Bettex, Frederic - Natürlichkeit und Wahrheit

Bettex, Frederic - Natürlichkeit und Wahrheit

Laßt uns natürlich sein! Vor allem in unsrer Frömmigkeit und Gottesfurcht! Der Mensch verzeiht es schließlich seinen Mitmenschen, wenn er am Hof oder als Festredner, in einem Toast oder Nachruf, auf dem Theater oder in einer Leichenrede es nicht fertig bringt, ganz wahr und natürlich zu bleiben; in der Religion aber kann er nichts Künstliches und Unnatürliches ertragen; dazu ist sie ihm zu gut und zu hoch, und die Verachtung, die der fromme Heuchler auch dem Gottlosen einflößt, ist ein beredtes Zeugnis von der verborgenen Achtung, die er für wahre und echte Religion empfindet. Das verwünschte Kopfhängen, das schon zu Jesajas Zeiten Mode war und schon damals Gott so mißfiel (Jes. 58,5), der salbungsvolle gemachte Ton vom lieben Heiland, als ob man nicht von seinem Herrn und Gott frisch und natürlich reden könnte, haben schon dem Christentum viel geschadet. Wer hat dagegen nicht schon bemerkt, wie ältere und bewehrte Christen natürlich sind und werden; denn wahres Christentum macht natürlich. So ein alter Christ ruht von der Phrase und von der Kunst, vom Fieber der Stadt und ihrem vielfachen Wahn und Konventionsleben, vom Gewinn und von der nagenden Sorge aus, liebt wieder die Natur, das Licht und das Wasser, die Blumen und das Kind, versteht den Mann des Volks und das Haustier; er fühlt in sich die Anfänge einer ewigen, naturgemäßen Jugend. Seine Gottseligkeit ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, der Glaube und die Zuversicht des ewigen Lebens schimmert durch seine Züge und hallt in seiner Stimme nach, auch wenn er von Gleichgültigem redet; aber auch ohne Absicht, ohne Anstrengung, ohne besondere Stimme und Tonfall, wenn er von ewigen Dingen spricht. Denn immer ist es der Anfänger, welcher glaubt, überall Nachdruck anbringen und jedes Wort unterstreichen zu müssen. Der fortgeschrittene Jünger läßt die Wahrheit selber reden; er weiß, daß sie seiner und seiner Kunst nicht bedarf.

Nie gab es einen natürlicheren Menschen als den Heiland. Wie hätten wir uns, als er nach seiner Auferstehung mit seinen geliebten Jüngern am einsamen Strande des Sees Genezareth in früher Morgenstunde wieder zusammentraf, auf ein Wiedersehen a la Klopstock gefaßt gemacht, voll Rührung und wonnigen Tränen und ergreifenden Ansprachen des Herrn. Aber nichts von allem. Er fragt sie: „Kinder, habt ihr wohl etwas zu essen?“ Und als sie verneinen, spricht er: „Werfet das Netz auf die rechte Seite des Schiffes, und ihr werdet finden!“ und darauf: „Kommet her und frühstücket.“ und ißt schweigend gebratene Fische und Brot. Aber - Wonne war es doch, auch ohne Worte, wieder bei Ihm zu sein. Einst werden wir uns darüber wundern, wie natürlich das Leben im Himmel ist.

Ist unsere Religion einfach und wahr, so wird es auch unser ganzes Leben sein. Wir werden natürlich, also zweckmäßig und weise sein im Essen und Trinken, in der Kleidung und in der Wohnung, in der Familie und in der Gesellschaft. Wir werden unsere Kinder natürlich erziehen, also mit rechter Anwendung am rechten Platz von den zwei großen, schweren Wörtchen: Ja! und Nein! Wir werden streng sein gegen die Gifte der Kinderseele: Ungehorsam vor allem, Lüge, Neid, Hochmut; duldsam dagegen für zerrissene Hosen, fehlende Schuhbänder, zerzaustes Haar und nicht ganz saubere Händchen, werden sie nicht für den Salon, sondern für das Leben und ihre Mitmenschen erziehen. Machen wir Männer aus ihnen, so wird der innere Gehalt ihnen die äußere Form schon geben; der rechte Mann ist immer salonfähig; ja, der Salon muß froh an ihm sein.

Laßt uns natürlich sein in der Tat und in der Rede und den Mut haben, ja, aber auch nein zu sagen und zu dem, was wir sagen und schreiben, ganz und mit vollem Namen zu stehen, kurz den Mut, wir selber zu sein und so herumzulaufen, wie Gott uns geschaffen hat; denn Natürlichkeit und Wahrheit ist ein und dasselbe.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1912

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