Tholuck, August – Wie selig das Los eines gläubigen Jüngers des Heilandes ist

Tholuck, August – Wie selig das Los eines gläubigen Jüngers des Heilandes ist

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“ - so sagte einst der Heiland. Wie mancher Christ hat es erfahren, dass in der Tat ein Wort aus dem Mund Gottes eine Speise der Seelen ist, woran man Stunden, Tage, Wochen zehren kann. Welch' ein Schauspiel bietet sich uns dar, wenn wir bedenken, dass dieses und jenes Gotteswort nun schon in so unzähliger Menschen Geister als ein heiliger Same gefallen ist, der sich in ihr Fleisch und Blut verwandelt hat, in Jedem eine eigentümliche Gestalt gewonnen, und doch in Allen wieder dieselbe. Unter den Mitgliedern der Brüdergemeinde und auch noch bei manchen andern Christen findet die Gewohnheit statt, für jedweden Tag einen Spruch der heiligen Schrift zum Begleiter sich auszuwählen. Der tönt ihnen dann immer in's Ohr bei Allem, was sie tun und treiben, an dem zehren sie, in den leben sie sich hinein, und er lebt sich hinein in sie und wird Fleisch und Blut in ihnen. Vor allem gibt es einige Kernsprüche der heiligen Schrift, mit denen jeder Christenmensch in ein so lebendiges Verhältnis kommen muss. Zu diesen gehört der, den wir unserer heutigen Andacht zum Grunde legen wollen, und der sich im ersten Brief des Johannes im 3. Kap. am Anfange findet: „Seht, welch' eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen. Darum kennt euch die Welt nicht, denn sie kennet ihn nicht. Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden: denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und ein jeglicher, der solche Hoffnung hat zu ihm, der reinigt sich, gleich wie er auch rein ist.

Schon ein Mal habe ich in vergangener Zeit über dieses Wort zu euch gesprochen. Dessen, was ich damals sagte, erinnere ich mich nicht mehr, aber das weiß ich, wenn ich jeden Tag darüber predigen könnte, ich würde dessen nicht müde werden, und auch ihr, wenn ihr jeden Tag ein lebendiges Zeugnis aus frohem Herzen darüber vernehmen könntet, auch ihr würdet dessen nicht müde werden. Zuvörderst, meine lieben Freunde, könnt ihr euch etwas Rührenderes vorstellen, als den alten beinahe hundertjährigen Jünger, wenn er eine so kindlich zarte Freude darüber äußert, dass auch er ein Kind Gottes ist? Und wenn er uns nun einlädt, uns mit zu freuen, wer kann widerstehen? Sprechen greise Christen aus, wie gut sie es bei Christo haben, so ist es doch noch etwas ganz anderes, als wenn es jugendliche Christen tun. Die meisten von uns, auch wenn sie Christum als ihren Seligmacher kennen gelernt haben, können doch nur über eine gar kurze Zeit Zeugnis ablegen, und man weiß noch nicht, was es für einen Ausgang mit ihnen nehmen wird. Wenn aber ein Greis von hundert Jahren, der wie Johannes seit seinem zwanzigsten bei seinem Heiland geblieben ist, wenn der ein Zeugnis ablegt, dass wir es in diesem Glauben gut haben, dem muss man Vertrauen schenken. So lasst uns denn mit allem Vertrauen und mit aller Innigkeit des Herzens aus seinem Mund vernehmen, wie selig das Los eines gläubigen Jüngers des Heilandes ist.

Wie selig das Los eines gläubigen Jüngers des Heilandes sei, das wollen wir aus den verlesenen Textesworten erkennen lernen, und demnach zuerst miteinander betrachten, wie selig ein solcher Jünger schon jetzt ist; zweitens, wie selig er einst sein wird; drittens, wozu ihn jener Glaube und diese Hoffnung antreibt.

