Vinet, Alexandre - Die Notwendigkeit, Kinder zu werden.

Vinet, Alexandre - Die Notwendigkeit, Kinder zu werden.

Matth. XVIII, 3,
Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, dass ihr euch umkehrt, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Meine teuren Zuhörer, ich habe in den vorhergehenden Reden das Christentum Eurer Vernunft annehmbar zu machen gesucht; ich habe die Kette meiner Schlussfolgerungen immer wieder an die unwandelbaren Angaben der Natur befestigt; ich habe von Euch an Euch appelliert; ich habe Euch, in gewisser Art, als ein Tribunal hingestellt, vor welchem die Religion Jesu Christi erschienen ist, um gerichtet zu werden. Was ich getan habe, glaube ich, war mir erlaubt zu tun. Predigen wird immer heißen, von einem von Allen zugestandenen Punkte ausgehen, um gemeinschaftlich bei einem Punkt anzugelangen, der es nicht ist; mit Menschen, die von der Wahrheit des Christentums überzeugt sind, geht man von den Aussprüchen des Evangeliums selbst aus; mit denen, die es nicht sind, muss man notwendiger Weise von einem entfernteren Punkt ausgehen, und dieser Punkt kann nichts anderes sein, als eine von diesen bei allen unsern Zuhörern vorhandenen Überzeugungen, die entweder von der Natur gegeben, oder durch das Mittel des Studiums erlangt sind. Wir bereuen daher den Gang, welchem wir gefolgt sind, nicht; aber wir gestehen, dass die Stellung, welche wir gezwungen gewesen sind, das Christentum annehmen zu lassen, diese Stellung, wagen wir es zu sagen? eines Angeklagten in Bezug auf Euch, eines Klienten in Bezug auf uns, nicht die ist, welche wir ihm aus Vorzug geben würden; eben so wenig haben wir die Gefahr, die von dieser Methode fast unzertrennliche Gefahr, für Euch und für uns verkennen können. Indem wir unaufhörlich das Zeugnis Eurer Vernunft anriefen, hatten wir zu fürchten, dass wir einmal diese Vernunft selbst stolzer machten, und zweitens, dass wir selbst dem Christentum einen falschen Anschein von philosophischem System und von Theorie gäben. Auch haben wir der Meinung Raum geben können, dass das Werk der Bekehrung zum Christentum ganz und gar durch diese menschlichen Verfahrungsarten vollbracht würde; dass man Jesu Christi Schüler nicht auf eine andere Weise würde, als man Platos Schüler wird; dass die Vernunft und die Philosophie alles in dieser wunderbaren Umwandlung tun, und dass endlich der stolze Denker diese lange und wichtige Reise, von der Welt zum Christentum, zurücklegen kann, ohne unterwegs etwas zu verlieren und ohne etwas aufzugeben.

