Johannes, Kapitel 7
7:1 Darnach zog Jesus umher in Galiläa; denn er wollte nicht in Judäa umherziehen, darum daß ihm die Juden nach dem Leben stellten.
7:2 Es war aber nahe der Juden Fest, die Laubhütten.
7:3 Da sprachen seine Brüder zu ihm: Mache dich auf von dannen und gehe nach Judäa, auf daß auch deine Jünger sehen, die Werke die du tust.
7:4 Niemand tut etwas im Verborgenen und will doch frei offenbar sein. Tust du solches, so offenbare dich vor der Welt.
7:5 Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn.
7:6 Da spricht Jesus zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht hier; eure Zeit aber ist allewege.
7:7 Die Welt kann euch nicht hassen; mich aber haßt sie, denn ich zeuge von ihr, daß ihre Werke böse sind.
7:8 Gehet ihr hinauf auf dieses Fest; ich will noch nicht hinaufgehen auf dieses Fest, den meine Zeit ist noch nicht erfüllt.
7:9 Da er aber das zu ihnen gesagt, blieb er in Galiläa.
7:10 Als aber seine Brüder waren hinaufgegangen, da ging er auch hinauf zu dem Fest, nicht offenbar, sondern wie heimlich.
7:11 Da suchten ihn die Juden am Fest und sprachen: Wo ist der?
7:12 Und es war ein großes Gemurmel unter dem Volk. Etliche sprachen: Er ist fromm; die andern aber sprachen: Nein, er verführt das Volk.
7:13 Niemand aber redete frei von ihm um der Furcht willen vor den Juden.
7:14 Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte.
7:15 Und die Juden verwunderten sich und sprachen: Wie kann dieser die Schrift, so er sie doch nicht gelernt hat?
7:16 Jesus antwortete ihnen und sprach: Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat.
7:17 So jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede.
In allem, was ich denke, tritt ans Licht, was ich will, auch in dem, was ich über Jesus denke. Darum fragt uns Jesus: Was wollt ihr? Nun kann ich aber nie etwas anderes wollen als einen Willen. Welchen Willen ich will, das ist die Frage und an ihr trennen sich unsere Wege in entgegengesetzte Richtungen. Ich kann meinen Willen wollen oder ich kann Gottes Willen wollen. Ich kann erwägen, was sich aus meiner Lage als Ziel für mich ergibt, was also meinem Leben Stärkung und Vollendung bringt und meine Wünsche erfüllt. So entsteht mein eigener Wille, und wenn ich diesen will, so wird mir Jesus gleichgültig. Denn zum Diener meines Willens macht er sich nicht. Steht er so deutlich vor mir, dass ich ihn nicht vergessen kann, so wird er mir widerwärtig. Ich kann aber meinem Willen auch einen anderen Inhalt geben, weil mir Gottes Wille gezeigt ist. Wenn nicht das die mich bewegende Frage ist: was wünsche ich mir, was dient mir?, sondern was will Gott von mir? und wenn ich nun seinen Willen nicht im Aufruhr von mir stoße, sondern erkenne, dass es das einzig Richtige und Heilsame für mich ist, Gottes Willen zu wollen, dann kann ich Jesus verstehen, Ihn, der Gottes Willen wollte und nicht bloß wollte, sondern tat. Nun erkenne ich im Gehorsam Jesu seine Herrlichkeit.
Aus seinem Gehorsam entsteht aber alles, was durch Ihn und an Ihm geschah, Seine Geburt, Sein Kreuz und Seine Auferstehung. Ebenso hat alles, was Er mir sagt, nur ein einziges Ziel, nämlich dass ich den Willen Gottes tue. Was sucht der Glaube anderes als dass der Wille Gottes geschehe? Was begehrt die Buße? Sie ist die Umkehr vom eigenen Willen zu Gottes Willen. Was ist die Liebe Gottes, wenn sie nicht das Verlangen ist, dass sein Wille geschehe? Was ist die Hoffnung? Der Vorblick auf die Erfüllung des göttlichen Willens. Daran aber, dass mir Jesus den Willen Gottes zeigt und ihn tut, erkenne ich, dass seine Lehre von Gott ist.