Wozu ist Jesus Christus in die Welt gekommen? Dass wir sollen Gottes Kinder werden. „So viele an ihn glaubten, sagt derselbige Johannes, denen hat er die Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden.“ Ist aber dem Menschen in keinem Anderen die Macht gegeben, Gottes Kind zu werden, als in Christo - ach, wie so wenige Gotteskinder gibt es dann auf der Erde! Wir meinten, so weit Menschenherzen schlügen über der Erde hin, da sei auch Eine Familie Gottes und Ein ewiger Vater, unter dessen weitem Mantel väterlicher Huld sie Alle Schatten fänden, und nun sollen die Gotteskinder nur jenes kleine Häuflein sein, die da neugeboren sind durch den Geist von oben aus dem Evangelium!? Der Gedanke tut euch weh, die Familie Gottes auf Erden also beschränken zu sollen, doch ist es nicht das Wort der heiligen Schrift allein, welches euch zu dieser Beschränkung nötigt - euren eigenen Geist, euer eigenes Herz frage ich: Blickt hin, meine Brüder, auf die Tausende, die vom Nordpol bis zum Südpol auf den Höhen wohnen und in den Tälern und sagt mir, was ihr hier seht? Siehst du hier eine Familie Gottes? Sind es Kinder, die die Züge ihres himmlischen Vaters auf dem Antlitz tragen? Sind es Kinder, deren Herz selig ist? Sind es Kinder, die keine größere Freude ihres Lebens kennen, als die, ihrem Vater Freude zu machen? Sind es Kinder Eines Vaters, die eben darum sich als Brüder lieben? Brüder, wer erkennt in der Menschheit, wie sie vor uns ist, wer erkennt in ihr eine Familie Gottes?! Wohl sind wir Kinder Eines irdischen so wie auch Eines himmlischen Vaters, denn „er hat gemacht, wie der Apostel sagt, dass von Einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen“, und wiederum: „von Ihm und durch Ihn und zu Ihm ist alles geschaffen,“ und „seine Sonne lässt er aufgehen über die Guten und über die Bösen, und lässt den Regen herniederfließen ohne Wahl auf die Felder der Gerechten und der Ungerechten.“ Wohl sind wir also seine Kinder, ausgegangen aus seiner Hand, geschaffen zu seinem Ebenbild, wandelnd unter dem Schatten des weiten Mantels des Erbarmens, den er um Alles schlägt, was er geschaffen hat. Aber Kinder sind wir, die ihre Abstammung verleugnet haben, Kinder, die alles vergängliche Gut mehr lieben, als ihren unvergänglichen Vater, ungehorsame irrende Kinder, eine zerstreute Herde, von welcher jedes auf seinen eigenen Weg sieht. Wenn es wahr ist, dass oben in den hellen Höhen, deren Licht wie die Botschaft aus einer ungefallenen Welt herniederquillt, ein anderes Geschlecht von Gotteskindern wohnt, deren Knie nicht aufgehört hat von dem Anfang an, wo sie in's Dasein traten, sich zu beugen vor dem Vater ihres Lebens, sagt mir: was müssen ihre Empfindungen sein, wenn sie einen Blick herabwerfen auf die ferne Provinz ihres königlichen Gebieters, wo er sich ebenfalls ein Geschlecht von Gotteskindern stiften wollte, und ihr Auge nun die Familie dieser Gotteskinder auf der Erde sucht? Ach, „dass du den Himmel zerrissest, und führst herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie heißes Wasser vom Feuer versiedet, dass dein Name kund würde unter deinen Feinden!“ Und siehe! er zerreißt den Himmel, und die Berge zerfließen vor ihm, er kommt - er kommt - Erbarmen in seiner Rechten, und Segen ohne Ende in seiner Linken! Das große Geheimnis, das verborgen gewesen ist von der Welt her, ist kund geworden, der Vorhang ist gefallen, ein Kind Gottes, ein wahrhaftiger Gottes- und zugleich ein Menschensohn steigt hernieder, und wird unser Bruder, auf dass wir Gottes Kinder werden möchten. In einem geheimnisreichen Worte des Apostels heißt es, dass wir „erwählt sind vom Anfange der Welt in dem Sohne seiner Liebe.“ Nur in ihm und an ihm, diesem wahrhaftigen Gottessohne, können wir Gottes Kinder werden. Aus zerrissenen Wolken ist die Stimme hervorgedrungen: „Das ist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören!“ Durch den Glauben an ihn sollen wir mit ihm Eins werden. Aus göttlichem Samen sollst du neu geboren werden, und bist du durch ihn und mit ihm ein Kind Gottes geworden, so sollst du auch ein Erbe Gottes werden, denn „sind wir Kinder Gottes, so sind wir auch seine Erben.“ Und wem danach sein Herz steht, und wer danach trachtet durch den Glauben, siehe, dem soll vergessen sein Alles, was dahinten liegt von Schuld und Sünde. Was auch für Ankläger gegen ihn auftreten mögen, er hat einen ewigen Fürsprecher gefunden bei dem Vater, „Jesum Christum, der gerecht ist.“

