vollendung, nicht das, was Gottes ist; so denkt aber nur ihr, nicht ich.„ Wir sehen: ihn hat seine Gewißheit Gottes zu dem gemacht, der Gott liebt, so daß er, wenn er mit dem Wort der Schrift Israel sagte: das große Gebot sei, Gott mit dem ganzen Herzen und der ganzen Kraft zu lieben, damit aussprach, was er war und tat, dadurch tat, daß er um Gottes willen das Kreuz auf sich nahm. Er zog aus der Erinnerung an Gott nicht die Furcht, die von ihm wegstrebt, nicht den Streit, bei dem unser Wille mit Gottes Willen ringt, nicht die Erkenntnis der Geschiedenheit von Gott, die der Versöhnung mit ihm bedarf. Hier wird Gemeinschaft offenbar, nicht einzig Gemeinschaft der Natur und der Kraft, sondern noch etwas Größeres: die das persönliche Leben erfüllende Gemeinschaft, jene Verbundenheit, die in der Einigung des Willens besteht.

Wo die Liebe Gottes ist, da einigt sie unseren ganzen Willen und wendet sich vollständig hin zu ihm. All unser Denken an Gott wird unwahr, alle unsere Liebe zu Gott sündlich, wenn wir anderes neben ihn setzen und ihm gleich werten. Wir kennen und lieben ihn nur dann, wenn wir ihn über alles setzen, die Gewißheit Gottes allen anderen Gedanken, die Liebe Gottes allen anderen Begehrungen, den Dienst Gottes allen anderen Werken überordnen. Hat Jesus das gekonnt? „Ich bin auf das bedacht, was Gottes ist“, sprach er und ging ans Kreuz. Das ist keine mit Eigensucht vermengte Liebe, kein gespaltenes Herz. Er ist los von allem, von den Menschen, von den Jüngern, los auch von sich selbst, von seinem Erfolg, von seiner Herrlichkeit, von seinem Leben, so heilig es ist und so freudig er danach greift; aber er greift nach den Menschen, greift nach seinem königlichen Amt und Werk nicht ohne Gott, sondern durch Gott, nicht weil es sein Eigenwille begehrt, sondern weil es ihm gegeben ist. Darum begehrt und verteidigt er es gegen Sünde, Satan und Welt mit ganzer Entschlossenheit, nicht aber gegen Gott.

So selbstlos wie hier stand Jesus immer vor dem Vater. Daher hatte er das Vermögen, von Herzen demütig zu sein und nicht auf das Große, sondern auf das Kleine seine ganze Kraft zu richten, weil er auf den Vater sah, der den Schwachen, Geringen und Verschuldeten sein Erbarmen gibt. Darum hat er, als der Täufer schwankte, Gott dafür gepriesen, daß er durch ihn den Kranken die Hilfe, den Armen sein gutes Wort verleihe, und als ihn die Gerechten und, von ihnen geführt, das ganze Volk verließen, hat er es als seine Freude bezeichnet, dem Hirten zu gleichen, der das eine verlorene Schaf mit Freuden wiedergewinnt, und als ihm nur seine Jünger in der Einsamkeit, abseits von der Gemeinde, das königliche Bekenntnis darbrachten, hat er dieses als Gottes Offenbarung verherrlicht. Weil ihn aber sein Anteil an Gott selbstlos und niedrig macht, bereit zum Verzicht auf den Besitz und auf die Ehre und auf die Macht, sogar auf das Leben, deshalb entsteht aus seiner Selbstlosigkeit das vollständige Gegenteil der Schwäche, nicht die Verarmung, sondern der Reichtum, nicht die Fesselung, sondern dieFreiheitzum höchstenWerk1). Was ihm fehlt, weil er es nicht in sich einläßt, obwohl er es beständig an allen Menschen sieht, ist nur der Eigenwille, nicht der Wille, nicht die Tatkraft, sondern die selbstisch mißbrauchte Stärke, nicht die Arbeit, sondern nur das die eigene Erhöhung begehrende Werk. Denn die Liebe Gottes macht ihn wach, bewegt ihn zur Tat, auch da, wo das menschliche Vermögen zu Ende ist und nur die schöpferische Allmacht Gottes helfen kann, führt ihn in den Streit mit unerschütterlicher Tapferkeit und macht ihn zum Überwinder, an dem jeder Angriff zuschanden wird. So entsteht jenes Resultat, das uns immer wieder wie ein Rätsel überrascht, daß er, der Kleine und Demütige, als der Herr auftritt und alle zu seinem Gehorsam einlädt, er, der Arme, der selbst nichts hat, dem, der zu ihm kommt, den echten Reichtum, den Schatz im Himmel anbietet, er, der sich dem einen Verirrten widmet, dadurch die Freude im Himmel bewirkt, er, der Dienende, sich dadurch, daß er dient und stirbt, zum Erlöser macht und seine Dornenkrone in der Gewißheit empfängt, daß sie ihm die Krone der Herrlichkeit verleihe. Für dieses Rätsel gibt er uns selber die Lösung: „Ich bin nicht allein; der Vater ist bei mir.„ Durch seine Verbundenheit mit Gott kommt hier beides zusammen und wird eins: die Demut und der königliche Wille, die Entsagung und die Majestät, das Leiden und die Seligkeit, die Dornenkrone und die Krone der Herrlichkeit.

