Schlatter, Adolf - 12. Der Ausgang Jesu

Was ist das Hauptstück der Bibel, das wir vor allem lesen sollen? Auf diese Frage kann die Antwort nicht schwanken. Vor allem sollen wir hören, daß und wie Jesus das Kreuz getragen hat. Das ist im ganzen Bericht der Bibel der wunderbarste Vorgang, die am hellsten leuchtende Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, die uns am vollständigsten zeigt, was Gott will und wirkt. Wenn aus dem tiefen Staunen, in das uns der Anblick des Gekreuzigten zunächst versetzt, die Erkenntnis geboren wird, die einigermaßen erfaßt, was Jesus damals tat, dann wird sein Kreuz für uns zum Ort, an dem der Glaube an ihn entsteht und uns die Anbetung Gottes verliehen wird. Es hat darum starken Grund, daß die Christenheit, als sie sich ein Zeichen gab, an dem sie erkennbar sei, das Kreuz gewählt hat und durch alle Jahrhunderte hindurch nichts anderes zu ihrem Zeichen gemacht hat als das Kreuz. Es muß in der Tat jeder, der zur Kirche gehören will, wissen, was mit der Kreuzigung Jesu geschehen ist, in welcher Weise Jesus seinem Wirken Hie Vollendung gab. Dazu dürfen wir aber nicht die letzten Kapitel der Evangelien betrachten, die wir „die Passionsgeschichte„ heißen. Durch das, was in den letzten Stunden Jesu geschah, kam das, was er früher gesagt und getan hatte, zu seinem Ziel. Dadurch gesellte sich zu seinem Wort die Tat, zu seinem Willen das Werk, zu seiner Verheißung die sie erfüllende Gabe. Sein Gang in den Tod begann aber nicht erst mit seiner Verhaftung in Gethsemane, auch nicht erst am Palmsonntag, als die Jünger mit öffentlicher Danksagung in Jerusalem die königliche Sendung Jesu feierten; er ging vielmehr von Anfang an mit allem, was er tat, ohne Schwanken mit geradem Schritt seinem Kreuz entgegen.

Wollen wir Jesus kennenlernen, dann ist das erste, worauf wir zu achten haben, die Weise, wie Gott ihm gegenwärtig war. Seine Gewißheit Gottes ist die einheitliche Wurzel, aus der alles, was er sagte und tat, entstand. Wird sie zugedeckt oder ausgelöscht, dann wird uns Jesus zum dunklen Rätsel, und sein Handeln zerfällt in sinnlose Widersprüche. Hell wird er uns dagegen und in jedem Schritt verständlich, sowie uns sichtbar ist, was Gott für ihn bedeutete. Wie war ihm Gott gegenwärtig? Für ihn war Gott nicht der Ferne und Verborgene, sondern der Wirkende. Er sah Gottes Wirken überall in der Natur, ebenso in der Regierung der Menschheit, der Schöpfung Israels und der Führung jedes einzelnen. Er sah aber Gottes Werk auch in seinem eigenen Leben, darin, daß ihm das Wort gegeben war, durch das Gottes Reich zu uns kommt und seine Gerechtigkeit sich uns enthüllt, darin, daß ihm die Macht gewährt war, die ihn zum Helfer für die Zerbrochenen machte, darin, daß der königliche Wille in ihm lebte und ihm die Sendung aufgetragen war, die neue und ewige Gemeinde zu sammeln. All dies entstand für sein Auge nicht aus dem, was die Natur uns gewährt oder die Menschen zustandebringen oder er selbst als seinen eigenen Besitz in sich trug. Das war nach seinem Urteil Gottes Wille und Gottes Werk. Das tat der Vater, der seinem Sohne sein Wohlgefallen gibt, tat der König, der nun seine Herrschaft offenbart. Darum hat Jesus auch dann, wenn er seinen Blick auf sein Kreuz richtete, nie nur an das gedacht, was die Natur möglich macht, oder an das, was die Menschen, seien es seine Gegner oder seine Jünger, wollten und konnten, oder an das, was er selber herzustellen vermochte, sondern er hob seinen Willen über alles empor, was ihm die Erfahrung zeigte, und blieb völlig und einzig Gott zugewandt. Mit Gott ging Jesus in den Tod. Sein Kreuz war sein Gottesdienst, durch den er den göttlichen Willen erfüllt und Gottes Größe offenbart.

Der wirkende Gott war bei Jesus der Vater, der seinem Sohn alles zeigt, was er tut, der König, der jetzt den Reichtum seiner Herrlichkeit hervortreten läßt. Darum war der Gang Jesu von Anfang an eine Wanderung zu einem klar erfaßten Ziel. Denn jeder Wille schaut auf sein Ziel, und jedes Wirken bewegt sich zu seiner Vollendung hin. Das ist in der Christenheit oft verdunkelt worden, nachdem sie aus der vorchristlichen Frömmigkeit jene Beschreibung Gottes übernommen hatte, die in Gott nur die vollkommene Vernunft oder die alles umfassende Idee wahrnimmt. Dem, was man sich als Gottes Wesen dachte, entsprach notwendig das, was man als Gabe Gottes schätzte. Aus der Vernunft entstehen Gedanken, nichts mehr, und Gedanken haben kein Ziel und erzeugen keine Geschichte; denn sie meinen, sie seien lebendig auch ohne die Tat. So stellte man sich vor, Jesus habe sich damit beschäftigt, in sich Gedanken hervorzubringen und sie den Jüngern mitzuteilen; er habe seinen Beruf darin gesehen, fromme Lehren zu verkünden. Damit war gesagt, sein Kreuz gehöre nicht wesentlich zu seinem Werk. Denn für unsere Gedanken ist es nebensächlich, was mit uns selbst geschieht. Sie haben unabhängig von unserem Leben Geltung. Wir können sie unbesorgt fliegen lassen, damit sie die suchen, die sie verstehen und sich aneignen. In dieser Zielsetzung für unser Leben offenbart sich aber der tiefe, uns zerrüttende Riß, der durch unser ganzes Wesen geht, der das, was wir denken, von dem trennt, was wir sind, und das, was wir wollen, in Zwiespalt bringt mit dem, was wir sollen, und unser Leben in Eitelkeit versenkt.