Seitdem das gepredigt worden ist auf Erden, seitdem hat sich eine kleine Gemeinde der Kinder Gottes auch auf dieser Erde gebildet, die Schrift nennt sie „Auserwählte von der Welt“ und der Herr selbst nennt sie „eine kleine Herde“ Das sind nun Leute, die mit Jakobus sagen können: „Er hat uns gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, auf dass wir wären Erstlinge seiner Kreaturen,“ die mit Petrus rühmen können: „Wir sind das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass wir verkündigen sollen die Tugenden des, der uns berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht, die wir weiland nicht ein Volk waren, nun aber Gottes Volk sind, und weiland nicht in Gnaden waren, nun aber in Gnaden sind;“ die mit Paulus rufen mögen: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hie, der gerecht macht; wer will verdammen? Christus ist hie, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns; wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?“; die mit Johannes bezeugen können: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder.“ Wie diese Gemeinde ihren unsichtbaren Vater geliebt hat, das hat die Welt nicht sehen können, aber wenigstens wie sie sich unter einander geliebt haben, das hat man mit Erstaunen gesehen, denn wie uns ein Kirchenvater aus der ersten Zeit erzählt: mit Erstaunen haben die Heiden, wenn sie sahen, wie Christen in einer so neuen Liebe mit einander verbunden waren, ausgerufen: „Seht, wie sie sich lieb haben!“

In dem seligen Bewusstsein nun, einer solchen Familie von Gottes Kindern anzugehören, ruft Johannes: „Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir sollen Gottes Kinder heißen!“ Selige Freude spricht dieser Ausruf aus und zu gleicher Zeit Verwunderung. Das kindliche Gemüt kann es nicht begreifen, wie es so großer Gnade und Huld wert geachtet worden ist. Wer hätte es erwartet, will er sagen, wir die Ungehorsamen, und die wir in der Finsternis wandelten, uns hat er wert gehalten, dass wir seine Kinder werden sollen! Bis zu dieser Stunde gibt es noch überall, und Gott sei Dank! auch unter uns, ja mitten in dieser Versammlung gibt es noch Viele, die mit derselben seligen Verwunderung dem Apostel nachrufen können: „Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir sollen seine Kinder heißen.“ Ihr aber, die ihr es einmal und wieder einmal habt ausrufen können, o dass es erst dazu mit euch käme, dass alle Stunden euer Herz davon überwallte, dass diese selige kindliche Freude in all' unseren Zügen, in allem unserem Tun und Treiben sich ausprägte, dass unser ganzes Leben in der Welt und mit der Welt ein fortgehender Ausruf wäre: „Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen!“ Wie Viele würden dann unserem Glauben und unserem Herrn gewonnen werden? Denn diese selige und doch dabei so stille und demütige Freude, welche die echten Christen auszeichnet, sie hat etwas Unwiderstehliches, und je weniger der Mensch die verborgene Quelle ahnen kann, aus der sie fließt, desto wunderbarer berührt sie ihn, wo er sie findet.