Dieser Eindruck ist es, welchen wir heute zu verwischen suchen werden, wenn wir ihn in Euch sich haben bilden lassen. Das Christentum, welches geduldig zugesehen hat, wie seine Rechte vor unserm kleinen Tribunal verhandelt worden sind, wird von diesem Augenblicke ab wieder die Sprache annehmen, welche ihm zukommt, und die Illusionen zerstören, welche Ihr Euch über seine und Eure Stellung hättet machen können. Habt Ihr vielleicht gedacht, dass es nur Euren Beitritt wollte, und dass, vollkommen zufrieden, ihn erlangt zu haben, es Euch in Ruhe lassen würde, wie nach einer zwischen ihm und Euch in Güte ausgeglichenen Rechtssache? Habt Ihr vielleicht gedacht, dass, indem Ihr seine Forderungen für annehmbar erklärt, indem Ihr, so zu sagen, seine Freisprechung ergehen lasst, Ihr Alles getan habt, was es verlangen kann, und dass Eure Beziehungen zu ihm auf demselben Fuß der Gleichheit fortbestehen können, auf welchem sie anzufangen geschienen haben? Gewiss, dies würde eine große Täuschung sein. Darum, dass Ihr vielleicht der historischen, philosophischen und moralischen Gewissheit gewichen seid, die dem Christentum auf allen Seiten entstrahlt, müsst Ihr nicht glauben, dass Ihr bekehrt seid; dies Werk, nimmt man es in seiner wahren Natur, hat noch nicht einmal begonnen; Alles, was wir gesagt haben, Alles, was Ihr geglaubt habt, ist kaum die Vorrede davon; Ihr habt noch nicht eine Silbe des Buches selbst gelesen. Der Weg zum Himmelreich ist Euch gezeigt worden, aber Ihr seid nicht eingetreten in das Reich; so wie Ihr von Natur seid, könnt Ihr nicht hineinkommen; „es sei denn, dass Ihr Euch umkehret,“ sagt Euch der Meister, „und werdet wie die Kinder, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Erinnert Euch an die Antwort, welche Archimedes seinem Schüler, dem Tyrannen von Sizilien, gab, als diesen die Langsamkeit seiner Methode oder die Schwierigkeit seiner Lehrsätze ungeduldig machte: „Es gibt keinen königlichen Weg, um zum Wissen zu gelangen.“ Wir sagen Euch dies mit mehr Recht bei unserm Gegenstande: das Christentum zeigt keine, kennt keine privilegierte Straße, um zu ihm zu gelangen. So lange Ihr, ich gestehe es, der Wahrheit der christlichen Offenbarung nachforscht, lässt Euch die Natur dieser vorläufigen Untersuchungen das Gefühl Eurer Unabhängigkeit und Eurer Würde. Dieses Stück der Straße ist breit; es ist darauf Platz für alle Eure Anmaßungen; Ihr könnt Euch darauf, nach Gefallen, ausbreiten und ausdehnen und es ganz mit dem prunkenden Aufzug Eures Wissens einnehmen. Aber diese Straße, so weit sie auch sei, läuft für Euch und für die ganze Welt zu einer so engen und so niedrigen Pforte aus, dass, weit entfernt, alle Eure Herrlichkeiten zugleich mit Euch hindurchbringen zu können, Ihr für Euch allein nur unter der Bedingung in dieselbe eindringen könnt, dass Ihr Euch kleiner macht, und, wenn es möglich wäre, Eure Figur eines erwachsenen Menschen gegen die eines kleinen Kindes vertauscht. „Es sei denn, dass ihr euch umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Heißt dies, dass der Mensch in diesem entscheidenden Augenblick, von dem der Eintritt in das Himmelreich abhängt, berufen ist, sich seiner Vernunft zu entäußern, die Kenntnisse, welche er erworben, als Null und nichtig anzuerkennen, und wäre diese Kindheit, aus welcher man ihm eine Bedingung für seinen Beitritt macht, nichts anderes, als die Unwissenheit und die Dummheit? Die, welche es glauben könnten, vergäßen, dass das Evangelium überall das Gegenteil voraussetzt, dass die christliche Religion in sich selbst die reichste Quelle der intellektuellen Entwicklung enthält; dass sie zuerst die höchsten Gedanken populär gemacht hat, dass die Apostel sich nicht gescheut haben, zu schon bekehrten Menschen zu sagen: „Wir reden zu Euch wie zu vernünftigen Personen;“ und dass es endlich das Evangelium ist, wo sich dieser bemerkenswerte Gegensatz vorfindet: „Werdet nicht Kinder an dem Verständnis, sondern an der Bosheit seid Kinder, an dem Verständnis aber seid vollkommen (Erwachsene).“ (1. Kor. XIV. 20.)

Erwachsen der Vernunft nach, Kind dem Herzen nach, das also ist es, was der Christ sein soll; das sind die Eigenschaften, mit denen man in das Himmelreich kommt. Ich setze die erstere bei Euch voraus; habt Ihr die letztere?

