Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 58

Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 58

Daß man zu hohe Dinge und die geheimen Gerichte Gottes nicht erforschen soll.

1. Sohn! hüte dich, über hohe Dinge und die geheimen Gerichte Gottes zu streiten; warum dieser so verlassen und jener zu so hoher Gnade angenommen wird; warum auch der so tief erniedriget und jener so hoch erhoben wird?

Das geht über alle menschliche Fassungskraft hinaus, und zur Erforschung des göttlichen Gerichtes reicht keine Vernunft und kein gelehrter Streit hin.

Wenn also der Feind dir solches eingibt, oder auch gewisse vorwitzige Menschen darnach forschen, so antworte mit dem Propheten! „Herr, du bist gerecht, und gerecht ist dein Gericht!“ und wieder: „Die Gerichte des Herrn sind wahrhaftig und rechtfertigen sich selbst.! (Ps. 118,137.; 18,10.)

Meine Gerichte soll man fürchten, aber nicht erforschen wollen, weil sie dem menschlichen Verstande unbegreiflich sind.

2. Grüble und streite auch nicht über die Verdienste der Heiligen, welcher heiliger sei als der andere, oder wer im Himmelreich größer sein möge.

Solches erzeugt oft unnützen Hader und Streit, nährt auch den Stolz und den eitlen Ruh, woraus Neid und Zwietracht entspringt, indem der diesen Heiligen, und jener einen andern hoffärtig zu erheben sucht.

Solcherlei aber wissen und ergrübeln wollen, bringt keine Frucht, sondern mißfällt vielmehr den Heiligen, weil ich nicht bin ein Gott der Zwietracht, sondern des Friedens, der mehr in wahrer Demuth, als in eigener Erhebung besteht.

4. Einige werden in eifernder Liebe zu diesen oder zu jenen durch eine stärkere, jedoch mehr menschliche als göttliche Neigung hingezogen.

Ich bin es, der alle Heiligen erschaffen hat; ich gab die Gnade, ich verlieh die Herrlichkeit; ich erkenne die Vorzüge eines Jeden; ich bin ihnen zuvorgekommen mit den Segnungen meiner Süßigkeit.

Ich habe meine Geliebten von Ewigkeit her gekannt; ich habe sie von der Welt erwählt, nicht sie haben mich vorher erwählt.

Ich habe sie berufen aus Gnaden, angezogen aus Barmherzigkeit; ich habe sie durch mancherlei Prüfungen geführt.

Ich habe ihnen herrliche Tröstungen eingeflößt, ich habe ihnen Beharrlichkeit gegeben, ich habe ihre Geduld gekrönt.

4. Ich kenne den Ersten und den Letzten; ich liebe sie Alle mit unvergleichbarer Liebe.

Ich bin zu loben in allen meinen Heiligen; ich bin über Alles zu preisen und zu ehren in den Einzelnen, die ich so wunderbar verherrlicht und erwählt habe, ohne alle vorhergehende eigene Verdienste.

Wer also einen von meinen Kleinsten verachtet, der ehret auch den Großen nicht, weil ich den Kleinen und den Großen geschaffen habe.

Und wer einen der Heiligen verkleinert, der verkleinert auch mich, und alle Uebrigen im Himmelreiche.

Alle sind durch der Liebe Band Eins, denken Eins, wollen Eins, und lieben sich insgesammt in Einem.

5. Aber was viel höher ist, sie lieben mich noch mehr, als sich und ihre Verdienste.

Denn sich selbst entrückt und von aller Eigenliebe entblößt, gehen sie ganz ein in meiner Liebe, in der sie auch genußreich ruhen.

Nichts ist, was sie abwenden oder niederbeugen könnte, weil sie, der ewigen Wahrheit voll, vom Feuer einer unauslöschlichen Liebe durchglüht sind.