Christen, so selig macht uns unser Glaube, und wie selig macht uns erst unsre Hoffnung! - Denn „wir sind selig geworden, sagt Paulus, auf Hoffnung!“ - „Wir sind jetzt Gottes Kinder - sagt Johannes, und sein Herz bebt vor Freude - aber es ist noch nicht einmal erschienen, was wir sein werden,“ setzt er hinzu, und sein Herz wallt über in überschwänglicher Ahnung. Die Gläubigen selbst, die wissen es freilich mit seliger Gewissheit, dass sie Kinder Gottes sind, sie tragen das Zeugnis der Kindschaft in sich, aber es ist noch nicht offenbar, und dass es einst offenbar werden wird, das ist der Gegenstand der christlichen Hoffnung. So lange es indes noch nicht offenbar worden ist - welch' ein seltsam kühnes Rätsel stehen sie vor der Welt! Versetzt euch einmal in die Zeit der ersten christlichen Gemeinde, denkt euch der ganzen großen heidnischen Welt mit ihren Kaisern, Helden, Weltweisen, Künstlern, mit ihrer Macht und ihrem Glanz gegenüber das kleine Christenhäuflein, zum größten Teil arme und von der Welt wenig geachtete Leute, von allen Seiten hart bedrängt und der Trübsal preisgegeben - nicht weniger, sondern sogar mehr wie alle Anderen, und diese Handvoll Menschen steht und jubelt: „Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen, und ist noch nicht einmal erschienen, was wir sein werden!“ Johannes fühlte es selbst, dass für die Anderen das Wort wohl unbegreiflich sein muss: „Die Welt, sagt er, kennt uns nicht, denn sie kennt Ihn nicht.“ Und noch kühner tritt Paulus auf. Er hat gesagt: „Wir rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit,“ aber gegenüber der ganzen ungläubigen spottenden Welt sagt er noch mehr: „nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsal.“ Wenn ihr wollt, mögt ihr das wohl einen Trotz nennen, aber es ist ein göttlicher Trotz, wie unser Luther sagt, „dass der Glaube dem Menschen ein trotziges Herz gebe gegen Gott und gegen jede Kreatur.“ Und was ist denn der Mittelpunkt aller Hoffnung dieser Elenden und Armen? es ist wohl Ehre, Herrlichkeit, Genuss? Allerdings, denn „Preis, Ehre und unvergängliches Wesen, sagt der Apostel, wird er denen geben, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben.“ Aber der Mittelpunkt ihrer Freude und Hoffnung ist es noch nicht, der Mittelpunkt ihrer Freude und Hoffnung ist, worauf kein anderes Menschenherz sich freut, als das ihrige - dass sie ihren Herren sehen sollen, und zwar, wie er ist. Brüder, wir begreifen sie wohl, jene Sehnsucht nach dem Wiedersehen bei denen, die schon hier auf Erden in sein heiliges Antlitz hatten schauen dürfen, als er an jenem Morgen auf dem Ölberg von ihnen Abschied nahm, und die Wolke ihn bedeckte, während seine Hände zum letzten Segen sich über sie ausbreiteten. Brüder, wir begreifen es wohl, dass da eine brennende Sehnsucht in ihrem Herzen zurückgeblieben ist, dass die aufgehobenen segnenden Hände ihnen vor Augen gestanden haben ihr ganzes Leben lang. Aber nicht bloß die, welche ihn mit dem leiblichen Auge gesehen hatten, haben das Feuer der Sehnsucht in ihrem Herzen behalten, nein, in dieser Flamme der Sehnsucht sind alle Christenherzen der ersten Zeit geschmolzen, derer, die ihn mit dem leiblichen Auge geschaut hatten, wie derer, die ihn bloß gesehen hatten mit dem inwendigen Auge. An die Gemeinde von Kleinasien, die niemals mit eigenen Augen ihn geschaut, schreibt der Apostel Petrus - der ihn geschaut, und der gewiss seinen letzten Blick nimmer vergessen hat, welcher mit jener Frage verbunden war: Simon Johanna, hast du mich lieb? - an jene Gemeinden also, die ihn nimmer gesehen, schreibt der Apostel: „Wenn geoffenbart wird Jesus Christus, welchen ihr nicht gesehen, und doch lieb habt, und nun an ihn glaubt, wiewohl ihr ihn nicht seht, so werdet ihr euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude.“ Da seht ihr's, wie in jener Sehnsucht die Flammen aller Christenherzen sich vereinigt haben.