Diesen Jammer sah Jesus bei den anderen, auch bei denen, die mit glänzender Frömmigkeit an der Spitze der Gemeinde standen. Sie, sagte er, bürden die Lasten auf, tragen sie aber nicht und setzen sidi auf den Lehrstuhl als die Deuter des göttlichen Wortes und die Verwalter des heiligen Gesetzes, lehren aber bloß und handeln nicht; sie schmücken ihr Leben mit ihrer Frömmigkeit wie mit einem Anstrich, Gräbern gleich, die ein Kalkbewurf verziert. Dieser Riß war aber nicht Jesu Eigenschaft. Auch er hat über das, was Gottes ist, nachgedacht, gesprochen und gelehrt. Aber er hatte nicht nur Gedanken, sondern einen Willen, den Willen, der Gottes Willen will und tut, und darum hatte er ein Ziel, und auf dieses Ziel sah er unverrückt.

Darum war sein Wort von Anfang an Weissagung, und darum blieb es Weissagung bis zum Schluß. Denn sein Ziel lag über der Gegenwart und hatte die unmeßbare Erhabenheit der göttlichen Ziele: „Gottes Reich ist nahe.“ Der Blick auf Gottes Ziel zeigte ihm auch sein eigenes Ziel: „Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater.„ Wie sein erstes Wort Weissagung war und die kommende Herrschaft Gottes ansagte, so war auch sein letztes Wort, mit dem er sich sein Todesurteil erwarb, wieder Weissagung: „Der Menschensohn wird kommen“ mit der allmächtigen Gnade und dem allmächtigen Gericht. Johannes der Täufer konnte sagen: „Ich muß abnehmen„; denn „er wartete auf den Kommenden“. Deshalb fuhr er fort: „Er muß wachsen.„ Jesus wartete nicht auf einen Kommenden und konnte deshalb nicht sagen: „Ich muß abnehmen“, und konnte nicht deshalb in den Tod gehen, weil nun andere lehren werden, was er gelehrt hatte, und vollenden werden, was von ihm nur begonnen war. Für ihn handelte es sich bei seinem Ausgang um das Ganze, um Gottes Reich und Gerechtigkeit, um Gottes ganzes und ewiges Werk. Das gab dem Gang Jesu an sein Ziel die geheimnisvolle Erhabenheit.

Warum wurde aus Jesu Wort Weissagung? Warum glich sein Werk dem des Säemannes, der die Ernte erst vorbereitet, nicht dem des Schnitters, der die Garben in die Scheune sammelt? Warum verhielt es sich mit Gottes Reich, in dem seine allmächtige Gnade uns besucht, so, wie mit einem Schatz, der in einem Acker verborgen ist und nur dadurch erworben werden kann, daß alles um seinetwillen geopfert wird? Das war nicht deshalb so, weil Gott ferne war, unerreichbar für das menschliche Bitten, unbeweglich durch den menschlichen Glauben. Jesu Gott war nicht ein ungerechter Richter, der nicht hören mochte; er antwortet auch dem kleinsten Glauben mit der allmächtigen Gnade, vor der auch die Berge weichen. Aber der Mensch hat Gott gegen sich; sein Wollen und Handeln steht unter Gottes Verurteilung. Das trennte Jesus vom Menschen, nicht von diesen oder jenen, nicht von einzelnen Gruppen, die sich durch ihr Sündigen besonders hervortaten, nicht von den Weltlustigen, die nur nach Erwerb und Genuß begehrten, und nicht von den Fastenden, die sich gegen Gott durch die Erfüllung seiner Gebote zu schützen suchten, sondern von allen. Vor seinem Urteil waren sie alle eins, alle schuldig. Er hatte „die Sünde der Welt„ sich gegenüber, nicht nur die Sünde einiger.

Das hat er dem Volk dadurch gesagt, daß er es zur Buße berief. Daß sein Wort Weissagung war und daß es Bußwort war, das ist unlöslich miteinander verbunden. Zwischen dem Menschen und Gottes Reich steht jetzt noch des Menschen Schuld. Er muß sich wenden, den neuen Weg gehen, den, den Jesus geht, den, den er allen zeigt. Er zeigt ihn aber dadurch ihnen, daß er anders ist als sie, und weil er anders ist als sie, geht er ans Kreuz.

Weil Gottes Urteil die Frömmigkeit des Juden als sündlich verwarf, stand Jesus von Anfang an und immer mit allen im Kampf. Hier gab es keine Verständigung, kein Zusammenwirken, keinen Frieden. Das kam nicht erst im Fortgang seiner Wirksamkeit ans Licht, sondern steht über seinem ganzen Weg als die leuchtende Gewißheit, die nie dunkel ward. Das wird darin sichtbar, daß der Bußruf nicht das Ende seines Wirkens, sondern sein Anfang war.

