Schlatter, Adolf - 01. Die von der Bibel uns bereitete Not

Ein Vorwort

Wie konnte aus der Bibel eine Not entstehen, während es doch keinen unter uns gibt, der nicht an der Segnung Anteil hätte, die uns dadurch gewährt ist, daß die Bibel bei uns ist? Ohne sie hätten wir unsere Naturforschung und Technik nicht; wir haben sie deshalb erreicht, weil über unserem ganzen Verkehr mit der Natur seit vielen Jahrhunderten das erste Wort der Bibel steht: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“ Dadurch wurde aus der Welt eine Einheit, da sie einen Wirker hat, und nicht eine Stätte der Unordnung oder ein Tummelplatz von Gespenstern, da sie sich vom vollkommenen Willen nicht lösen kann, der ihr das Dasein gab. Warum rufen wir nicht afrikanische Ärzte oder indische Techniker zu uns, warum zieht umgekehrt unsere Naturwissenschaft sowohl zu den Muslim als zu den Japanern? Weil es in Europa die Bibel gab. Was würde ohne sie aus unserm Staat? Raubrittertum und Gewaltherrschaft. Wenn sich unser Staat bemüht, mag es ihm auch nur unvollkommen gelingen, uns die Gemeinschaft so zu geben, daß sie zum Herde der Freiheit wird, und uns die Freiheit so zu bereiten, daß sie uns in die Gemeinschaft führt, so verdanken wir dies der Bibel. Denn jene Gemeinschaft, die uns so verbindet, daß sie uns befreit, und uns so befreit, daß sie uns einigt, zeigt und schafft die Schrift. An der Kunst ist in allen ihren Zweigen sichtbar, wie viel ihr die Bibel geben kann und wie wenig sie uns zu bieten vermag, wenn sie die Bibel verliert und ihren Stoff nur noch in unserer Sünde und unserem Elend zu finden vermag. Und wenn wir vollends auf das Beste achten, was uns gegeben ist, was uns noch unentbehrlicher ist als die technische Beherrschung der Natur und die zweckmäßige Regelung unserer völkischen Gemeinschaft und der festliche Schmuck unserer Tage durch die künstlerischen Gaben, — wenn wir erwägen, was unser inwendiges Leben schafft und nährt, so tritt der Segen, den uns die Bibel bringt, vollends ans Licht. Wo entsteht ein gewisses und befestigtes Verhältnis zu Gott? Wo gelangen wir zur Anbetung und Danksagung und Bitte? Wo kommt es zu einer Gemeinschaft, die uns inwendig miteinander einigt, und wo zu einem Amt, das die Gemeinde aufzubauen vermag? Da, wo die Bibel ist. Ohne sie wird aus dem evangelischen Pfarrer ein Schwätzer und aus dem katholischen Priester ein Zauberer.

Somit scheint zur Abhülfe der Bibelnot nichts anderes nötig zu sein als die Bitte: Liebster, öffne dein Auge und sieh, was um dich her besteht, und mache dir deutlich, was dir dein inwendiges Leben zeigt; dann wird dir die Bibel nicht zur Not, sondern zu einem teuren Besitz, zum Grund nie endender Danksagung.

Allein, so gewiß die Bibel eine gute Gabe ist, durch die uns die gnädige Hand des gebenden Gottes sichtbar wird, so gibt es dennoch in der Tat eine an der Bibel entstehende Not. Wie entstehen denn die menschlichen Nöte? Dadurch, daß wir Gottes gute Gaben ihrem Zweck entfremden und verderben, und je reicher die göttliche Gabe ist, die wir mißbrauchen, um so tiefer wird unsere Not. Die Bibelnot entstand nicht erst durch die moderne Kultur und Wissenschaft, sondern hat jedes Geschlecht der Christenheit bedrängt, und sie ist auch nicht erst in der Kirche, sondern schon in Jerusalem entstanden, sowie die Bibel die Macht über die jüdische Gemeinde gewann. Paulus beschrieb diese Not in ihrer ganzen Tiefe, als er sagte, der Besitz der Schrift bringe der Judenschaft den Tod, 2. Kor. 3, 6.