Mit der Bitte, die Du, Jesus, in unser Herz gelegt hast und die die ganze Christenheit unablässig bittet, bitte auch ich: Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. So bleibe ich in Deiner Lehre und Du wirst Deine Verheißung erfüllen, dass wir, wenn wir in Deinem Wort bleiben, die Wahrheit erkennen. Amen. (Adolf Schlatter)
7:18 Wer von sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber sucht die Ehre des, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und ist keine Ungerechtigkeit an ihm.
7:19 Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben? und niemand unter euch tut das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten?
7:20 Das Volk antwortete und sprach: Du hast den Teufel; wer versucht dich zu töten?
7:21 Jesus antwortete und sprach: Ein einziges Werk habe ich getan, und es wundert euch alle.
7:22 Mose hat euch darum gegeben die Beschneidung, nicht daß sie von Mose kommt, sondern von den Vätern, und ihr beschneidet den Menschen am Sabbat.
7:23 So ein Mensch die Beschneidung annimmt am Sabbat, auf daß nicht das Gesetz Mose's gebrochen werde, zürnet ihr denn über mich, daß ich den ganzen Menschen habe am Sabbat gesund gemacht?
7:24 Richtet nicht nach dem Ansehen, sondern richtet ein rechtes Gericht.
7:25 Da sprachen etliche aus Jerusalem: Ist das nicht der, den sie suchten zu töten?
7:26 Und siehe zu, er redet frei, und sie sagen nichts. Erkennen unsere Obersten nun gewiß, daß er gewiß Christus sei?
7:27 Doch wir wissen, woher dieser ist; wenn aber Christus kommen wird, so wird niemand wissen, woher er ist.
7:28 Da rief Jesus im Tempel und sprach: Ja, ihr kennet mich und wisset, woher ich bin; und von mir selbst bin ich nicht gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, welchen ihr nicht kennet.
7:29 Ich kenne ihn aber; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.
7:30 Da suchten sie ihn zu greifen; aber niemand legte die Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.
Wie der Mensch nicht leben kann ohne Brod und Licht, so kann der Christ nicht leben ohne Dich, o Herr. Wie der Mensch athmen muß, um zu leben, so muß der Christ beten, um geistiger Weise nicht zu sterben. Alles mit Dir, nichts ohne Dich! Das ist des Christen Losung. An Gottes Segen ist Alles gelegen! So spricht er am Morgen. Gott allein die Ehr’! So spricht er am Abend. Mit Dir fängt er an, mit Dir fährt er fort, mit Dir hört er auf. Könnte er dem Schlafe in die Arme sinken, dem Bruder des Todes, ohne seine Seele in die Hand des lebendigen Gottes gestellt zu haben? So bete ich denn auch heute mit Luthers Worten: „Ich danke Dir, mein himmlischer Vater, durch Jesum Christum, Deinen lieben Sohn, daß Du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast, und bitte Dich, Du wollest mir vergeben alle meine Sünde, wo ich Unrecht gehabt habe, und mich diese Nacht gnädiglich behüten. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele, und Alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen.“ Herr, erhöre mich! Erhöre mich in der kommenden Nacht der Natur, erhöre mich in jeder künftigen Nacht meines Geistes und Herzens. Du bist ja das Licht der Welt, das alle Finsterniß bannt; Du schläfst und schlummerst nie, und vor Deinem Auge muß selbst die Finsterniß Licht sein. Lß mich denn allezeit inne werden und erfahren, daß Du, Herr Christe, von Gott bist, und Deine Lehre von Gott ist, und darum die siegende Wahrheit über alle Lüge und Bosheit. Ach, Erfahrung ist ja die Lehrerin und die eigentliche Schule der wahren Erkenntniß, welche gegen das gelehrteste Wissen ganz so sich verhält, wie der Selbstgenuß köstlicher Feigen und Trauben gegen das Anschauen eines von der größten Meisterhand gemachten Fruchtbildes. Wer Dich nicht blos aus den Zeugnissen der heiligen Schrift kennt, sondern selbst in Deiner Kur war und Deine verordneten Mittel brauchte, Dich anrührte und gesund wurde, der schmeckt und sieht, wie freundlich Du bist, und weß das Herz voll ist, strömt der Mund über. Hilf auch mir immer mehr zu solcher seligen Erfahrung. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)
7:31 Aber viele vom Volk glaubten an ihn und sprachen: Wenn Christus kommen wird, wird er auch mehr Zeichen tun, denn dieser tut?