Gottes Urteil über das Volk las Jesus in der Schrift, und er hat es dort nicht erst in seinen letzten Tagen gelesen, sondern er trug es in seiner nicht wegzudeutenden Klarheit von Anfang an in seiner Seele. Es war in seinem Verkehr mit Gott begründet, daß er von der Schrift die Leitung empfing. Sein Vater sprach nicht erst jetzt zum Menschen und machte nicht erst durch ihn seine Herrschaft offenbar. Die Schrift machte aber an der Geschichte Israels fortwährend die unüberwindliche Entzweiung sichtbar, die die Boten Gottes von der Gemeinde schied. Sie glich zwar dem Weinberg, den Gott für sich gepflanzt hatte; wie ging es aber den Knechten, die nach der Frucht des Weinbergs fragten? Wo war Jesu Platz? Er schwankte nicht und ging den Weg der Knechte Gottes und wußte, was geschehen wird. Nie war das göttliche Wort auch die Meinung des Volkes gewesen, und nie war das göttliche Gebot mit dem Willen der Menschen eins geworden. Auch jetzt wurde ihnen das Gesetz zur schweren Last, unter der sie sich wie Lastträger mühsam quälten. Immer behauptete sich der eigensüchtige Wille des Menschen und blieb Sieger, auch wenn die Haltung des Menschen fromm wurde. Er suchte mit seiner Frömmigkeit die eigene Größe, begehrte auf Grund seiner Verbundenheit mit Gott den Schutz und das Glück und hoffte um der Verheißung willen auf seine Verherrlichung. Er diente dem Gesetz, um sein eigenes Recht vor Gott zur Geltung zu bringen, pries den Tempel und Altar, weil sie ihm die Sicherheit verschaffen, und wartete auf die Verheißung, weil sie ihm das unbeschreibliche Glück beschere. Der Mensch lebte für sich und machte auch aus Gottes Gaben die Stützung seiner Eigensucht. Die Weingärmer behielten die Frucht des Weinbergs für sich, und auch die, die für die alleinige Herrschaft Gottes stritten, verweigerten Gott, was Gottes ist.

Das wurde dadurch offenbar, daß Jesus vergeblich sprach und vergeblich half. Aber nicht erst am Widerstand gegen Jesus entstand „die Sünde der Welt“. Sie geschah mit allem, was geschah, ob es die Königsburg oder der Tempel, der Lehrsaal des Rabbinen oder das Geschäftszimmer des Zöllners war. Jesus verwarf, was sie alle taten. So wenig wie bei der Verheißung Jesu, handelt es sich bei seinem Gegensatz gegen den Menschen um begrenzte Ziele. Wieder ging es ums Ganze, um den Menschen, wie er immer und überall ist, um die Frömmigkeit, wie alle sie übten, um das Recht des Menschen, das jeder für sich in Anspruch nahm, um den Christus, wie alle ihn haben wollten, um Gott, wie ihn alle sich dachten, um den Glauben, zu dem sich jeder ermächtigt hielt, um den Anspruch an Gott, den jeder erhob. Somit hatte Jesus innerhalb seines Volkes keinen Platz. Daher war es seine Sendung, daß er, wie er „in die Welt gekommen sei, sie auch wieder verlasse„, und die Weise, wie er sie verließ, war sein Kreuz.

Gab es keine anderen Möglichkeiten? Die Evangelien sagen, welche anderen Wege sich dem Blick Jesu zeigten. Der Versucher trat zu ihm. „Knie vor mir und bete mich an“, sagte er, „dann bin ich nicht dein Widersacher, sondern dein Gehilfe; ich weiß, wie man die Menschen gewinnt, und habe sie in meiner Hand; wenn ich sie dir zuführe, dann bewundern sie dich, huldigen dir, gehorchen dir und du wirst ihr Herr.„ Das war aber für Jesus keine Möglichkeit. Er kniete vor niemand als vor Gott allein. Ihm gehörte seine Liebe ganz, und er teilte sie nicht und begehrte den Dienst des Teufels nicht. Das gab seinem Kreuz den Glanz heiliger Notwendigkeit. Warum blieb er einsam, verkannt und verworfen?Weil er für alles Satanische verschlossen war. Sein Kreuz war sein Sieg über den Satan und eben dadurch sein Gottesdienst. Daß er sich ganz Gott ergab und ganz allem Satanischen entzog, das war eine und dieselbe Tat, die Kreuzestat.

Jenseits der Menschheit standen aber nicht nur die satanischen, sondern auch die himmlischen Mächte. Wenn Jesus zum Vater aufsah, dachte er auch an die himmlische Heerschar, an die „Legionen“ der starken Geister, die Träger der göttlichen Macht. Weil Gott bei ihm war, standen auch sie auf seiner Seite, und wenn die himmlischen Heere erscheinen, dann zerbricht die menschliche Macht, und das Kreuz versinkt. „Wenn ich den Vater um das himmlische Heer bäte, so würde er es mir senden„, sagte Jesus. Aber auch diese Möglichkeit bestand für Jesus nicht. Warum nicht? Er rief nicht Gottes Macht an gegen Gottes Gerechtigkeit und sah nicht in der Allmacht der göttlichen Regierung das Mittel, um sich dem Dienst zu entziehen, der ihm durch Gottes Gerechtigkeit und Gnade zugeteilt war. So dachten die Menschen; sie begehrten von Gott nichts anderes als die sie schützende Macht. „Du lästerst“, sagte Kajaphas, als Jesus sich vor ihm zu seinem königlichen Amt bekannte. Daß der, dem Gott die Sohnschaft und die Herrschaft gab, dem Kreuz verfallen sei, das stritt nach der Theologie des Priesters gegen Gottes Majestät. Von dieser Frömmigkeit blieb Jesus geschieden; denn er begehrte von Gott nicht nur die ihn schützende Macht, sondern sein Gehorsam galt dem ganzen Willen Gottes ungeteilt.

Weil Gott bei ihm war, standen auch die alten Boten Gottes auf seiner Seite. Abraham freute sich an ihm, und Mose und Elia bekannten sich zu ihm. War ihm nicht, da Gott bei ihm war, die Herrlichkeit greifbar nah? War sie nicht stark genug, ihn plötzlich zu verklären und in himmlischen Glanz zu kleiden? „Alle Dinge sind bei Gott möglich„, sagte Jesus. Nichts verschloß ihm die Pforte, die zu Gottes Herrlichkeit führt. Es gab Stunden, die ihm dies zum Erlebnis machten. Warum hielt er sie nicht fest? „Wir wollen Hütten bauen“, sagte Petrus, damit die Himmlischen bei uns verweilen. Jesus dagegen trennte die Herrlichkeit nicht von Gottes Gerechtigkeit. Gottes Herrschaft ist nicht bloß die Offenbarung seiner Macht, sondern die Betätigung seiner Gerechtigkeit. Darum ging er vom Berg der Verklärung hinab zum Kreuz.