Und zwar sollen sie ihn sehen, wie er ist. Als sie ihn hier auf Erden sahen, da hat ihr Herz schon gebrannt, und doch hatten sie ihn noch nicht gesehen, wie er ist. Schon hier hatten sie, wie Johannes sagt, in ihm geschaut eine Herrlichkeit „als die eines eingebornen Gottessohnes,“ und doch stand damals die Sonne noch hinter den Wolken, es waren nur einzelne Strahlen, welche durch das Gewölk hindurchbrachen. Er selbst war noch nicht verherrlicht beim Vater, und auf sie war noch nicht ausgegossen der Geist vom Vater. Beim Wiedersehen wird das alles anders sein. Ihr begreift also die Sehnsucht nach dem Freund, der zum Vater gegangen war, um die Herrlichkeit zu nehmen, die er von Anfang der Welt an hatte, wohl bemerkt ihr aber auch dies, dass ihr hier mehr habt, als die bloße Empfindung für ein menschliches auf eine Zeitlang getrenntes Freundesband? Es ist nicht jene Sehnsucht einer freundschaftlichen Empfindsamkeit, die ihr hier erblickt, wie sie leicht entsteht, und auch leicht in Bezug auf die Person unseres Herrn geweckt werden mag. Selbst in der zarten Seele des Jüngers, den der Herr lieb hatte, und der in seinem Schoß gelegen, ist diese Sehnsucht mit stärkeren, heiligeren Empfindungen verwoben und verschlungen. „Wenn es aber erscheinen wird, sagt er, so werden wir ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Seht, welch' eine männliche Sehnsucht, welch' ein männliches Verlangen, dass, wenn sie ihn wiedersehen werden, wie er ist, sie ihm gleich sein werden ohne Irrtum und ohne Sünde!

Dies, dies ist es, wonach die Seele jener Christen verlangt, was vorzugsweise die Seele desjenigen Jüngers erhebt, der noch mehr als die andern alle durch die Bande persönlicher Freundschaft mit seinem Heiland verbunden gewesen war. Ihr seht, wie wenig das Bild, das sie euch vom Jünger, den der Herr lieb hatte, entwerfen, als einer bloß empfindsamen Seele, der Wahrheit entspricht! - Er ist jetzt aufs Neue geboren, und er wurde es ja schon in früher Zeit seiner Jugend, aber selbst der hundertjährige Jünger ist dahin noch nicht gekommen, dass er mit seinem Meister sagen könnte: „Wer mag mich einer Sünde zeihen.“ Denkt euch, der liebe, innige Johannes, der da rufen konnte: „und seine Gebote sind nicht schwer,“ selbst dieser muss sich einschließen mit der ganzen christlichen Gemeinde in das Bekenntnis;: „So wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“ O wie mag ihm das schmerzlich gewesen sein! O wie mag diese Seele, deren ganzes Leben Ein göttlicher Hauch war, danach verlangt haben, dass doch bald gar nichts mehr in ihm erfunden würde, worin sein Bild noch von dem Bild seines himmlischen Freundes verschieden wäre. Aber - er wird ihn sehen - mit neuen verklärten Sinnen, wird ihn sehen, wie er ist, und da nur das Verwandte das Verwandte sehen kann, so wird er dann ihm gleich sein!

O ihr, die ihr auf Christi Namen die Taufe empfangen habt, wer von euch kennt das Seligsein in solcher Hoffnung? Lasst auch euch fragen, erstens: „Seid ihr schon jetzt selig auf Erden, weil ihr wisst, dass ihr Gottes Kinder seid?“ Lasst auch euch fragen zweitens: „Blickt ihr auf die letzte Stunde hin mit Hoffnung nach größerer Seligkeit?“ Lasst mich aber endlich die Frage euch vorlegen: „Was ist der Mittelpunkt der Freude, die beim Hinausblick auf die Ewigkeit euch ergreift?“ O ich muss beklagen, dass eure eigenen Lehrer euch oftmals in dem Stück irre leiten. Wenn der Geistliche zu dem letzten Krankenlager hinzutritt und trösten soll, wonach greift er dann in der Stunde der Not? Ach ist's nicht so häufig bloß dies, dass ihr eure Lieben wiedersehen sollt? Wunderbar - an keiner einzigen Stelle spricht die heilige Schrift von diesem Trost. Nicht, als ob ich dadurch jene Hoffnung euch zweifelhaft machen wollte, aber nur das will ich sagen: Der Mittelpunkt christlicher Sehnsucht und Hoffnung kann das nicht sein beim Sterben. Dass wir Ihn - dass wir Ihn wiedersehen werden, den wir lieb haben, ob wir ihn wohl nie mit sterblichem Auge sahen, das, das gibt aller christlichen Hoffnung auf dem Totenbett ihre leuchtende Flamme. Und wiederum, auch diese Sehnsucht nach ihm, worin hat sie bei euch ihren Grund? Quillt sie aus einem schwächlichen Gefühl, oder aus jenem männlich starken, dass ihn sehen und ihm gleich sein, frei sein von Sünde und Irrtum, ein und dasselbige ist? O Christen, reinigt euren Glauben, stählt eure Hoffnung an dem Glauben und der Hoffnung des Jüngers, den ihr nur zu oft bloß als den Prediger einer schwächlichen, kränklichen Liebe betrachtet!