7:32 Und es kam vor die Pharisäer, daß das Volk solches von ihm murmelte. Da sandten die Pharisäer und Hohenpriester Knechte aus, das sie ihn griffen.
7:33 Da sprach Jesus zu ihnen: Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat.
7:34 Ihr werdet mich suchen, und nicht finden; und wo ich bin, könnet ihr nicht hin kommen.
7:35 Da sprachen die Juden untereinander: Wo soll dieser hin gehen, daß wir ihn nicht finden sollen? Will er zu den Zerstreuten unter den Griechen gehen und die Griechen lehren?
7:36 Was ist das für eine Rede, daß er sagte: „Ihr werdet mich suchen, und nicht finden; und wo ich bin, da könnet ihr nicht hin kommen “?
7:37 Aber am letzten Tage des Festes, der am herrlichsten war, trat Jesus auf, rief und sprach: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!
Unser Herr Jesus war vollkommen in der Geduld, und bis zum letzten Tage des Festes unterredete Er sich mit den Juden und drang in sie; und so dringt Er auch an diesem letzten Tag des Jahres in uns und harrt, ob Er uns könnte Gnade erweisen. Wahrhaft bewunderungswürdig ist die Langmut unsres Herrn und Heilandes, womit er etliche von uns jahraus, jahrein trägt und pflegt, trotz alles unsres Auflehnens, Erzürnens und Widerstrebens wider seinen Heiligen Geist. O Wunder über Wunder, dass wir noch immer im Lande der Gnade sind!
Sein Mitleid offenbarte sich höchst nachdrücklich, denn Jesus rief, was nicht nur andeuten will, dass Er seine Stimme laut erhob, sondern dass er tief bewegt und ergriffen war. Er beschwört uns, dass wir uns sollen versöhnen lassen mit Gott. „Gott vermahnet durch uns,“ spricht der Apostel, „so bitten wir nun an Christi Statt.“ Was sind das doch für ernste, eindringliche Worte! Wie tief muss die Liebe sein, die den Herrn zu Tränen über uns arme Sünder führt, und Ihn treibt, uns zu sich zu ziehen, wie eine Mutter ihre Kindlein an ihren Busen zieht. Gewisslich folgen unsre Herzen gern einem so zärtlichen Ruf.
Es ist reichlich für alle Bedürfnisse gesorgt; es ist für alles gesorgt, was einem Menschen zur Stillung seines Seelendurstes dienlich sein mag. Seinem Gewissen bringt die Versöhnung Frieden; seinem Verständnis gibt das Evangelium die reichste Belehrung; für sein Herz ist die Person Jesu der Gegenstand der edelsten Liebe; seinem ganzen Menschen gewährt die Wahrheit, die in Christo ist, die reinste Erquickung. (Charles Haddon Spurgeon)
Noch heute gilt dieses Wort Jesu. Es ist der Wille Gottes, dass alle, denen das Evangelium verkündet wird, an Jesum glauben und Seine Glieder werden sollen. So muss es uns auch klar sein: Gott will, dass alle, die des Heilands Jünger sind, mit dem Heiligen Geiste getauft werden. Der Vater im Himmel will uns Seinen Sohn und Seinen Geist schenken. Ohne den Heiligen Geist können wir des Herrn nicht froh und der Gotteskindschaft nie freudig gewiss werden. So gut als jene Jünger den Heiligen Geist haben mussten, so gut müssen auch wir Ihn haben. Ohne Gott, den Heiligen Geist, kann niemand vollendet werden. Die durch Jesu Blut Erlösten werden durch den Heiligen Geist göttlicher Natur teilhaftig und ins Bild Christi verklärt. Im Heiligen Geiste haben wir das Leben des Vaters und des Sohnes, das wahrhafte, ewige Leben, den Zusammenschluss mit Gott; im Heiligen Geiste ist Gott in uns, und wir sind in Gott. Bist du durch Gottes Gnade der Vergebung deiner Sünden gewiss geworden, so gehe denselben Glaubensweg, um die verheißene Geistesfülle zu erlangen. „Bleibet in mir und ich in euch“, sagt Jesus, Joh. 15, 4. Erfüllt mit Heiligem Geiste, können wir diesen Seinen Willen tun. Sobald wir diesen göttlichen Willen des Herrn zu tun aufhören, zieht sich der Heilige Geist zurück, und das Bewusstsein der Gegenwart und der Innewohnung des dreieinigen Gottes entschwindet uns damit wieder. Liebevoll bittet Jesus Seine Jünger: „Bleibet in mir.“ Nun/so geschehe es denn. In Ihm sind wir fröhlich allezeit. Und Seine Innewohnung ist unsere Seligkeit. (Markus Hauser)
7:38 Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.