Dadurch wurde aus seinem Gericht, das das Verhalten der Menschen verwarf, das Vergeben. Weil Gott bei ihm war, kann er nicht fliehen. Obgleich er von allen getrennt war, war er gleichzeitig mit allen durch eine unzerreißbare Gemeinschaft verbunden. Gott hat ihn unter die Menschen gestellt. Was geschieht, wenn die zerrissene Gemeinschaft dennoch bewahrt wird? Dann wird Vergebung gewährt. Wer zum boshaften Willen die Liebe und zum Treubruch die Treue setzt, wer dem verbunden bleibt, der ihn verstößt, und die Gemeinschaft mit dem erneuert, der ihn ächtet, der verzeiht. Das gab dem Gang Jesu zum Kreuz die unendliche Herrlichkeit. Das Lamm Gottes trägt die Schuld der Welt weg, denn es verzeiht. Gott vergibt durch ihn und versöhnt die Welt mit sich. Dadurch wurde aus dem Bußwort Jesu die frohe Botschaft, das Evangelium.

Alle Frommen suchten bei Gott Vergebung; aber sie dachten dabei nur an den Erlaß der Strafe, an die Bewahrung vor dem Übel, das aus der bösen Tat entsteht. So denkt sich der sündige Mensch die Vergebung, weil er nicht weiß, was ihn verdirbt und was er bedarf. BloßVerschonung, die ihm die Strafe erspart, hilft ihm nicht. Wenn die Gemeinschaft des Heiligen mit ihm nicht erneuert wird, so bleibt sein Fall wirksam und unvergeben. Der entstandene Zwist wird nur überwunden durch die neue Einigung. Darum ist die Vergebung auch nicht nur die Wiederherstellung des früheren Standes. Indem die zerrissene Gemeinschaft erneuert wird, wird sie vertieft. An die Stelle der früheren Gabe tritt neue Gabe, und das bisherige Maß der Gnade wird durch die neue Gnade überboten. Frohlockend sagte Jesus im Blick auf sein Kreuz: nun beginnt der neue Bund. Er stellt ihn dadurch her, daß er vergibt.

Derselbe Vorgang, der aus dem uns richtenden Wort die Versöhnung und aus der Berufung zur Buße das Evangelium machte, machte aus dem Wirken Jesu sein Leiden. Es gibt keinen tieferen Schmerz als den der Liebe, wenn sie abgewiesen wird. Die zu lieben, die sich nicht lieben lassen, ist Leid. Aus seinem Leiden entstand sein Schweigen. Er, der das Wort Gottes empfangen hat, kann nichts anderes als schweigen, auch dann, als seine Stunde gekommen war. Er wurde den anderen zum Rätsel; sie rieten an ihm herum, wurden ungeduldig, stürmten auf ihn ein: „Bist du der Kommende?„ „Wie lange regst du unsere Seelen auf?“ Er aber schwieg, litt und starb.

Ergab es nicht eine Verdunkelung des Gottesbildes, wenn das Leiden zum Beruf des Christus und der Tod die Bedingung seiner Herrschaft wird? So urteilt der jüdische Priester, als er das Bekenntnis Jesu eine Lästerung nannte. Er hieß die Vorstellungen Jesu von Gott absurd, finster, unmöglich; wie kann aus der Gottessohnschaft das Leiden entstehen? Dem jüdischen Priester wurde viel Zustimmung zuteil. Viele sagten, es sei eine absurde Gnade, die Blut forderte, und aus der Gemeinschaft mit Gott werde ein Widersinn, wenn sie der Grund des Leidens und des Sterbens sei. Es wird wieder sichtbar, daß Jesus anders dachte als der Mensch; denn er nahm sein Leiden aus der Hand des Vaters und starb deshalb, weil er mit Gott eins und verbunden war.

Wenn ihm der Vater das Kreuz bereitete, dann war es keine nutzlose Qual, keine mörderische Vernichtung. „Einer ist gut„, sagte Jesus, als er auf dem Weg zum Kreuze war; er gibt nur „gute Gaben.“ Was war der Segen in diesem Meer von Leiden, in das ihn sein Ausgang eintauchte und das sein ganzes Wirken durchflutete? Dadurch ist sein Verhalten gegen Gott zum Gehorsam geworden. Er hatte beständig allen, dem Volk und den Jüngern, gezeigt, daß der Anspruch Gottes an uns alles an uns ergreift, keine Halbheit zuläßt, sondern unbedingt gilt, den völligen Glauben verlangt, der sich ganz auf ihn verläßt, und den fertigen Gehorsam begehrt, der ihm nichts versagt. „Ihr müßt sterben können„, sagte er seinen Jüngern, und er machte daraus das wesentliche, unentbehrliche Merkmal ihres Christenstands; konnten sie nicht sterben, so waren sie nicht die Seinen. Er legte aber diesen unbedingten Anspruch nicht nur auf die anderen; das war die Kraft seines eigenen Lebens, keine Last, die ihn drückte, kein Opfer, das Entsagung und Selbstüberwindung von ihm forderte, sondern der freudige Dienst des Sohnes, dessen Lust und Leben es ist, den Willen des Vaters zu wollen, des Sohnes, der aus sich selbst nichts vermag, dagegen alles tut, was der Vater tut. Aber nun kam das Leiden und das Sterben, und dadurch war er in die Lage versetzt, die den Gehorsam von ihm forderte. Nun stand Wille gegen Wille, und er mußte sich selbst bezwingen und sein eigenes Begehren entkräften und verzichten. Nun geschah sein Gottesdienst nach der Formel: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“