So lange, wie Ihr nur dabei geblieben seid, von der Höhe Eurer Vernunft, die Beweise des Christentums, seine Ansprüche, seine Zeugnisse zu prüfen, hat man Euch erlaubt Alles, was erwachsenen Menschen erlaubt ist; Ihr waret nicht gehalten, etwas anderes zu sein; aber sobald, in Folge dieser unabhängigen Forschungen, Eure Überzeugung Euch an die Lehre Christi gebunden hat; sobald Ihr, durch welche Methode es sei, die Gewissheit erlangt habt, dass Christus in die Welt gekommen ist, um die Sünder selig zu machen, von denen jeder unter Euch sich wohl den vornehmsten nennen kann; reden wir deutlicher, wenn dieser große Denker, dieses feine Genie, dieser Gelehrte erkannt hat, dass er auf den Fußpfaden der Welt wie ein verlassenes Kind aufgerafft worden ist, das ohne Kleidung und ohne Brot, selbst ohne Kraft, um auf seiner Straße fortzuschreiten, ohne Stimme, um nach seinem Wege zu fragen, war, wird es ihm da zukommen, das Ansehen eines Wesens von Wichtigkeit anzunehmen, und wird er sich da nicht für ein Kind ausgeben, sich wie ein solches behandeln lassen, in Wirklichkeit ein solches werden müssen?

Was ist denn, in den Augen Gottes, der, den die Welt als einen Gelehrten ehrt? Was ist er, wenn nicht ein Unwissender? was ist er, dieser Starke unter den Menschen, wenn nicht die Hinfälligkeit selbst? Was ist er, dieser Kluge, wenn nicht ein Dummer? Was ist er, dieser Reiche, wenn nicht ein Armer? Wenn er neue Himmel entdeckt oder ein Reich auf der Erde gegründet hätte, was ist er in den Augen Gottes, als ein Tor, der die erste der Wahrheiten verlernt hat; der unfähig ist, die erste Silbe des Namens zu buchstabieren, von welchen die Himmel erklingen und den die Engel anbeten; der außer Stande ist, die erste, die heiligste und die einfachste seiner Pflichten zu erfüllen, ja nur zu ihrer Erfüllung sich anzuschicken, und der, mit all seinem Wissen über die Natur, von der Natur so entfernt ist, dass er anbetet, was er verachten, und dass er verachtet, was er anbeten sollte?

Was das kleine Kind in Bezug auf die Kenntnisse ist, welche dieser Mensch besitzt, ist er selbst in Bezug auf die Kenntnis Gottes; aber was das Kind hat, das hat er nicht; das Kind hat als ganze Stärke das Gefühl seiner Schwäche, als ganzes Wissen das Gefühl seiner Unwissenheit, als ganze Weisheit den Instinkt, der es zu seinen natürlichen Beschützern leitet. Der weltliche Mensch hat diese Weisheit nicht; er will sich allein aus der Wiege erheben, in welcher sein schwaches Wesen liegt; er will selbst seinen Weg auf einem Boden suchen, der ihm unbekannt ist; er stößt die Hand zurück, welche sich ihn zu stützen anbietet, und immer voll von seiner Rolle des erwachsenen Menschen, will er sich nicht erinnern, dass er nur ein Kind ist.

Diese Anlage, welche bei solchen natürlich und allgemein sich vorfindet, die außerhalb der christlichen Überzeugungen stehen, sieht man sehr oft selbst bei denen fortdauern, deren Vernunft das Evangelium unterworfen hat. Sie wollen wohl, in ihrer Eigenschaft als Erwachsene, die Anerkennungs-Akte des Evangeliums unterzeichnen, aber sie können sich nicht entschließen, Kinder - d. h. Christen - zu werden. Da begegnen wir dem großen Stein des Anstoßes, den ihre Weisheit nicht vorausgesehen hatte. Da bleiben sie bestürzt stehen, als ob man sie in eine Falle gelockt hätte. Nicht in dieser Perspektive hatten sie das Christentum angenommen; man hat sie getäuscht, man hat sie weiter geführt, als sie gehen wollten; sie werden nicht zurücktreten, das ist fortan unmöglich, aber sie werden nicht vorschreiten.

Man muss vorschreiten, man muss sein Herz mit seinem Verstand in Übereinstimmung bringen. Das Christentum ist nicht ein außer uns liegendes System, es ist ein in uns wohnendes Leben. Das Christentum ist eine Erneuerung der Seele, es ist nichts weniger. Ein Christ ist nicht ein Mensch, der aus seinem Geiste eine Theorie verbannt hat, um einer andern Platz zu machen, er ist ein gedemütigter Mensch, der fühlt, dass er nur aus Barmherzigkeit fortbesteht, der diese Barmherzigkeit anbetet und segnet; der sich mit den Verheißungen Gottes als seiner einzigen Hoffnung nährt; der sich fortwährend seiner selbst entäußert, sich täglich seinem Heiland als Opfer darbringt und nicht mehr für sich selbst lebt, sondern seinen Heiland in sich leben lässt, und das, was er noch im Fleische lebt, in dem Glauben an den Sohn Gottes leben will, der ihn geliebt hat.