Wenn der Dürstende trinkt, empfängt er, was er selbst bedarf. Ihm wird das eigene Verlangen gestillt, das Erfüllung finden muss, wenn sein Leben nicht verwelken und zerfallen soll. Aber das, was er in sich hineintrank, tritt wieder aus ihm hervor, und nun als Strom in überreicher Wirkung, die alle Erwartung übersteigt. Durch dieses Wort durchleuchtet Jesus das Geheimnis, das an seinem Wirken haftet, aber auch in der Arbeit der Kirche und aller ihrer Glieder wiederkehrt. Zu wem spricht Jesus und für wen tut Jesus sein Werk? Zu mir, dem einzelnen, spricht er; mir, dem einzelnen, gilt seine Gnade. Denn mein Verhältnis zu Gott ist mein eigenstes Anliegen und kann nur in meinem eigenen Innern Grund und Festigkeit erhalten. Mein Glaube kann nicht eine Nachahmung zu dem sein, was ein anderer ist und tut; er ist mein eigentliches Verhalten, das in mir selbst begründet ist und mir durch meine Geschichte und Erfahrung vermittelt wird. Meine Pflicht kann ich ebensowenig von einem anderen entlehnen; sie entspringt in mir, in meinem Vermögen, aus meiner Lage, weshalb ich nur das tun kann, was mir mein eigenes Gewissen sagt. Mein Durst ist mein Durst; ich selbst muss trinken und das belebende Wasser zu eigenem Besitz empfangen. Zersplittert sich nun nicht das Werk der Christenheit in die unendliche Vielheit der Einzelleben? Versinkt es nicht in die Verborgenheit der unsichtbaren Innerlichkeit? Allein da, was mir Jesus tut, endigt nicht in mir und hat nicht schon damit sein Ziel erreicht, dass der Dürstende trinkt. Denn das, was er empfangen hat, flutet aus ihm heraus, und der, der getrunken hat, wird zum Quellort des belebenden Stroms. Tausendfach strahlen aus jedem Leben die Wirkungen aus in unberechenbare Weiten. Bleibt ein Leben von engen Grenzen umschlossen, immer werden viele mit ihm in Berührung gebracht, und das, was von Jesus stammt, hat immer und für alle die wirksame Macht. Das von ihm Empfangene geht vom ersten Empfänger hinüber zu den anderen. Sein Wort strömt von Mund zu Mund und sein Friede senkt sich aus einem Herzen in das andere. Glaube zündet Glaube an und Liebe zeugt Liebe. Käme der Strom nicht aus uns heraus, so hätten wir nicht wirklich getrunken. Denn das lebendige Wasser lässt sich nicht in den einschließen, der es trank. Würden wir eine Massenwirkung versuchen, die auf die einzelnen verzichtete, so hätten wir uns vom Ziele Jesu abgewandt. Denn dergleichen erreicht den innersten Vorgang im Menschen nicht. So entsteht nicht Leben. Jesus schafft Leben, und darum ist der Ort, an dem er wirksam wird, in jedem seine verborgene Innerlichkeit. Wo aber Leben ist, da bringt es Unendliches hervor.