Denn das Leiden ist gegen die Natur. Sie gibt uns sofort die Gegenwehr gegen den Schmerz und begabt uns mit dem starken Willen zum Leben, der sich gegen die Vernichtung sträubt. Aber das Leiden ist auch gegen Gott, nicht bloß deshalb, weil die Ordnung der Natur von ihm stammt, sondern auch deshalb, weil Leiden und Tod ihm fremd sind und ihn, den Lebendigen, nicht anrühren. Darum ist seine Gabe das Leben, und jede Begegnung mit ihm läßt die Freude in uns erstrahlen. Liebe ist das Merkmal seines Willens; denn er ist ganz und gar der Gebende. Liebe und Schmerz, Leben und Tod, wie werden sie eins? Keine dieser Wahrheiten durfte verdunkelt werden, und keine wurde von Jesus verdunkelt. Am Leiden Jesu bleibt das Sträuben der Natur deutlich sichtbar. Er hätte sich dem Leiden entzogen und nicht gelitten, hätte es ihn nicht in den Kampf gegen die natürliche Begehrung hineingestellt, die nicht leiden will. Diesen Kampf hat er gekämpft. Ebenso deutlich ist, daß er, auch als er in den Tod ging, Gott als den Geber des Lebens erfaßte. Er hat die strahlende Lebensgewißheit nie verhüllt, die ihn wunderbar erfüllt, und niemals Frieden mit dem Tod geschlossen. Ebensowenig ging ihm die Freude, die uns der Blick auf Gott beschert, in Betrübnis unter. Darum hat er aus seinem Abschied von den Jüngern das Festmahl gemacht und dieses mit der Danksagung beschlossen, die Gottes gnädige Herrlichkeit preist. Aber eben daraus, daß ihn Gottes Gaben lebendig und selig machten, entstand für ihn die Gehorsamspflicht. Weil sein Leben Gottes Gabe war, darum konnte er sterben. Niemand vermochte es ihm zu rauben; er wird es wieder empfangen; denn es ist ihm gegeben. Darum kann er es aber auch nicht an sich raffen und in sich festhalten. Weil es Gottes Gabe ist, gibt er es Gott.

Jesus hieß es eine ganz gewisse, heilige Notwendigkeit, daß er Gott den völligen Gehorsam darzubringen habe. Warum war es so? Er verlangte ja von allen die Buße, und dies deshalb, weil sie ungehorsam waren. Zu allen brachte er das Wort des Vaters, der seinen ungehorsamen Söhnen sagte: Geht und arbeitet in meinem Weinberg, und sein Bußruf war zugleich die Anbietung der Vergebung. Mit den trotzigen Söhnen, die dem Vater zuerst den Gehorsam verweigerten, dann aber umkehrten, feierte er das jubelnde Fest. Sie nahm er an seinen Tisch, zog sie in seine Gemeinschaft und reichte ihnen das Ehrenkleid. Wie konnte er zur Buße rufen und wie vergeben, wenn er nicht selbst gehorsam war? Indem er seinen Gehorsam am Kreuz vollendete, zeigte er den Sündern, was ihre Sünde war, und erwarb ihnen die Vergebung von Gott.

Dies alles bekam vertiefte Bedeutung, weil Jesus seine Sendung mit dem königlichen Namen beschrieb. Wie unterschied sich sein königlicher Beruf, der ihm die Herrschaft in ewiger Herrlichkeit verhieß, von der eigensüchtigen Frömmigkeit aller anderen, die von Gott ihr Glück, ihre Macht, ihr ewiges Leben begehrten? Weil die Sendung Jesu ihm Macht, Herrschaft und ewiges Leben verlieh, darum war der Gehorsam seine erste und heiligste Pflicht. Wieder konnte es sich nicht um ein begrenztes, vereinzeltes Opfer handeln. Es ging ums Ganze, darum, daß er Gott alles gab, sich selbst ohne Vorbehalt, seinen Leib und sein Blut.

Aus dem Leiden und Sterben der Menschheit entsteht mit wildem Lärm die Klage, Gott sei ungerecht. Denn die Verwerflichkeit seines Wollens und Wirkens achtet der Mensch gering. Genügt nicht ein bloßes Wort, damit ihm verziehen sei, alle Schande verfliege, alle Schuld gelöscht werde und alles Unheil weiche? Von solchen Gedanken sagte Jesus, sie seien nur auf das bedacht, was der Mensch sich wünsche. Weil er wirklich vergab, und zwar in Gottes Macht, stellt er unsere Verwerflichkeit ohne Hüllen ins Licht. Darum hieß er es nicht ungerecht, wenn der, der Gottes Gaben im Dienst seiner Eigensucht verzehrte, in bitterem Hunger darben muß, und der, der Gottes Ruf mißachtete, im Finstern weinen muß. Weil er es als Gottes gerechten Willen ehrte, daß der unfruchtbare Feigenbaum verdorre, machte er aus dem Kreuz sein Ziel. Er litt, weil wir leiden müssen, und starb, weil unser falscher Wille sterben muß. Weil wir ungehorsam sind, war er der Gehorsame. Damit tat er, was die Liebe tut. Sie stellt sich zu den anderen, verbindet sich mit ihnen und trägt ihre Last. Weil sie nicht das Ihre sucht, sondern das des anderen, übt sie das, was wir Stellvertretung nennen. Jesus hat seinen Gehorsam dadurch vollendet, daß er die Liebe vollendet hat. Das gibt seinem Gehorsam die Herrlichkeit, die ihn zur Offenbarung des göttlichen Willens macht. Darum bewahrte er auch in seiner Erniedrigung, die ihn uns, den Verwerflichen und Gerichteten, gleichmachte, seinen Anteil an Gott unversehrt. Er nahm in seine Stellvertretung die ganze Herrlichkeit seiner Gottessohnschaft und seines königlichen Amtes mit hinein und blieb auch in der Entäußerung, die ihm die Gestalt des Sünders gab, in Gottes Gestalt. Er hat sie eben damals dadurch offenbar gemacht, daß er vergab. Vergebung ist Gottes Privileg.