Es würde allerdings viel angenehmer und viel schmeichelhafter für die Eigenliebe sein, sich der Welt als ein Mensch zu zeigen, welcher, unter allen Lehrsystemen, seine Wahl getroffen hat, und der bereit ist, Zeugnis von seiner Urteilskraft abzulegen, indem er Rechenschaft über die Gründe gibt, welche ihn dahin geführt haben, sich zum Christentum, als einer im höchsten Grade rationellen Religion, zu bekennen. Aber es handelt sich um etwas Anderes, um nur das Bekenntnis selbst zu betrachten. Seht das Kind! nicht allein, dass es nicht errötet, seinen Vater anzuerkennen, nein, es rühmt sich seiner; es kommt nicht in den Sinn dieses jungen Wesens, dass der Vater, den es verehrt, nicht allein verehrungswert sei; es stellt ihn in seiner Meinung weit über alle andere Menschen; es beweist ihm Ehrfurcht und Gehorsam an allen Orten; selbst da, wo sein Vater genötigt ist, eine demütigende Stellung anzunehmen, wird es nicht gewahr, dass sein Vater nicht für alle Welt das ist, was er für es selbst ist; oder wenn es dies gewahr wird, so erstaunt es darüber, betrübt sich deshalb und sagt es laut. Verlangt von dem, der nur noch christlicher Philosoph ist, diese Zeugnisse, diese Geständnisse, dieses offene und naive Bekenntnis; erwartet von ihm, dass er ohne Verlegenheit und ohne Umschweif, gleichviel, an welchem Orte, sein ausschließliches Vertrauen in das Blut des neuen Bundes an den Tag lege; dass er sich am Fuße des Kreuzes demütig, klein, elend mache; dass, voll von der Liebe seines Vaters, ergriffen von der Bewunderung dieser ruhmwürdigen Güte, fühlend, dass nichts neben diesem göttlichen Werke groß, noch schön ist, er den Gefühlen seines Herzens freien Lauf lasse, und von der Botschaft des Heils, als von einer immer neuen, immer interessanten Nachricht spreche, auf welche sich die Aufmerksamkeit mitten unter allen Neuigkeiten vorzugsweise richten soll. . . . Ihr werdet es vergeblich von ihm verlangen; er hat nicht geglaubt, dass es sich darum handelte; war es das, was man meinte? in der Tat, Ihr setzt ihn sehr in Erstaunen.

Ein kleines Kind hat über die Beziehungen der Gesellschaft philosophischere Ansichten, als irgend ein Philosoph. Für dasselbe sind Menschen Menschen; das Kleid gibt ihnen, in seinem Geiste, keine neue Eigenschaft; es liebt sie, wenn sie gut sind; es liebt sie, wenn sie seinen Vater lieben. Der Christ ist Kind in dieser Beziehung; er lässt die sozialen Unterschiede für den zeitlichen Gebrauch bestehen, er nimmt sie an, und richtet sich oft aus christlicher Klugheit danach; aber sein Herz ebnet innerlich alle diese Unterschiede; die christliche Liebe ist der große Gleichmacher. Er fürchtet nicht, alle Menschen als Brüder zu behandeln, denn er sieht in ihnen die Kinder seines Vaters, und wenn es unter ihnen welche gibt, zu denen er sich besonders hingezogen fühlt, so sind es die, von denen sein Vater geliebt wird. Nicht allein die Verschiedenheiten des Ranges halten seine Liebe nicht auf, sondern er überwindet auch in gleicher Art schwerer zu besiegende Hindernisse, die, welche die Verschiedenheit der Bildung, der Intelligenz und des Charakters ihm entgegenstellt. Er hat dem Einfältigen immer etwas zu sagen, von dem Unwissenden immer etwas zu lernen, immer irgend eine Sympathie mit den am meisten von ihm verschiedenen Charakteren. Weder die Langeweile, noch der Widerwille begleiten ihn in so gemischte Gesellschaften. Ein gemeinsames Interesse gleicht die Entfernungen der Geister aus. Es fühlen sich alle gleich gelehrt, gleich unwissend, gleich töricht, gleich weise. Die Unterschiede, welche in einer andern Sphäre bestehen, lassen sich nicht bemerken; sie haben, in Bezug auf den letzten Zweck des Lebens, zu wenig Bedeutung. Da, wo der Christ einem Christen begegnet, hat er einen seines Gleichen gefunden. Nichts, im Gegenteil, ist dem Systems-Christen fremder. Für ihn bedarf es zum gemeinsamen Bande mit dem Christen mehr, als des Christentums. Er bedarf, wenn nicht der Gleichheit des Ranges, wenigstens der Gleichheit der Bildung; er weiß dem ununterrichteten Christen nichts zu sagen, er fühlt sich unbehaglich in seiner Gesellschaft, er fürchtet sie. Er bedarf noch der Ähnlichkeit der Ansichten; eine kleine Abweichung stört ihn; er setzt sich nicht über den Eindruck hinweg, welchen ihm eine wenig rationelle Meinung machen kann; er weiß nicht über die Formen hinwegzusehen, um bei dem Gehalt stehen zu bleiben, welcher das Christentum ist. Er sucht viel mehr Gleiche und Ähnliche, als Brüder.