Ich erfasse, Herr Jesus Christ, Dein teures Wort, dass Du nicht nur an mich denkst, wenn Du mir Dein Wort gibst, und nicht nur für mich sorgst, wenn Du mein Leben gnädig regierst, sondern mit dem, was Du mir gibst, vielen hilfst und den Strom entspringen lässest, der manchen dürren Boden befruchtet und manches welkende Leben erneuert. Dazu hilf Deiner ganzen Schar, die sich von Deiner Hand führen lässt. Amen. (Adolf Schlatter)
7:39 Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt.1)
7:40 Viele nun vom Volk, die diese Rede hörten, sprachen: Dieser ist wahrlich der Prophet.
7:41 Andere sprachen: Er ist Christus. Etliche aber sprachen: Soll Christus aus Galiläa kommen?
7:42 Spricht nicht die Schrift: von dem Samen Davids und aus dem Flecken Bethlehem, da David war, soll Christus kommen?
7:43 Also ward eine Zwietracht unter dem Volk über ihn.
7:44 Es wollten aber etliche ihn greifen; aber niemand legte die Hand an ihn.
7:45 Die Knechte kamen zu den Hohenpriestern und Pharisäern; und sie sprachen zu ihnen: Warum habt ihr ihn nicht gebracht?
7:46 Die Knechte antworteten: Es hat nie ein Mensch also geredet wie dieser Mensch.
7:47 Da antworteten ihnen die Pharisäer: Seid ihr auch verführt?
7:48 Glaubt auch irgendein Oberster oder Pharisäer an ihn?
7:49 sondern das Volk, das nichts vom Gesetz weiß, ist verflucht.
Hoch streckt sich der Mensch empor, weil er einen erhabenen Besitz empfangen hat. Denn er kennt das Gesetz und das gibt ihm ein vornehmes Recht, das Recht zu fluchen. Dazu hat er nach seiner Meinung nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht. Er würde das Gesetz verleugnen, wenn er nicht den Fluch auf alle legte, die es nicht kennen und es darum übertreten. Woher kannten diese zum Fluch bereiten Frommen das Gesetz? Sie haben es gelernt. Wer es nicht lernt, der kennt es nicht. Darum ist die ganz große Schar verflucht, die den Acker und das Gewerbe nicht fahren ließ und nicht in den Lehrsaal kam, um Gottes Gesetz zu hören. Für sie gibt es keine Entschuldigung; denn das Gesetz steht über jedem anderen Wert, über Haus und Hof und Wirtschaft und Staat. Wie soll der der Sünde entrinnen, der das Gesetz nicht kennt? Ich will sie nicht vergessen, diese erhabenen Gestalten mit ihrem feierlichen Fluch, mit der eisernen Konsequenz ihrer Überzeugung und dem vorbehaltlosen Opfermut, mit dem sie das ganze Leben dem Dienst des Gesetzes widmeten. Allein diese erhabenen Gestalten machen zugleich das tiefste Erbarmen wach; denn sie haben nicht nur das unwissende Volk, sondern auch Christus verflucht. Mensch, sieh dich vor! Wenn du groß bist, fällst du. Wenn du sagst: ich weiß, so bringst du deine Narrheit ans Licht. Schmiedest du dir die Krone der Verdienste, so hängst du dir das Brandmal der Sünde an. Fluchst du den anderen, so verfluchst du dich. Ich will nicht eilig den Blick wegwenden, sondern will Gottes Ernst und Gottes Güte beschauen. Seine Güte sehe ich an mir, weil ich im Glauben stehe. Der Glaubende schaut aber auf Gottes ganzes Werk, auch auf seinen Ernst. Darum steht um das Kreuz Jesu herum die stolze Schar, die mit eifrigem Ernst verkündete: wir kennen das Gesetz, und daran viel.
Heiliger Gott, es tritt kein unreiner in deine Nähe und kein Ungerechter hat in Deinem Reiche Raum. Aber nicht uns hast Du das Gericht übergeben. Wie süß, o Jesus, ist Dein Wort, das uns das Richten untersagt! Ich würde dich nicht kennen, wenn ich noch fluchen könnte; denn der bleibt in Dir, der in der Liebe bleibt. Amen.(Adolf Schlatter)
7:50 Spricht zu ihnen Nikodemus, der bei der Nacht zu ihm kam, welcher einer unter ihnen war:
7:51 Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkennt, was er tut?
