Stockmayer, Otto - Krankheit und Evangelium - 8. Krankheit und Tod.
Die Zusammengehörigkeit der Glieder. des Leibes Christi ist besonders augenfällig, wenn wir uns fragen, wie sich der Christ dem Tod gegenüber zu stellen hat; es wird dabei sofort klar werden, dass, wo es sich darum handelt, sich im Glauben die ganze Fülle dessen, was geschrieben ist, anzueignen, dies nicht mehr nur Sache unserer persönlichen Verantwortlichkeit ist. Es gibt Früchte des Todesleidens Christi, die nur die Gemeinde in ihrer Gesamtheit, die nur der Leib Christi sich anzueignen vermag, und dazu gehört der Sieg über den Tod.
Die Frage der Krankheit führt notwendig auf die des Todes. Zwar ist unleugbar von der Krankheit zum Tod noch ein bedeutender Schritt; und wir finden im Leben des HErrn sowohl, als im Leben der Apostel im Vergleich zu den Krankenheilungen sehr wenige Totenerweckungen. Zu wiederholten Malen und noch bei seinem Scheiden von der Erde gibt der HErr den Seinen Macht, Kranke zu heilen und Teufel auszutreiben; nur ein einziges Mal gibt Er ihnen Macht, die Toten aufzuwecken (Matth. 10,8). Nicht umsonst sagt die Schrift: „Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod“ (1 Kor. 15,26). Auf der andern Seite aber kann man nicht leugnen, dass Christus nicht nur die Krankheit, sondern auch den Tod überwunden hat; und so dürfen wir hoffen, dass, wenn die Gemeinde den Sieg Christi über die Krankheit erst wieder in Glauben erfasst und in ihrer Erfahrung gefeiert hat, sie an der Hand der Schrift, an der Hand des Gekreuzigten und Auferstandenen unmittelbar zur Feier von dessen Sieg über den Tod vorschreiten wird. Wie Jesus sagen konnte: „Ich habe die Welt überwunden“ (Joh. 16,33), und wie auf Grund hiervon „unser Glaube der Sieg ist, der die Welt überwunden hat“ (1 Joh. 5,4), gerade so hat Christus den Tod überwunden (2 Tim. 1,10. Joh. 11,25.26), und ist unser Glaube der Sieg, der den Tod zu überwinden hat. Überall kommt es unserem Glauben zu, Christi Sieg zu offenbaren und in die Erfahrung umzusetzen. - Warum sonst wäre im 11. Kapitel des Ebräerbriefes neben vielen anderen Zeugen auch Henoch unserem Glauben als Vorbild und, was er erlangt, unserem Glauben als Ziel und Gegenstand vorgesetzt worden?
Nur einen Vorbehalt glauben wir machen zu dürfen. Wenn im alten Bund einzelne Knechte Gottes, wenigstens zwei, entrückt worden sind, so mag dies damit zusammenhängen, dass der alte Bund noch keine so enge Zusammengehörigkeit der Gläubigen kennt, wie die, welche die Glieder des Leibes Christi mit einander verbindet. Kein Christ wird wohl einzeln zur Verklärung ohne Tod gelangen. Wir nehmen an, dass dies Vorrecht der Brautgemeinde als solcher vorbehalten bleibt für den Tag, wo sie in Eines zusammengeschlossen und zum vollen Mannesalter herangereift bereit sein wird, von ihrem königlichen Bräutigam heimgeholt zu werden (1 Kor. 15,51.52. 1 Thess. 4,15-17).
Damit bleibt aber die Entrückung um nichts weniger ein unserem Glauben vorgestecktes Ziel, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen. Erwarten nicht nur, sondern auch beschleunigen1) (2 Petr. 3,12) sollen wir die Zukunft (das Kommen) des Tages des HErrn und damit den Tag unserer Entrückung. Wir tun dies durch gläubiges, anhaltendes Gebet, indem wir immer brünstiger rufen: „Homm, Herr Jesu!“ Wir tuns, indem wir in der fortwährenden Erwartung unserer Heimholung, den Dingen dieser Welt fremd bleiben und sie nur berühren, soweit wir Gott damit dienen und seinen Namen verherrlichen können.