Ein kleines Kind kann nichts durch sich selbst, aber es erwartet Alles von seinem Vater. Es weiß, dass es von ihm geliebt ist, und dass ihm nichts von dem, was ihm notwendig ist, abgeschlagen werden wird. Es bittet; das Leben des kleinen Kindes ist eine Bitte. Wie viel Ursache hat nicht der Mensch, eben so zu denken und zu handeln! Aber bitten, sagt dieser weise Mann, bitten, beten! das ist etwas, was mir nicht natürlich in das Herz kommt; Alles, was man über das Gebet sagen kann, weiß ich und halte es für wahr; aber dessen ungeachtet fühle ich mich nicht aufgefordert, es zu tun; es kommt mir dies wie etwas Fremdartiges, wie die Sache eines Andern vor; ich würde mir beim Beten sonderbar vorkommen, als ob ich etwas Erlerntes oder Nachgeahmtes täte. Hatte ich an alles dies gedacht, als ich Christ wurde?

Ein kleines Kind glaubt, was ihm sein Vater sagt. Es ist sein Vater; weiß er nicht alles, was das Kind zu wissen nötig hat, und könnte er es täuschen wollen? Dieser liebenswürdige Instinkt ist der Instinkt des Christen. Er weiß, dass sein Vater gesprochen hat; das ist ihm genug. Er wird die authentischen Mitteilungen der göttlichen Weisheit nicht der Kontrolle der menschlichen Weisheit unterwerfen. Nachdem er geglaubt hat, dass das Evangelium von Gott ist, glaubt er, was das Evangelium sagt. Der Systems-Christ wird durch den Stolz der Vernunft bis in das Innere der Umwallung verfolgt, an deren Toren sie hätte stehen bleiben sollen. Er will noch richten, wählen, seinem Gebrauch anpassen, Gott vorschreiben, was Gott sagen soll, die Grundsätze der offenbarten Lehre umformen, die Bibel von Neuem machen, nachdem er sie angenommen hat. Spricht man ihm von Unterwerfung; erinnert man ihn daran, dass er sie versprochen hat; dass man wenigstens Mysterien, deren Unverletzbarkeit er im Voraus anerkannt hat, in Frieden lassen muss; seine Vernunft, gewohnt, überall einzudringen, wundert sich, dass ihr eine Tür verschlossen ist; er hatte nicht die Ausdehnung seiner Verbindlichkeiten gemessen; er empfindet Ärger darüber, und gleichzeitig die Unmöglichkeit, zurück zu treten, noch vorzuschreiten, fühlend, getrieben durch den Stolz, zurückgehalten durch die Furcht, bleibt er unbeweglich und untätig auf der scharfen Grenze stehen, welche das Christentum und die Welt scheidet.