7:52 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Bist du auch ein Galiläer? Forsche und siehe, aus Galiläa steht kein Prophet auf.
7:53 Und ein jeglicher ging also heim.
Ob Jesus wohl an irgend einem Abend sich niedergelegt hat, ohne zu beten? Heißt es doch von Ihm: „Es begab sich aber zu der Zeit, daß Er ging auf einen Berg zu beten, und Er blieb über Nacht in dem Gebet zu Gott.“ (Luc. 6,12.) Auf seine Stimme will ich hören, nach seinem Bilde will ich mich bilden. In der Stile des Abend und durch das Schweigen der Nacht will ich vernehmen das Wort meines Erlösers: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr thut, wie ich gethan habe.! Ich habe mich zurückgezogen in meine verborgene Kammer, und überdecke die Ereignisse des vergangenen Tages. Wie bald und wie schnell ist ein Tag dahin! Es wird Morgen, Mittag und Abend, ich weiß nicht wie. Pfeilschnell eilen an mir vorüber die geflügelten Stunden. So war es auch heute. Ach manchem meiner Brüder mag wohl der Tag, der mir so schnell vergangen ist, langsam traurig dahingeschlichen sein! Wenn man traurig ist und Leide trägt, so dehnen sich die Minuten zu Stunden aus. Nicht nur die Uhr des Ungeduldigen, auch die Uhr des Weinenden geht nimmer zu früh. Er möchte gern vorwärts schieben den Zeiger der langsam schleichenden Zeit, und es währet so lange, bis es will Abend werden, und wenn es nun endlich unter Seufzern und Thränen Abend geworden ist, so will kein Ende nehmen die Nacht. Tröste euch Gott, ihr armen Leidenden, und Sein heiliger Engel erquicke euch durch einen liebenden Traum! Herr, mein Gott, wer bin ich, und was ist mein Haus, daß Du mich bis hierher gebracht hast? Kein Hiobsbote ist über die Schwelle meines Hauses getreten. Du hast mich gnädig behütet, und Deine Hand war mit mir, während Du heimgesucht hast, im Laufe dieses Tages, so manches Haus mit Trübsal und Noth! In meinen Dank mischt sich die Bitte:
Laß auch morgen mit den Meinen
Keinen Unfall mich beweinen!
Ach, mich ängstigt der Gedanke, daß abermals ein Tag vergangen ist, der sich hingestellt hat vor Deinen Richterstuhl, Allheiliger, und mein Ankläger ist, weil ich nicht rein geblieben bin von Sünde. Vergieb mir meine Schuld, bevor ich mich schlafen lege und laß mich einschlafen mit dem Bewußtsein: Du bist ein Vater, in Christo Jesu mein versöhnter Vater!
Streiche meiner Sünden Fluch,
Herr, aus Deinem Richterbuch!
Laß niemals das Wort Christi an mir wahr werden, das Er zu den Pharisäern sprach: „Ihr werdet mich suchen, und nicht finden, und wo ich bin, da könnet ihr nicht hinkommen“, sondern hilf mir, daß ich allezeit fest an Ihn glaube und von meinem Leibe Ströme des lebendigen Wassers fließen.
Gott sei mir Sünder gnädig! Mit diesem Seufzer werfe ich mich in die Arme des Schlafes, zuvor aber an Dein Vaterherz, mein Erbarmer! Die Nacht ist dunkel; aber Du bist mein Licht. Der Schlaf ist ein Bruder des Todes; aber Du bist der Vater des Lebens. Wie hülflos liege ich da, wenn ich schlafe!
Das Auge sieht nicht, und das Ohr hört nicht, und in Bewußtlosigkeit ist versunken die unsterbliche Seele, gefangen und umstrickt von den Banden der Sinne. Geheimnißvoll schlägt fort das Herz in meiner Brust, aber ich fühle die Pulse nicht klopfen. Ich liege unter dem Bettuche, und mit geschlossenen Augen im Bett, wie einst im Sarge. Dir, mein Gott und Vater, befehle ich meine unsterbliche Seele! Die Seele in Gott, und Gott in der Seele! Wer so schläft, der schläft wohl! Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)