Aufhören sollen darum die fleischlichen und sinnlichen Menschen, von dem Zustande der Seligen zu reden, da sie nichts zu lieben wissen, als ihre eigene Lust. Sie thun dazu und davon nach ihrer Neigung, nicht wie es der ewigen Wahrheit gefällt.

6. Bei Vielen ist es Unwissenheit, zumeist bei denen, die, wenig erleuchtet, selten Einen mit vollkommener geistiger Liebe zu lieben verstehen.

Viele werden noch von natürlicher Neigung und menschlicher Freundschaft zu diesen oder jenen hingezogen, und wie sie es im Irdischen halten, so bilden sie sich’s auch vom Himmlischen ein.

Aber es ist ein unermeßlicher Abstand zwischen dem, was die Unvollkommenen denken, und dem, was erleuchtete Männer im Lichte höherer Offenbarung schauen.

7. Hüte dich also, Sohn! vorwitzig über das zu verhandeln, was deine Erkenntniß übersteigt, aber strebe und ringe vielmehr darnach, daß du wenigstens der Geringste im Reiche Gottes werden mögest.

Und wenn auch Einer wüßte, wer heiliger als ein Anderer wäre oder für größer im Himmelreich gehalten: was würde ihm diese Kenntniß nützen, wenn er sich nicht dadurch vor mir demüthigte und zu größerem Lobe meines Namens erhöhe?

Gott viel wohlgefälliger handelt der, der an die Größe seiner Sünden und an die Geringfügigkeit seiner Tugenden denkt, und wie weit er von der Vollkommenheit der Heiligen entfernt ist, als der, welcher über die höhere oder niedere Stufe derselben streitet.

8. Es ist besser, in andächtigen Gebeten und mit Thränen zu den Heiligen zu flehen und mit demüthigem Herzen ihre glorreichen Fürbitten anzurufen, als ihre Geheimnisse durch eitles Grübeln erforschen zu wollen.

Sie sind wohl und vollkommen zufrieden; möchten nur auch die Menschen Zufriedenheit lernen und sich ihres eiteln Geschwätzes enthalten.

Sie rühmen sich nicht ihrer eigenen Verdienste, weil sie sich selbst nichts Gutes zuschreiben, sondern Alles mir, der ich ihnen Alles aus grenzenloser Liebe geschenkt habe.

Sie sind von so großer Leibe zu Gott und von solcher überschwenglichen Freude erfüllt, daß ihnen nichts an Herrlichkeit mangelt und nichts an Seligkeit mangeln kann.

Alle Heiligen sind, je höher in Herrlichkeit, desto demüthiger in sich selbst, und mir desto näher und desto lieber.

Daher steht geschrieben: „Sie legten ihre Kronen nieder vor Gott, und fielen auf ihr Angesicht vor dem Lamme, und beteten an Den, der da lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offenbarung 4,10.)

9. Viele fragen: wer der Größte sei im Reiche Gottes, und wissen nicht, ob sie würdig geachtet werden mögen, unter den Geringsten zu sein.

Es ist schon etwas Großes, der Kleinste im Himmel zu sein, wo Alle groß sind, weil Alle Kinder Gottes heißen und sein werden.

Der Kleinste soll zu Tausenden werden, und der Sünder von hundert Jahren wird sterben.

Denn als die Jünger fragten, wer der Größte im Himmelreich wäre, vernahmen sie diese Antwort: „Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Wer sich nun erniedriget, wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“ (Matth. 18,1. 3. 4.)

10. Wehe denen, die es verschmähen, sich mit den Kleinen freiwillig zu erniedrigen; denn die niedere Thüre des Himmelsreichs wird sie nicht eingehen lassen.

Wehe auch den Reichen, die ihren Trost hier haben: denn wenn die Armen in das Reich Gottes eingehen, werden sie draußen stehen und heulen.

Freuet euch, ihr Demüthigen, und frohlocket, ihr Armen; denn euer ist das Reich Gottes, wenn ihr anders in der Wahrheit wandelt.

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