Es war gewiss ein schwerer Fall, eine in ihre ganze fernere Entwicklung tief eingreifende Untreue, wenn mit den ersten Todesfällen von Christen und später mit dem Hinscheiden der ersten Geschlechter von Gläubigen die Gemeinde Christi die Hoffnung ihrer ersten Liebe, die bestimmte Erwartung, ohne leiblichen Tod dem HErrn entgegengerückt zu werden, mehr und mehr aufgab und schließlich auf den Punkt kam, wo man darauf rechnete, sterben zu müssen, wo man den Tod als etwas Selbstverständliches ansah, als eine von Gott gewollte Ordnung; in die man sich ohne alle Einsprache einfach zu fügen habe. Wohl ist es etwas unaussprechlich Großes, von aller und jeder Todesfurcht für immer befreit zu sein (Ebr. 2,15), und wo ein Kind Gottes es einmal vom HErrn bekommen hat, dass es für sich persönlich auf Verwandlung des Leibes verzichten und sich nach der ersten Auferstehung ausstrecken muss (Phil. 3,11), da wird auch der Tod zum Gewinn (Phil. 1,21), als der allein übrig bleibende Weg zur Heimat. Der Tod wird dann für ein Kind Gottes die entscheidende und feierliche Gelegenheit, Jesu Christi Triumph über Tod und Teufel wenigstens in dem Sinne zu offenbaren, dass wir durch seinen Tod von aller und jeder Todesfurcht befreit sind (Ebr. 2,14.15); es ist ein Augenblick, in dem der Jünger seinen HErrn in einer ganz besonderen Weise preisen und verherrlichen kann (Phil. 1,20. Röm. 14,7.8. Ebr. 13,7. rc.). Wer aber nun deshalb den Tod „Freund“ nennt, der verlässt den Boden der Heiligen Schrift; er denkt nicht mehr, wie Gott denkt. Der Tod ist und bleibt ein Feind (1 Kor. 15,26), ein Feind, den Christus überwunden hat und den die Gemeinde Christi somit verantwortlich ist, im Glauben zu überwinden. Es ist ein Feind, gegen dessen Eingreifen und Umsichgreifen wir uns so lange als möglich zu wehren haben, gewiss, dass, wo wir es um des HErrn willen, auf dem Boden der Heiligen Schrift und unter der Leitung des Heiligen Geistes tun, wir den HErrn auf unserer Seite haben. Und sollte uns, auf einem gewissen Punkt angekommen, der HErr Einhalt gebieten müssen; sollte es sich finden, dass weder wir, noch unsere Brüder reif und fähig sind, den Kampf gegen diesen Feind völlig durchzuführen; sollte uns der HErr seiner Zeit zu erkennen geben müssen, dass wir uns dem Gang durch den leiblichen Tod zu unterziehen haben, so wird uns der HErr alsdann bei unserem Rückzug, wie im Kampf zur Seite stehen. Sein Geist kann uns mit der Versicherung trösten, dass wir durch unsern Widerstand gegen Krankheit und Tod in unserem geringen Teil die Stunde eines großen Siegs für die Sache des HErrn angebahnt und näher gerückt haben, die Stunde, so wenigstens in der Person der Erstlinge des neuen Bundes Leben und unvergängliches Wesen ins volle Licht gebracht werden und an ihnen wenigstens das Wort, das geschrieben steht: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“ (1 Kor. 15,54), sich in seiner ganzen Tragweite erfüllen wird.
Und sollte ein Geschlecht von Gläubigen nach dem andern den Kampfplatz mit nicht erfüllter Erwartung verlassen müssen, wenn nur das kommende Geschlecht den heiligen Kampf mit neuer Freudigkeit und Festigkeit aufnimmt, wenn nur immer mächtiger, Alles übertönend, durch alle Teile des Erbes Christi der Ruf geht: „Komm, Herr Jesu,“ so dürfen wir gewiss sein, Er kommt. Schon antwortet er immer spürbarer und unmittelbarer, indem Er neues Licht ausgießt über seine Gemeinde, indem Er sie mit ihren Anschauungen und Hoffnungen wieder auf den Boden der Schrift stellt und sie göttlich denken lehrt.
Wo aber neues Licht, da sind auch neue Überwindungskräfte und immer rascheres Vordringen zu endlichem, völligem Sieg.
Wie nun die der Gemeinde gestellte Aufgabe, den Tod zu überwinden und Christi Kommen zu beschleunigen, mit der Wahrheit vereinbar ist, dass Gott der Vater sich in Allem Zeit und Stunde vorbehalten hat (Apg. 1,7. 1 Tim. 6,15), darüber steht uns kein Wort zu. Es bleibt ein heiliges Geheimnis, in dessen Tiefen der HErr wohl seine Kinder da und dort einen seligen Blick tun lässt, in dem Maß, als sie seinem Herzen näher treten und Er sie als Freunde behandeln kann, dessen völliger Aufschluss aber auf das Licht der Ewigkeit wartet. Dass aber in Wirklichkeit Gottes freie, unbeschränkte Selbstbestimmung menschliche Verantwortung nicht ausschließt, ist Tatsache. Die Erfahrung lehrt ferner: je mehr wir unsere Verantwortung erkennen und derselben gerecht werden, desto mehr öffnet sich unser ganzes Wesen für das Bewusstsein von Gottes Größe und Majestät, desto kleiner und unbedeutender werden wir zugleich in unsern eignen Augen. Das Gefühl unserer Verantwortung wirft in den Staub; es führt nicht zur Selbstüberhebung, sondern zur Anbetung.