Der Übergang von der Kenntnis zum Besitz, von dem Glauben schenken zum Leben, das ist das, was unser Herr in dem, auf den ersten Blick so sonderbar erscheinenden, Bilde von der Rückkehr aus dem reiferen Alter zur Kindheit dargestellt hat. Während, in der Welt, der Lehrer zum Kinde sagt: Wohlan, betrage dich wie ein Mann, sagt Jesus Christus, unser göttlicher Lehrer, zum Manne: Betrage dich wie ein Kind. Sei durch das Herz, in deinen Beziehungen zu Gott und zu den Menschen, das, was ein kleines Kind für seinen Vater und alle die Personen, welche es umgeben, ist. Die Kindlichkeit des Herzens ist der Zug, welcher den Christen der Tat nach von dem Christen der Theorie nach unterscheidet. Aber diese Kindlichkeit des Herzens, was ist sie anders, als die Demut? Was ist es, was das Kind vom Manne unterscheidet, wenn nicht eine Art von natürlicher Demut? Es ist also die Demut, welche die Scheidungslinie zwischen dem glaubenden Christen und dem lebendigen Christen bezeichnet. Es ist also die Demut, welche dem ersteren fehlt, es ist die Demut, welche er zu erlangen hat, um in das Himmelreich zu kommen.

Erklären wir uns deutlicher, meine Brüder; geben wir nicht zu dem Gedanken Veranlassung, dass eine Tugend, mehr wie eine andere, Bedingung der Seligkeit ist. Jesus Christus hat uns nur begreiflich machen wollen, dass seine Religion der Art ist, dass man, es sei denn, dass man einwillige, sich zu demütigen, ihm nicht wahrhaft angehören kann. Er hätte eben so sagen können, dass man, es sei denn, dass man ihn liebe, ihm nicht angehören kann; er hat es auch gesagt, und seine Schüler haben es wiederholt. Aber die Demut eben ist ein Beweis, dass man liebt; wer liebt, hat keine Mühe, sich zu demütigen; wer sich nicht demütigt, liebt nicht.

Wer hat sehen können, wie der Sohn Gottes vom Himmel herabsteigt, alle unsere Missgeschicke teilt, sich zum Range der Übeltäter erniedrigt, die Schmach wie Wasser trinkt, damit er Sünder im Schoße des Vaters eines ewigen Ruhmes genießen könne; wer diese Dinge gesehen hat, wer sie glaubt und wer sich noch einbildet, dass der Schüler mehr ist wie sein Meister, und der Diener mehr wie sein Herr; wer sich nicht entschließen kann, einen Tropfen aus dem Becher zu trinken, aus dem Jesus Christus in langen Zügen getrunken hat; wer am Fuße des Kreuzes nicht seine nichtigen Anmaßungen, seine Unabhängigkeit des Geistes, sein Vertrauen in sich selbst, seinen kleinlichen Ruhm, seine Eitelkeit niederlegen kann; wer meint, in Gegenwart des an den Schandpfahl gehefteten Jesus auf einem Throne bleiben zu können, der, allerdings, liebt nicht. Und, umgekehrt, wen so viel Hingebung nicht hat rühren können, wer daran glauben kann, ohne Christus zu lieben, wessen Herz sich in dieser Falle der Barmherzigkeit nicht hat fangen lassen, der, allerdings, wird sich nicht demütigen. Wechselseitig die eine das Prinzip der andern, existieren die Liebe und die Demut nicht getrennt in der Seele; steigt in sie hinab, Ihr werdet sie vereinigt finden, zusammengeschmolzen in ein einziges Gefühl, dessen verschiedene Eigenschaften sich zusammen durch eine und dieselbe Bewegung, durch eine und dieselbe Tugend enthalten.