Wer solche Hoffnung hat - so schließt der Jünger - nun, was erwartet ihr? - wer die Hoffnung hat, dass er einst doch ihm gleich werde, wenn er ihn sehen wird, wie er ist, der ruht vom Werke der Heiligung? O ihr habt noch nicht verstanden, was Christen-Hoffnung ist! „Wer solche Hoffnung hat, sagt Johannes, der - reinigt sich, gleich wie Er rein ist.“ Heiligung, Reinigung, das ist ein Wort, welches durch alle Schriften unseres Neuen Bundes hindurchgeht. Tritt es bei Paulus uns entgegen wie ein Schlachtruf, der rüstige Kämpfer weckt, so tönt es aus Johannes uns entgegen wie ein Ruf des Verlangens, den der Liebende ruft, wenn er das Antlitz des Geliebten nicht rein und ungetrübt schauen kann. Stark, stark ist aber auch bei ihm dieser Ruf. Vernehmt ihr gleich am Anfang dieses seines Schreibens das strenge Wort: „Gott ist ein Licht, und in ihm ist keine Finsternis. So wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in Finsternis, so lügen wir, und tun nicht die Wahrheit.“ Seht, wie seiner Gottesliebe nichts Sinnliches, nichts Irdisches beigemischt ist. Seine Gottesliebe ist eine Lichtliebe; und so denn auch hier seine Liebe zum Heiland. Er liebt ihn, weil er der allein Reine und Fleckenlose ist, und da er die große Hoffnung hat, dass er den einst schauen soll, da will er sich reinigen, damit er seinem Antlitz begegnen könne.

Noch eine neue und große Wahrheit stellen uns also diese Worte in's Licht. Jene Ähnlichkeit, jene Freiheit von Sünde und Irrtum, nach welcher die fromme Seele sehnsuchtsvoll ausblickt - sie wird nicht ohne dein eigenes Wollen dir zu Teil. Wirst du es gewahr, dass sie dich träg macht, jene große Hoffnung der Christen, o glaube mir, so hast du ihr wahres Wesen noch nicht verstanden. In dir selbst musst du den Durst danach empfinden, mit heiliger Liebe musst du fragen und prüfen: Was ist denn noch unrein und finster an mir? Fortwährend in allen Beziehungen deines Lebens musst du heraustreten aus der Finsternis in den hellen Sonnenschein, der dir zuerst zwar deine Flecken zeigt, aber dann auch, wenn du nur willst, dich selber licht und rein macht. Zu euch namentlich wende ich mich, die ihr den Herrn kennt, die ihr den Herrn liebt, die ihr selig seid in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn und in der Gemeinschaft mit einander. Beherzigt ihr es wohl, dass Gott Licht ist, und wer Gemeinschaft hat mit ihm, und die in ihm Gemeinschaft haben mit einander, die sollen Licht sein, und Finsternis soll nicht in ihnen sein? O du heiliges, hohes Leben im Licht! - Brüder, seid ihr sorglich darauf bedacht, euch recht genau zu beschauen alle Tage, was und wie viel von euch noch nicht vom Lichte verklärt ist? Johannes fordert euch auf: „Habt ihr wirklich solche Hoffnung, spricht er zu euch, nun so reinigt euch selbst, gleichwie er rein ist.“ Christen, wir dürfen in keinem Augenblick uns gehen lassen, und uns selbst vergessen. Durch unser Wollen und Verlangen allein kommt unser Heil nicht, aber es kommt auch nicht ohne dasselbe, darum noch ein Mal: „Wer solche Hoffnung, hat, der reinigt sich, gleich wie Er rein ist!“ -

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