Der erste und innerlichste Vorgang, der ihm seine Gewißheit und Liebe Gottes bereitete, war das Gebet. Er hat Gott dadurch geehrt und seine Verbundenheit mit ihm dadurch betätigt, daß er sich mit ihm besprach, in der Danksagung, die den Vater für jede gute Gabe pries, und in der Bitte, die bei jedem Bedürfnis und jeder Entschließung die Begehrung zu Gott emporrichtete. Ob er das Brot brach oder den Toten ins Leben rief: er hat dafür Gott gedankt. Wenn ihn selber der Schmerz zerriß oder wenn seine Barmherzigkeit anderen helfen wollte oder wenn er die großen Ziele erwog, die sein Beruf ihm vorhielt: er hat seinen Willen nicht ohne Gott fertig gemacht, sondern ihn dadurch zum Abschluß gebracht, daß er ihn durch die Bitte mit Gottes Willen einigte. Weil ihm aber Gewißheit und Liebe sein Gebet gaben, darum hat er den Zwang, durch den die jüdische Gemeinde ihren Gliedern zum Gebet verhelfen wollte, abgetan. Sein Gebet war frei, sein eigenes Gebet.

Weil er in der Gemeinschaft mit Gott stand, vernahm er Gottes Rede und trug sein Wort in sich. Er hörte es in der Schrift und empfing es in seinem eigenen inwendigen Verkehr mit Gott. Die Erkenntnis des göttlichen Willens, die ihm leuchtete, führte er darauf zurück, daß das göttliche Wort in ihn hineintrete, nicht nur dazu, damit es ihn selbst erleuchte, sondern dazu, damit er es sage und der Zeuge für die Wahrheit sei. Darum besteht sein Gottesdienst darin, daß er zum Herold wird, der die göttliche Herrschaft verkündet, zum Lehrer, der der Gemeinde Gottes Werk zeigt und seinen Willen deutet. Er hat dabei Gott die Ehre erwiesen, sein Wort als das zu schätzen, womit uns alles gegeben sei. Darum hat er seine Macht einzig auf das Wort gestellt und seinen Beruf darin gesehen, das Wort zu sagen, wie der Säemann den Samen ausstreut. Denn mit Gottes Wort ist seine ganze Herrlichkeit vereint, seine ganze Gnade, seine ganze Macht. Darum ist dem Menschen damit alles gewährt, daß das göttliche Wort zu ihm kommt und Gottes Ruf ihn erreicht.