Aber wenn die Vernunft uns sagt, dass das Evangelium von solcher Natur ist, dass, es sei denn, dass man Kind werde, man es nicht in der Tat und in der Wahrheit empfangen kann, so tut die Vernunft nichts weiter, sie verlässt uns in dieser Angelegenheit, wie in so vielen andern, an dem Punkt, wo die wahre Schwierigkeit beginnt. Die Vernunft ist nicht die wirkende Ursache irgend eines der Gefühle, welche in uns entstehen können; alles, was sie kann, besteht darin, dass sie uns vor die Tatsachen führt; dann zieht sie sich zurück, und es ist an den Tatsachen, uns umzugestalten. So stellt sie uns der Tatsache der Erlösung gegenüber, eine Tatsache, welche das Sonderbare hat, dass, so geeignet sie auch durch ihre Natur erscheint, unser Herz zu rühren, sie doch in dem Herzen selbst den furchtbarsten Hindernissen begegnet. In der Theorie, sagen wir uns, dass alles in dieser Tatsache so angeordnet ist, das Herz hinzureißen; in der Praxis, scheint es fast, dass es nur geeignet ist, das Herz zu empören. Auch legt das Evangelium unsern natürlichen Fähigkeiten keineswegs die Macht bei, daran zu glauben und es sich anzueignen. „Niemand kann glauben,“ sagt es uns, „dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, denn durch den heiligen Geist.“ Was ohne Zweifel sagen will, dass Niemand ohne die Hilfe des heiligen Geistes die Anlagen eines wahren Schülers Jesu Christi bekommen kann. Niemand kann, um mit unserm Text zu reden, in das Himmelreich eingehen, es sei denn, dass er umkehre und ein Kind werde.

Also diese Umformung zum Kinde gehört Euch nicht einmal an; Alles, was Ihr in Euch findet, ist die Überzeugung, dass, stolz und unabhängig von Natur, Ihr Gott bitten müsst, diesen Hochmut zu beugen, Euch bis zu dem Maße der kleinen Kinder zu erniedrigen, Euch ihre Herzen zu geben.

Und Ihr Gelehrte, Männer von Genie, seid es nicht allein, welche nötig habt, darum zu bitten; Euer Stolz übertrifft nicht den der andern Menschen, so weit Eure Talente auch die ihrigen übertreffen. Sie auch, in ihrer Mittelmäßigkeit, sind hochmütig und stolz, denn sie sind Menschen; demütig vielleicht und bescheiden in Bezug auf die Menschen, hochmütig und stolz in Bezug auf Gott. Ihre Vernunft hat keine geringeren Prätentionen, als die Eure; ihre Würde macht nicht weniger Schwierigkeiten; es wird ihnen eben so schwer, sich zu beugen, als wenn sie, wie Ihr, das Haupt in den Wolken hätten. Kinder, kleine Kinder sein, am Gängelband gehen, nicht mit einem Schritt die Hand; welche sie leitet, verlassen können, von seiner Barmherzigkeit für die Bedürfnisse jedes Tages abhängen, mit den Niedrigen wandern, in der Gesellschaft der Kleinen gesehen werden, sich denen, die einfachen Geistes sind, gleichstellen: welche Erniedrigung, welche Schande! Doch glücklich der, der diese Schande angenommen und sich damit bedeckt hat! Die Schande der Erde ist der Ruhm des Himmels. Wenn sie Euch noch widerstrebt, meine Brüder, wenn es Euch nicht ansteht, mit den Kindern Gottes Kinder zu werden, zählet darauf, dass Ihr, trotz der Aufrichtigkeit Eures Bekenntnisses, noch nicht im Himmelreiche seid. Ihr seid auf der Schwelle einer Tür, welche Euren Blicken geöffnet, aber Euren Schritten untersagt ist. Ihr müsst Gott bitten, dass er Euren Stolz breche, indem er Euch ein lebendiges Gefühl von Eurem sündhaften Zustande gibt, eine tiefe Anschauung von Eurem Elend, einen unversöhnlichen Hass gegen Euch selbst, so wie die Sünde Euch gemacht hat, eine ernste Überzeugung von Eurer Gefahr. Sagt ihm, er möge Euch zu Boden werfen, Euch in Eurer eignen Achtung so tief herabsetzen, dass Ihr Euch nur zu glücklich fühlt, unter seiner väterlichen Hand als einfache Kinder wieder zu erstehen.

Dann nur werden Euch die religiösen Überzeugungen, welche Ihr erlangt habt, wirklich nützen; sie werden dann nicht mehr eine Last für Euch sein, eine Verlegenheit, ein beschwerlicher Gedanke, der überall, wo Ihr ihn hinschleppt, überflüssig erscheint; sie werden die Grundlage Eures Friedens sein, die Ursache Eures Glückes, ein Leben in Eurem Leben, ein Leben in Eurem Tode, Eure Hoffnung in der Zeit, Euer Ruhm in der Ewigkeit.

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