Es schien, der Gang Jesu an das Kreuz sei der Schritt ins Nichts, und wenn wir für unser Urteil den Maßstab nur aus der Natur nehmen, so schien es nicht nur so; dann war seine Kreuzigung der Schritt ins Nichts. Jesus tat ihn aber mit Gott, und darum hat sich seine Verheißung erfüllt, daß der Tod ihn von den Jüngern nicht scheide, sondern seine Gemeinschaft mit ihnen vollende und sein königliches Werk nicht hindere, sondern es zur Vollendung bringe. Indem er auferweckt wurde, stand sein Werk mit ihm auf, — sein Bußruf, nun war er mit der richtenden Kraft seines Kreuzes gefüllt, — sein Vergeben, nun war es gegen jeden Verdacht geschützt, als sei es nur ein leeres Wort und ein frommer Wunsch, der Gottes Gericht verhülle, nun hatte es die Kraft der vollbrachten Tat, — seine Verbundenheit mit den Jüngern, nun war sie von den Schranken der Zeit befreit und zur ewigen Gemeinschaf t verklärt, — sein königliches Amt, das ihn zum Herrn der in Gott geeinigten Menschheit macht, nun schuf er seine Gemeinde. Darum werden wir durch die Ostergeschichte von seinem Kreuz nicht weggeführt; sie enthüllt uns vielmehr die Tiefe dessen, was Jesus als der Träger des Kreuzes vollbracht hat. Und wenn unsere Gedanken die ganze Natur durchwanderten und alles, was in der menschlichen Geschichte geschah, beschauten, wo könnten wir etwas wahrnehmen, was dem vergleichbar wäre, was uns der Ausgang Jesu zeigt? Hier wurde, wie Jesus sagte, „Gott verklärt„. Hier geschah derjenige Gottesdienst, der Gott wirklich ehrte und völlig bejahte: seine Macht, die Leben schafft auch im Tod, seine Gerechtigkeit, die der Gottlosigkeit widersteht und ihr die Vergebung darreicht, seine Gnade, die uns zu ihm beruft, damit wir für ihn leben. Nun kennen wir Gottes Willen und Werk.

Gehorsam ist besser als Leben

Matth. 16, 24—28. 1)

In den langen Jahren meines Amtes kam es oft dazu, daß ich mit den Jungen sprechen mußte, was sie eigentlich wollen, wenn sie Pfarrer werden v/ollen. Wollt ihr Propheten werden? Nein! Was ihr braucht, ist einfach das, was jeder ehrliche Christenmensch hat. Wollt ihr Rabbiner werden, Schriftgelehrte? Nein. Euer besonderes Wissen und die Bildung, die euch zuteil wird, trägt nicht den Sinn, daß sie euch über die Gemeinde erhebt. Was ist denn ein Pfarrer? Ein Evangelist ist er, einer, der die Botschaft Jesu sagt, und diese Botschaft ist nicht ein Gesetz, sondern die frohe Botschaft, das Evangelium, das uns Gottes Gnade zeigt. Aber ist es denn wirklich so, daß die Botschaft Jesu Evangelium ist, wenn solche Worte, wie ich sie euch soeben vorlas, zu ihr gehören? Verleugnet euch! Das lehnen wir mit Entrüstung ab. Bei allem, was wir tun, ziehen wir unsere Wünsche zu Rate und handhaben unsere Gedanken als das Maß, nach dem wir uns entschließen. Nun sagt uns Jesus: Auf dich selber hast du nicht zu hören, sollst nicht in deinen Gedanken deinen Führer suchen. Da wird dem Herrn Jesu immer die Antwort zuteil: Niemals lasse ich mich auf solche Vergewaltigung ein, das wäre nimmer ein Evangelium, das wäre eine grausame Pflicht. Nun fährt der Herr Jesu erst noch fort und verschließt unser Ohr nicht nur für die Stimme unseres Herzens, sondern auch für die der Welt. „Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich.“ Sein Kreuz aufheben! Wer es tun muß, der tritt aus der Gemeinschaft der Menschen. Kreuz! Wer kann dieses Wort sagen, ohne daß er schaudert? Es bezeichnet ja die Summe der Ehrlosigkeit, die vollendete Schändung, die gänzliche Ohnmacht, die bitterste Pein, das hilfloseste Sterben. Wie kann Jesus aus dem Gang derer, die das Kreuz anfassen, um zur Richtstatt zu gehen, ein Gleichnis für die machen, die er mit dem Evangelium beschenkt? „Fürchtet das Sterben nicht!„ sagt Jesus, „das ist der Weg ins Leben!“ Er verletzt damit wieder jenen Drang, der in der tiefsten Tiefe unserer Seele wurzelt, den Drang nach Leben. Damit wir ihn überwinden und das Leben nicht für unser höchstes Gut halten, zeigt uns Jesus die Majestät des göttlichen Gerichts, gegen das sich niemand wehren kann. Du kannst Gott nicht sagen: Ich will meine Seele behalten, wenn er sie dir nimmt. Ist nicht damit uns auch wieder ein Wort gesagt, das uns den Zugang zum Evangelium versperrt? Besteht es nicht darin, daß uns die Vergebung unserer Sünden verkündigt wird? Und nun hören wir, daß Verantwortung für unsere „Werke von uns gefordert wird. Wer zitterte nicht?

Wenn wir Matthäus fragen: Wie kommst du denn dazu, solche Worte in dein Evangelium zu schreiben, so sagt er uns: Das waren die Worte, mit denen Jesus uns, seinen Jüngern, zeigte, was sein Kreuz für uns bedeute. „Wer mir nachfolgen will“, das sagte er, als er uns einlud, mit ihm nach Jerusalem' zum Kreuz zu gehen. Das Kreuz Jesu, das gehört zum Evangelium; daß wir dort Gottes Herrlichkeit sehen, die vollendete Gnade, die Pracht des vollkommenen Gehorsams und den Glanz der vollkommenen Liebe, das ist sonnenklar. Was aus dem Kreuz Jesu fließt, das kann niemals Unglücksbotschaft sein.