Die Schrift macht uns am Wirken Gottes seinen Willen deutlich, der unseren Willen unter den seinen stellt. Es gibt kein größeres Geschenk für uns, als daß unser Wille eins mit Gottes Willen wird. Das kommt aber nicht unmittelbar in der Art eines natürlichen Prozesses zustande. Gottes Gedanken sind nicht die meinen, und sein Wille will nicht dasselbe wie das, was ich begehre. Nun erneuert sich immer wieder jenes Gleichnis, mit dem Jesus der Judenschaft ihre Geschichte gedeutet hat, als er ihr sagte: Eure Gemeinde besteht aus zweierlei Söhnen Gottes, aus solchen, die an sich raffen, was ihnen am Besitz des Vaters brauchbar scheint, und davongehen, weil sie ihr Leben nach ihrem eigenen Willen ordnen wollen, und aus solchen, die sich in mühsamem, angestrengtem Dienst bemühen, sich dem Willen des Vaters gehorsam zu machen, und doch nicht mit ihm einig werden, sondern sich inwendig gegen die Last auflehnen, die sie schleppen müssen, Luk. 15, 11—32. Bei beiden Gruppen der jüdischen und christlichen Gemeinde gab und gibt es eine Bibelnot. Die eine ist in Not, weil ihr die Bibel fehlt; darum muß sie darben. Das gibt den seelenlosen Industriellen, dem die Maschine die Seele nicht geben kann, nachdem er sie zerrüttet hat, und den vergifteten Kulturmenschen, der durch den Genuß der Natur seine Begierden in heißen Brand versetzt, und den zerstörenden Politiker, der sich am Besitz der Macht berauscht, und den nutzlosen Religionsbetrieb, bei dem der Gottesdienst nur die Eigensucht verstärkt und verschönt. Hier wird die Bibel vergessen, und soweit sie nicht vergessen werden kann, wird sie kritisiert, bekämpft und widerlegt. Dieser Kampf gegen die Bibel läßt sich nicht beendigen, weil nicht verhindert werden kann, daß die Söhne Gottes das Gut des Vaters sich aneignen und damit in die Fremde gehen.

Aber auch der andere Sohn, der als Knecht beim Vater bleibt, gerät mit der Bibel in Not. Indem er versucht, sich ihr anzupassen und vielleicht mit kunstvoller Dressur sein Denken und sein Verhalten so zu formen, wie es die Bibel verlangt, paßt er sie sich selber an und biegt sie um, bis sie ihm erträglich wird. Er füllt sie mit seinen Gedanken und verarbeitet sie in sein System. Darum wurde die Bibel zu jenem Buch, in dem jeder sich selber fand, weil er sich selber suchte. Sie ist aber stärker als wir und macht immer wieder sichtbar, daß sie nicht mit uns einig ist.

Gibt es Hülfe für die Bibelnot? Sie wird uns durch die Bibel selbst gewährt. Paulus sagte, wann sie zum unverständlichen Wort, zur erdrückenden Last, zu der uns tötenden Verurteilung wird. Das ist sie, solange die Decke über ihr liegt und die Decke über unseren Herzen liegt, 2. Kor. 3, 14—16. Die Decke liegt über ihr, solange wir nur die Schrift haben, nicht aber den Geist, solange wir nur das Wort vernehmen, ohne daß Gottes Wirken uns erfaßt, solange wir nur den fordernden Gott hören und nicht den gebenden Gott wahrnehmen.

Die Decke von den Herzen wegzunehmen, ist nicht unserem menschlichen Dienst zugeteilt. Diese Decke zieht nur jene Hand weg, die uns von innen her erfassen und bewegen kann. Dagegen gehört es zum Dienst, den wir einander zu leisten haben, daß wir die Decke von der Schrift wegnehmen und einander zeigen, was sie ist.

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