Aber eben deshalb, weil er nicht sein eigenes, sondern das Wort Gottes sagt, wird er nicht bloß zum Lehrer; denn Gott gehört die Kraft und das Reich und die Herrlichkeit. Darum wird der Verwalter des Wortes auch zum Spender der Hilfe, der Lehrer zum Herrn; denn durch sein Wort regiert Gott. Er gelangt aber nicht nur im Verkehr mit den Menschen zum Werk, nicht nur deshalb, weil die Bittenden sich zu ihm drängen, die ohne seine Hilfe verderben, und die Beladenen zu ihm kommen, die seine Leitung nötig haben, sondern er weiß sich auch im Verhältnis zum Vater zum Werk berufen. Das Werk, nach dem die Liebe verlangt und das sie zu vollbringen vermag, ist das Opfer, und die völlige Liebe bringt das völlige, die reine, nicht mit Eigensucht vermengte Liebe das freudige Opfer dar. Den Anlaß zum Opfer, durch das sich die Liebe in die Tat verwandelt und ihre Wahrheit und Kraft bewährt, gab ihm die Schwere seines Dienstes, der Druck, mit dem ihn der Zustand der Gemeinde beugt. Indem er sagt: „Mir liegt es an dem, was Gottes ist“, enthüllt er uns den Grund, weshalb ihn seine Gemeinschaft mit Gott nicht dazu führt, daß er vor den Schmerzen flieht, und die Last nicht ablehnt, die die Beschaffenheit des Menschen auf ihn legt. Denn auch das, was wir Menschen im Zusammenhang unserer Geschichte hervorbringen, steht für sein Auge unter Gottes Regierung. In der Fesselung und Beugung, die daraus für uns entsteht, vollzieht sich Gottes Recht. Seine Verbundenheit mit Gott machte ihn aber mit Gottes Recht und Gericht völlig eins. Das hat er dadurch bewährt, daß er, der Zeuge der göttlichen Gnade, auch zu richten vermochte, über Kapernaum das Wehe sprach, Israel stürzen ließ und an Judas das göttliche Urteil vollstreckte, ungebeugt, gleichzeitig aber auch dadurch, daß er nach dem Kreuz begehrte, weil er nicht nur die anderen, sondern auch sich selber unter das Recht Gottes stellte, und weil er über die anderen das Wehe sprechen mußte, selber litt. Das bereitet ihm zwar die Verlassenheit von Gott, weil das göttliche Recht uns von Gott scheidet, wie die göttliche Gnade uns mit Gott vereint, bringt aber in seine Gewißheit Gottes keine Schwankung und verdunkelt die Freudigkeit seines Opfers nicht. Wir zwar verzagen beim Recht Gottes und glauben nicht mehr an seine Gnade und überheben uns bei der Gnade Gottes und meinen, sein Recht brechen zu können. Er aber sah die herrliche Einheit im Willen des Vaters, Recht und Gnade als das Werk desselben Gottes, der in seiner Gnade seine Gerechtigkeit offenbart und in seiner Gerechtigkeit seine Gnade vollendet. Darum stand er vor Gott als das Lamm, das sich für ihn heiligen darf und dadurch die Vergebung für die Welt verlangt, wie der Gärtner, der für den unfruchtbaren Feigenbaum bittet und seine Verschonung bewirkt, als der Anwalt der Seinigen, der ihnen den Anteil an dem Fest verschafft, das der König seinem Sohn gewährt.

Für uns entsteht dann, wenn sich unsere Liebe zum Opfer aufrichtet, nochmals eine Versuchung, nochmals eine ernste Gefahr, die uns auf einen Irrweg drängen will. Vermengen wir unsere Liebe mit eigensüchtigen Begehrungen, dann setzen wir mit eigenmächtiger Willkür selbst das Opfer fest, mit dem wir Gott ehren wollen, und wählen uns selber unseren Dienst aus, an dem Gott Wohlgefallen haben soll. Was Jesus bewegte, war die reine Liebe; darum hat sie ihn zum Gehorsam geführt. Sein Gottesdienst bestand darin, daß er den Willen Gottes tat. Einzig im Gehorsam sah er das reine Opfer, den wirksamen Gottesdienst, das Merkmal der echten Liebe. Wie er es darum seinen Jüngern nicht zuließ, daß sie ihre eigenen Wege gingen, sondern sie ihm nachfolgen hieß, so hat er für sich selbst keine Freiheit begehrt, die einen ändern Grund hätte als die Gebundenheit an Gott, und sich nicht neben oder über das Gesetz gestellt, sondern seinen Gottesdienst durch die Erfüllung des Gesetzes vollbracht.