„Der folge mir nach.„ Das ist der Schlüssel zu den vorangehenden Worten. Ohne diesen Schluß blieben sie rätselhaft und unausführbar. Jeder Unglaube hat seinen Glauben in sich. Ich kann mich nicht verleugnen, wenn ich nicht jemand habe, zu dem ich midi bekennen kann. Jedes Nein verlangt ein Ja, jede Absage eine Zusage. Wenn ich mir selber den Glauben versagen soll, wem soll ich glauben? Folge mir, das ist die Zusage, zu der die Absage gehört, die wir uns selber geben. Um von der Gemeinschaft der Welt loszukommen, muß ich in eine andere treten, in die, die mir der Anschluß an Jesus gewährt. Zum Sterben hat Jesus seine Jünger deshalb berufen, weil er ins Leben ging. Nun strahlt uns aber auch aus diesen Worten das volle, helle Evangelium entgegen. Warum ist das Jesu Anspruch an uns?

Es gibt also etwas Größeres als deine Gedanken.

Und es gibt etwas Heiligeres als dein Leben, nämlich Gottes Gebot.

Denken wir uns einmal: es gäbe niemand, auf den wir hören könnten, als unser Herz; unsere Ansichten und Pläne wären es, nach denen wir unser Leben einrichten müßten, wenn uns keine Stimme erreichte als die unsrige, und kein Kopf vorhanden wäre, der klüger wäre als der unsrige, was wäre das für ein Jammer. Unseren Jungen mag es ja einige Zeit erscheinen, die eigenen Wege zu gehen, sei wunderschön; aber im Grunde ist es doch eine tief traurige Sache, wenn nichts anderes uns zur Verfügung steht als unsere Programme. Das gibt eine ziellose Fahrt, eine Fahrt ohne Steuer. Warum? Weil unsere Wünsche sündlich sind? Auch, gewiß; aber nicht nur darum. Verleugne dich selbst, das heißt nicht nur: höre nicht auf deine sündlichen Begierden, heiße das Herz schweigen, wenn es boshaft und gottlos ist. Das trifft alles in dir, auch deine ganz vernünftigen, gesunden, natürlichen Wünsche, deine frommen und christlichen Gedanken. Warum? Es sind menschliche Gedanken und menschliche Pläne. Du kannst dich nicht wundern, daß es zwischen Jesus, dem Vertreter von Gottes Gedanken, und dir einen Gegensatz gibt, und daß du nicht gleichzeitig auf ihn und auf dich hören kannst.

Würde er uns denn das göttliche Wort sagen und den göttlichen Willen zeigen, wenn seine Gedanken den unsrigen glichen?

Wenn man auf ein langes Leben zurückblickt, dann strahlt aus diesem Rückblick eine herrliche Freude auf, daß es einen gibt, der größer ist als alle, alle Theologen, klüger als die ganze deutsche Christenheit mit allen ihren Tagungen, klüger als alle unsere Dichter, die uns Ideale malen. Sie alle können nicht sagen, durch mich spricht Gott. Sie können mir alle nur sagen: das ist meine Meinung, so sehe ich die Dinge an. Darum dürfen sie auch niemals sagen: verleugne dich selbst und folge mir nach! Es gibt aber einen, der sagt: So sieht Gott dich an! Das kann nur einer. Haltet es gegen jeden Menschen fest: Du hast kein Recht, von mir zu verlangen, daß ich mich selbst verleugne und dir nachfolge. Ich sage es noch einmal euch Jungen: Verkauft euch an niemand, an kein Schulhaupt, an kein Sektenhaupt, wie es auch hieße. Ihr seid zur Freiheit berufen. Aber, wenn Jesu Wort zu euch kommt, dann sagt mir nicht: Mit meinen Ansichten stimmt das nicht überein, meine Wünsche führen mich eine andere Bahn. Dann faßt die Seligkeit, euch selbst zu verleugnen und zu gehorchen. Er lädt euch in seine Nachfolge ein und zeigt euch eben dadurch die Herrlichkeit seiner Sendung, daß er euch in seine Nachfolge beruft. Habt ihr Angst? Auch die Jünger hatten Angst; er hat die Macht gehabt, sie zu trösten als der rechte Tröster, weil er sagt, als sein Weg ihn und sie zum Kreuz führte, was Gott mit uns vorhat und aus uns macht. Sterbt ihr um meinetwillen, so habt ihr das Leben gewonnen! So hoch steigt seine Verheißung empor.

