Murray, Andrew - Die Schule des Gebets - Zweiundzwanzigste Lektion.

„Ich weiß, dass Du mich allezeit hörst,“ oder das Gebet im Wesen der Gottheit begründet.

Im Neuen Testament wird ein Unterschied gemacht zwischen Glauben und Erkenntnis. Diesem wird durch „den Geist gegeben das Wort der Weisheit, einem Andern das Wort der Erkenntnis durch denselben Geist, einem Andern der Glaube durch denselben Geist.“ Es kann bei einem einfältigen Christen sich ein kräftiger Glaube finden ohne viel Erkenntnis. Die kindliche Einfalt nimmt die Verheißung sonder Zweifel an, sie verlangt nicht, noch gibt sie Rechenschaft von den Gründen, auf denen ihr Glaube ruht; „Gott hat's gesagt,“ das genügt ihm. Aber es ist auch des HErrn Wille, dass wir Ihn nicht nur von ganzem Herzen, sondern auch von allen Kräften lieben sollten, also auch mit dem Verstand Ihn erfassen, und zu einer Einsicht in die göttliche Weisheit Seiner Wege und Verordnungen heranwachsen sollten. So erst wird der Gläubige zubereitet, die Gnade Gottes in voller Würdigung und Bewunderung anzunehmen und zu gebrauchen. So erst wird uns die volle Herrlichkeit der Erlösung aufgehen, und unser Herz wird geschickt werden, in den Ton des Lobgesanges einzustimmen: „welche Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes.“

Im Gebetsleben ist diese Wahrheit von ausgedehnter Anwendung. Obwohl der Glaube im Gebet etwas so einfaches ist, dass auch der junge Neubekehrte kräftig bitten kann, findet die christliche Erkenntnis in der Gebetslehre die tiefsten Fragen vor.

Wie Gott dem Gebet solche Macht verleihen kann, wie die Wirkung des Gebets sich mit dem Willen und den Beschlüssen Gottes vereinigt, wie Gottes Allmacht und unsere Freiheit in einander greifen, - über diese und andere Fragen hat die christliche Erkenntnis viel nachzudenken; je tiefer sie in diese Geheimnisse eindringt, desto mehr wird sie bewundernd Den anbeten, der dem Menschen einen so hohen Platz und eine so wunderbare Macht gegeben hat.

Eine der verborgensten Schwierigkeiten hinsichtlich des Gebets, die häufig nicht ausgesprochen wird und doch in der Tat das Gebet verhindert, entspringt der Vollkommenheit Gottes, und Seiner vollen Unabhängigkeit von Allem, was außer Ihm ist. Hat ER doch Alles, was ER ist, nur Sich selbst zu danken, beschränkt ER Sich doch nur selbst, und kann durch nichts und durch Niemand beschränkt werden. Wie kann da das Gebet einen Einfluss auf Ihn ausüben, oder wie ist's möglich, dass ER durch das Gebet bewegt werde, zu tun, was ER sonst nicht getan haben würde? Ist nicht etwa die Verheißung der Erhörung des Gebets, Seinerseits nur eine freundliche Herablassung zu unserer Schwachheit? Und muss der Ausspruch: „dass das Gebet viel vermag“, nicht als eine menschliche Vorstellung angesehen werden, weil ja doch die Gottheit in ihren Taten vor keiner äußerlichen Einwirkung abhängig sein kann? Zur Antwort auf solche Fragen finden wir den Schlüssel in dem Geheimnis der Dreieinigkeit. Wäre Gott nur eine einzige, in Sich selbst abgeschlossene Person, so könnte von einer Einwirkung von außen nicht die Rede sein. Aber in Gott sind drei Personen. In Ihm ist Vater und Sohn, die in dem Geist das Band ihrer Einheit haben. Damit, dass Gott ausging von Sich selbst, und Sich der Sohn als zweite Person gegenüber stellte, ward der Weg zum Gebet in der Gottheit eröffnet. So wie auf Erden, so ist auch in dem Himmel die ganze Beziehung zwischen Vater und Sohn ein Geben und ein Nehmen. Und soll das Nehmen so freiwillig und so selbstständig sein als das Geben, so muss vonseiten des Sohnes ein Begehren und ein Empfangen stattfinden. Im heiligen Verkehr des göttlichen Wesens war dieses Verlangen des Sohnes Eine der Wirkungen des seligen Gotteslebens. Darum steht im 2. Psalm: „Heische von Mir, Ich will Dir geben.“ Gott hat dem Sohne die Stellung und die Macht gegeben, auf Ihn, den Vater, einzuwirken. Von dieser Wirksamkeit ist das Gebet auf Erden ein Ausfluss und eine Abspiegelung. Das Heischen des Sohnes und das Geben des Vaters ist kein Spiel, keine bloße Darstellung, sondern eine wesentliche Lebensbewegung, in der die Liebe zwischen Vater und Sohn sich wirksam bezeigt. In diesem Sinne sprach Jesus zu dem Vater: „Ich weiß, dass Du Mich allezeit hörst.“ So wie die Sohnschaft Jesu auf Erden nicht zu scheiden ist von Seiner Sohnschaft im Himmel, so ist auch Sein Gebet nichts anderes, als die irdische Abspiegelung Seines Verkehrs mit Seinem Vater im Himmel. Das Gebet hat seinen tiefsten Grund im Wesen der Gottheit.