Das erzeugt jenen mächtigen Gegensatz: „Nicht die Menschen, sondern Gott„, den jenes Wort ausspricht, mit dem er sich zum Kreuz entschloß und den wir in seiner ganzen Arbeit immer wiederfinden. Er empfand in seinem Verkehr mit Gott mit durchdringender Klarheit, daß der göttliche und der menschliche Wille nicht dasselbe begehren, und gewinnt deshalb durch seine Gemeinschaft mit dem Vater die Verschlossenheit gegen alle Gottlosigkeit und Eigensucht der Menschen, gegen ihre religiöse Gottlosigkeit ebensogut wie gegen ihre frivole, gegen ihr Prunken mit ihrem Verdienst, das sie sich mit ihrem frommen Werk bereiten, wie gegen ihre sinnliche Lust, die am Fleisch und am Geld entsteht. Deshalb gab es für ihn kein Evangelium, das nicht Berufung zur Buße wäre, keine Vergebung, die nicht heiligte.

Aber gerade dieser Gegensatz: „Nicht die Menschen, sondern Gott“, hat ihn in die vollständige Gemeinschaft mit den Menschen gebracht, weil er dadurch, daß er mit Gott geeinigt ist, die Einigung mit allem hat, was Gottes ist, mit seinem ganzen Werk, mit der Natur und der Geschichte, mit allen, denen Gottes Schöpferhand das Leben gab, mit allen, die sein gnädiges Wort zu ihm beruft. Darum gab ihm sein Umgang mit Gott die Natürlichkeit, die sich jeder natürlichen Ordnung gehorsam untergibt und sich an den Gaben, die uns durch die Natur vermittelt werden, von Herzen freut. Denn er bewegt sich in dem, was Gottes ist, nicht nur im Tempel, nicht nur im Verkehr mit der Schrift und mit den Jüngern, die der Glaube an ihn beisammenhält, sondern auch in dem, womit uns Gottes Schöpferwerk umgibt. Unverletzt bewahrt er seine Natürlichkeit auch dann, wenn er sich und die Seinen von allen Sorgen befreit, die uns die Herstellung der natürlichen Lebensmittel bereitet, und wenn er uns den Grund seiner Sorglosigkeit dadurch enthüllt, daß er nach der Allmacht greift, will, was die Natur nicht schaffen kann, und gibt, was er nur durch das Wunder gewähren kann. Damit überschreitet er freilich mit vollem Bewußtsein die Grenzen der Natur; aber er zertritt sie nicht und entfremdet sich nicht von ihr, sondern bleibt ihr auch als Wundertäter in unverletzter Natürlichkeit Untertan; denn er gewinnt die Erhebung über die Natur dadurch, daß er sich an Gott wendet, den Schöpfer und Erhalter der Natur. Darum stellte er sich und die Seinen durch das Wunder nicht aus dem natürlichen Leben heraus, sondern in dasselbe hinein, nun aber so, daß es ihnen nicht zur Not und Befleckung, sondern zur Kraft und Heiligung gereicht.

Aus demselben Grund, daraus, daß er seine Liebe nicht den^Men-schen, sondern Gott gegeben hat, erwuchs seine Gemeinschaft mit den Menschen, auch mit dem Heiden, der ihm Glauben erweist, mit dem Reuigen, der sich von seiner Bosheit trennt, mit dem Jünger, der dem Zug des Vaters gehorcht und sich ihm anschließt. Er konnte die, die ihm der Vater gab, nicht von sich stoßen; er hätte, indem er ihnen die Liebe verweigerte, sie Gott entzogen und seinen Gottesdienst versäumt, wenn er ihnen den Dienst versagt hätte. So wird ihm die Gottesliebe zum Grund der Menschenliebe, und diese stellt sich nicht mehr neben jene als eine zweite Pflicht, die jene hindert und beschränkt, sondern sie werden eins. So wurde er zum Offenbarer der göttlichen Gnade; denn indem aus jenem Gegensatz: „Nicht die Menschen, sondern Gott„ der Ruf entsteht, der uns zu ihm lädt, spricht er nicht nur vom göttlichen Vergeben, sondern er erweist und spendet es uns. So ward aus seiner Religion sein Christuswerk, aus seiner Gemeinschaft mit Gott seine Gemeinschaft mit uns, aus seiner vollkommenen Geeintheit mit dem Vater seine vollständige Verbundenheit mit uns, durch die er alles für die Menschheit fruchtbar macht, sein Blut und seinen Geist, sein jetziges und sein zukünftiges Leben, sein menschliches und sein göttliches Werk.

1)
Vgl. Schlatter, Jesu Demut, ihre Mißdeutungen, ihr Grund, Beiträge VIII, I. Bertelsmann.
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