Unser Leben ist nicht das heiligste. Was ist heiliger, auch als dein Leben? Gottes Gebot. Wir hatten vor einiger Zeit jenen ehrwürdigen Mann bei uns, jenen Arzt, Theologen und Künstler, der sich um die Bekämpfung des Siechtums im schwarzen Erdteil bemüht. Er hat uns gesagt, was ihn als heiliges Gebot verpflichte, führe und stärke: Heilig sei dir das Leben! Ja, es ist heilig, denn du machst es nicht selber. Leben ist kein Produkt menschlicher Kunst. Es wird dir und allem, was lebendig ist, gegeben. Du darfst es nicht zerstören, hemmen, nicht beschmutzen. Leben ist heilig, aber das letzte Wort, Jesu Wort, ist damit noch nicht gesagt. Du hast das Leben nicht bekommen, damit du darüber verfügst. Es gibt etwas noch Heiligeres als das Leben. Das ist das Gebot dessen, der dir das Leben gab. In dich, den Lebendigen, tritt Gottes Gebot. Und das ist heiliger als das Leben. Wenn ihr das göttliche Gebot brecht, dann seid ihr tot, so tot, daß ihr nicht mehr zum Leben gelangt. Kein Erfolg, und wenn ihr das Leben gewännet, kann das wenden; dafür gibt es keinen Ersatz. Freunde, Jesus hat die Jünger in die Welt hineingesandt, damit sie gewinnen, wie er selbst, vom Vater gesendet, in die Welt gekommen ist. „Mir nach“, das heißt hinein in die Welt, nicht hinaus aus ihr. Ihr Jungen müßt hinein in die Welt, in ihre Wirtschaft, hinein in ihre Politik, hinein in die Wissenschaft und Kunst, hinein in unsere Volkskirche mit ihrer Mischung von Sitte und Gewohnheit und „Wahrheit, von Göttlichem und Menschlichem, hinein ins menschliche Elend mit heißem Erbarmen, und ihr sollt gewinnen Freundschaft und Liebe, Vertrauen und Wirksamkeit im Erfolg. Ist's euch bang'? Wollen wir antworten: Das ist gefährlich und beschwerlich? Sagst du: Die Stille eines Pfarrhauses ist mein Ziel? Lasset euch sagen: Verleugne dich selbst und folge Jesus nach, hinein in den Dienst, hinein in die Gottlosigkeit, hinein in Jesu Hände. Nicht für uns sollen wir die Menschen gewinnen, sondern für den, dem sie gehören, für ihren Gott. Aber nun halte es fest: wenn du die ganze Welt gewännest — du sollst sie ja nicht für dich gewinnen — und hättest den herrlichsten Erfolg —, ein Wort, das weithin tönt, ein mit der größten Dankbarkeit gefeiertes Begräbnis — und hättest das Gebot Gottes übertreten, jene schlichten Weisungen, die sagen, was sein soll und was nicht sein soll, und du hättest das Gebot Gottes zertreten, das keine Bosheit und Ränke und Listen und Unrecht erträgt, dann wäre deine Seele tot, und es gibt keinen Zauber, der sie lebendig macht, ihr hättet die Seele, das Leben verloren durch Gottes Urteil, gegen das es keine Gegenwehr gibt.

Hört ihr nicht wieder das Evangelium? Wenn unser Anteil an Gott auf das gestellt wäre, was wir leisten und als Erfolg unserer Arbeit zustande bringen, dann gäbe es für uns keine feste Verheißung, keinen gewissen ernsthaften Glauben. Den Erfolg unserer Arbeit kann uns niemand verbürgen. Er ist von vielem abhängig, worüber wir keine Macht haben. Jesus sagt uns aber, nicht das begehre ich von dir, daß du die Welt gewinnst. Deine Augen sehen nach etwas anderem. Eben darum ist der Weg ins Leben uns allen geöffnet, den Kleinen und den Großen. Nicht, was du weißt, gibt dir deinen Platz vor Gott. Folge mir nach; ich zeige dir Gottes Willen. Geh den Weg des Gehorsams! Das ist der Weg des Lebens für uns alle, für die Kleinen und für die Großen, für die, deren Leben eine weite Bahn durchmißt, und für die, die ein enger Kreis umfaßt. Das ist Evangelium.

Ich sage noch einmal den Jungen, was ich ihnen oftmals sagte, wenn sie zu mir kamen und klagten: Ich finde keinen Glauben. Was ist da zu sagen? Das, was Jesus sagte jenem Jüngling, der zu ihm kam: Was muß ich tun, daß ich das ewige Leben erlange? Halte die Gebote, jene einfachen, schlichten Weisungen, die dir zeigen, was rein und recht vor Gott ist und was von ihm verworfen ist. Da weiche nicht, sonst bist du verloren. An einer Stelle, wo das göttliche Gebot in seiner klaren Einfachheit dich erfaßt, da sei treu; das ist der Weg ins Leben.

Was wird aber aus der Welt, in die uns Jesus führt, obwohl sie ihn kreuzigte? Jetzt läßt Jesus seine Verheißung vor uns aufleuchten und gibt uns einen Blick in seine königliche Herrlichkeit, und er hat seinen Jüngern gezeigt, wie gewiß er seiner Sendung war. Sie sollen nicht sagen: Ach, das ist noch weit weg. Wer weiß, wann's kommt? „Bald, bald“, sagt er; denn für seinen Blick gibt es bei Gott keine Hemmungen. Das gehört mit zur großen Gabe Jesu, daß er uns die lebendige Hoffnung schenkt. Ohne das könnten wir nicht hinter ihm hergehen. Uns Alten, die wir von der Arbeit abtreten, kann man mit gutem Recht sagen: Ihr habt die Welt nicht gewonnen! Die Welt gewinnen, Gottlosigkeit und Sünde heilen, Friede schaffen auf Erden, Siechtum und Tod überwinden, jede Träne trocknen, jedes Knie beugen in Gottes Anbetung, das ist nicht Sache des Jüngers, das kann nur einer. Das ist das Werk des Herrn. Das ist das von ihm uns verheißene Werk. Darum, weil uns die Hoffnung leuchtet, werden wir nicht müde und schließen die Reihe, und wenn der eine geht, so gibt er das Wort weiter, und es behält seine Ewigkeitskraft, seine Gnadenmacht. Ihm nur, ihm sind wir Rechenschaft schuldig, ihm sind wir es. Er gibt uns nicht nur Worte, er nimmt uns selbst in seine Hand. Er gibt uns Glauben. Du glaubst ihm nicht, wenn du nur sprichst. Wo Glaube ist, da ist Liebe, da ist Tat. Ihm sind wir die Rechenschaft schuldig, denn wir leben von seiner Gnade und arbeiten mit seinen Geschenken. Alles, was wir verwenden, stammt von ihm. So sollt ihr es auch für ihn brauchen. Ist's euch bang'? Sein Wohlgefallen zu empfangen, ist so süß und leicht. Betet von Herzen das Zöllnergebet: „Gott sei mir Sünder gnädig!„ Dann habt ihr sein Wohlgefallen.

Nun hab' ich euch noch einmal das Evangelium gesagt. Amen.

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Abschiedspredigt von Professor D. Schlatter anläßlich der Aufgabe seines Frühprediger-Amtes in der Tübinger Stiftskirche. Abdruck aus den Mitteilungen zur Förderung einer deutschen christlichen Studentenbewegung, 66. Semester Nr. 355
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