Ist dies so, dann können wir auch besser verstehen, wie das Gebet des Menschen, das ja nur durch den Sohn zum Vater kommt, auf Gott eine Wirkung ausüben kann. Der HErr Jesus ist der Erstgeborene, das Haupt und der Erbe aller Dinge; alle Dinge sind durch Ihn und zu Ihm geschaffen und bestehen durch Ihn. Im ewigen Rat des Vaters hat der Sohn als Vertreter aller geschaffenen Dinge stets eine Stimme; in den Bestimmungen dieses Rats wird allezeit Raum gelassen für die Freiheit des Sohnes als Mittler und Fürbitter, und für die Freiheit eines jeden Beters, der sich im Sohne dem Vater naht.

Wenn es uns scheinen will, als ob diese Freiheit und Macht des Sohnes, auf den Vater einzuwirken, in Widerstreit sei mit der Festigkeit der ewigen Ratschlüsse, so dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht bei Gott ist wie bei den Menschen, so dass ER durch einen Vorgang unwiderruflich gebunden wäre. Nein, Gott lebt nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit. Da ist ein ewig gegenwärtiges „Heute“, in welchem das Vergangene nicht vorbei ist, und die Zukunft nicht entfernt. Was wir Zukunft nennen, ist ewig gegenwärtig, so wie auch das, was wir Vergangenheit heißen; die Ewigkeit fasst den Anfang und die Mitte und das Ende in Eines zusammen. In einer Weise, die über unsere Fassungskraft geht, ist die Unveränderlichkeit des Rates Gottes mit Seiner Freiheit in voller Übereinstimmung, so dass ER allezeit tun kann, was ER will. Es handelt sich also bei der Annahme der Gebete von Seiten Gottes nicht um eine Scheinwirkung auf denselben, sondern das Vaterherz Gottes erhält sich offen für jedes Gebet, das im Namen Seines Sohnes zu Ihm kommt, und ER lässt Sich wirklich durch dasselbe bestimmen, zu tun, was ER sonst nicht getan haben würde. Diese Vereinigung der göttlichen, freien Macht und der menschlichen Freiheit ist ein Rätsel, das wir nicht ergründen, weil Gott als der Ewige in Seinen Gedanken höher geht, als menschliche Gedanken reichen können. Aber es ist für uns stärkend und tröstlich, zu wissen, dass im Verkehr des Vaters mit dem Sohn das Gebet Sein ewiges Vorbild hat, und dass durch unsere Vereinigung mit dem Sohn unser Gebet in die Lebensbewegung der Dreieinigkeit aufgenommen wird und Geltung hat. Gott ist in Seinen Beschlüssen nicht eisern abgeschlossen, sondern ER ist die lebendige Liebe, die durch den Sohn als Mensch in der zartesten Beziehung zu dem Menschen steht, die das Menschliche durch die Gemeinschaft des Heiligen Geistes in das Leben der Gottheit aufgenommen hat, und durch welche auch das menschliche Gebet in der göttlichen Weltregierung Geltung erhält.

In dem Licht solcher Gottesgedanken wird uns die Lehre von der Dreieinigkeit eine wesentliche Anweisung von dem Weg, auf welchem es dem Menschen möglich gemacht ist, in die Gemeinschaft Gottes aufgenommen zu werden. Und wir können, gleich einem Licht, das man von weitem steht, etwas davon begreifen, was in der Ewigkeit für eine Leuchte über uns aufgehen wird, die jetzt in Worten der Schrift verborgen ist, z. B. in Ephes. 2,18: „Durch Christus Jesus haben wir den Zugang in einem Geist zum Vater.“

HErr, lehre uns beten.

Ewiger, dreieiniger und dreimal heiliger Gott! In tiefer Demut will ich auf mein Angesicht fallen vor dem heiligen Geheimnis Deines göttlichen Wesens. Und wenn Du, HErr, mein Gott, dieses Geheimnis nun entschleierst, so will ich mein Angesicht mit Ehrerbietung und Furcht bedecken, damit ich gegen Dich nicht sündige, wenn ich Deine Herrlichkeit betrachte. Vater! ich danke Dir, dass Du diesen Namen nicht nur gegenüber Deinen Kindern auf Erden trägst, sondern von Ewigkeit her als Vater Deines eingebornen Sohnes. Ich danke Dir, dass Du als Vater nicht allein unsere Gebete erhörst, sondern dass Du von Ewigkeit auf das Wort Deines Sohnes gehört und auf Sein Begehren gemerkt hast. Ich danke Dir, dass wir von Ihm auf Erden gelernt haben, welchen wundervollen Umgang ER mit Dir im Himmel hat, und wie von aller Ewigkeit her in Deinem Rat und bei Deinen Beschlüssen Raum war für Seine Bitte und deren Erhörung. Und ich danke Dir über Alles für das Wunder der Gnade, dass durch Seine wahrhaftige Menschheit auf Deinem Thron, und durch Deinen Heiligen Geist in der Menschheit hienieden eine Bahn gebrochen ist für jedes menschliche Bedürfnis, dass es etwas vor Dir gelte und erfüllt werde.

O mein Vater! Der Du in Deinem Sohn den Weg des Gebets geöffnet und die Erhörung uns zugesichert hast, mache Deine Kinder auf Erden zu rechten gläubigen Betern. Lass es alle Tage für uns das Zeichen unserer Kindschaft sein, dass, so wir in Jesu bitten, wir empfangen, was wir begehren. Amen.

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