Körber, Emil - Die Reise nach Jerusalem.

Körber, Emil - Die Reise nach Jerusalem.

(10. März 1872.)

Text: Luk. 18,31-43.
Er nahm aber zu sich die Zwölfe, und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet, und geschmäht, und verspien werden; und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er wieder auferstehen. Sie aber vernahmen der keins, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das gesagt war. Es geschah aber, da er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber hörte das Volk, das durchhin ging, forschte er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Und er rief und sprach: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vorne an gingen, bedrohten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber stand stille, und hieß ihn zu sich führen. Da sie ihn aber nahe bei ihm brachten, fragte er ihn, und sprach: Was willst du, dass ich dir tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen möge. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend; dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend, und folgte ihm nach, und pries Gott. Und alles Volk, das solches sah, lobte Gott.

Zu unserm heutigen Evangelium, Geliebte, sehen wir den Heiland auf einer Reise in Begleitung seiner Jünger, der Zwölfe. Es ist aber keine Lust- und Vergnügungsreise die unser Herr nach dem heutigen Texte unternimmt. Solches wurde dem Heiland in seinem ganzen Erdenlauf nie zu Teil, denn für des Himmels Lust hat er der Erde Leid eingetauscht, damit unser Leid in Freude verwandelt werde, damit wir in unserer Traurigkeit still und getrost, ja vergnügt sein könnten. Seine Wege waren saure Wege, seine Pfade steil und dornenvoll - o dank ihm ewiglich, mein Herz mit Freuden! - ja, sein Lauf durch diese Welt war ein Lauf voll Mühe und Arbeit, Not und Kreuz; denn er ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, und das ist wahrlich ein schweres Werk. Aber die heutige Reise des Herrn ist auch keine gewöhnliche Predigt- und Amtsreise, da er umherzog im ganzen Lande, segnend und heilend, als Lehrer und Arzt seines Volkes, und in die Hütten und Herzen das Himmelsbrot des göttlichen Wortes brachte und alle Leiblichkranken und Siechen gesund machte. Nein, die Reise, von der wir heute lesen im Evangelium, ist der Leidens- und Todesgang unseres Herrn. Jesus zieht hinauf nach Jerusalem, um zu leiden und zu sterben als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt; das Ziel des Weges ist Gethsemane und Golgatha; dort soll durch das blutige Opfer des Heilands die Erlösung und Versöhnung der ganzen Welt zu Stande gebracht werden. O meine Freunde, auf diesem Leidens- und Todesweg wollen wir den Heiland begleiten, und keinen Schritt von ihm weichen! Fürwahr, Jesus hat es mit seiner Liebe bis in den Tod verdient, dass wir ihm nachfolgen, und unverwandt das Auge auf ihn heften. Hätte unser Herr diesen Weg nach Jerusalem nicht. angetreten, wir wären die Elendesten unter allen Geschöpfen. Unterwegs führt der Heiland ein gar merkwürdiges Gespräch mit seinen Jüngern, indem er mit ihnen von seinem Leiden und Sterben und Auferstehen redet. Sie aber vernahmen der Keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das gesagt war. Die Jünger hatten über die Rede ihres Meisters gar betrübte Gedanken. Inzwischen kamen sie nach Jericho. Da saß ein Blinder am Wege und bettelte. Auf das glaubensvolle Rufen und Schreien dieses armen Mannesstand Jesus still und heilte ihn: Sei sehend! Dein Glaube hat. dir geholfen. Und alsobald ward er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Hier lasst uns stille stehen, und noch länger verweilen, indem wir ins Auge fassen: Die Reise des Heilandes nach Jerusalem.

Wir betrachten

  1. das Reisegespräch,
  2. die Reisegedanken,
  3. das Reisewerk.

Du aber, o Heiland, der du uns bis in den Tod geliebt hast, schenke uns zur Betrachtung deines teuren Evangeliums die Salbung des heiligen Geistes. Öffne uns besonders das Verständnis deines Leidens und Sterbens, mache uns einfältigen Herzens, schenke uns kindlichen Glauben. O gib uns die Gnade, dass wir die Torheit des Kreuzes höher achten, denn aller Menschen Weisheit. Vor Allem aber bitten wir dich: bekehre unsere Herzen, und mache uns ganz zu deinen Kindern! Amen.

1.

Wir sehen den Heiland hinauf nach Jerusalem gehen. Unterwegs führt er mit seinen Jüngern ein gar merkwürdiges Gespräch, und redet mit ihnen von seinem Leiden und Sterben. Vom Tode reden, ans Sterben, an Grab und Verwesung gemahnt und erinnert werden, das ist uns Menschen gar nicht lieb, am wenigsten, wenn es sich ums eigene Sterben handelt. Schon die Vorstellung des Todes macht viele Leute zittern und beben, sie erschrecken davor und schlagen sich am liebsten alle derartigen Gedanken aus dem Sinn. Ganz anders steht unser Herr und Heiland vor uns. Ihm ist das Leiden und Sterben das Lieblingsthema seiner Unterhaltungen und Gespräche mit seinen Jüngern. Und so groß auch ihre Abneigung dagegen ist, so lange sie noch nicht den Pfingstgeist im Herzen trugen, so fängt doch der Herr immer und immer wieder an, ihnen seinen Tod zu verkündigen. So bildet auch heute wieder das Sterben das Thema des Reisegesprächs: „Seht, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den. Heiden, und wird verspottet und geschmäht und verspien werden, und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen.“ O wie klar und deutlich steht vor der Seele Jesu Christi sein ganzer Leidens- und Todesweg! Er hört schon im Geiste die Lästerworte und Schmähreden, den Spott und Hohn, er sieht schon im Geiste, wie er mit Fäusten geschlagen und sein heiliges Antlitz verspien wird; er schaut schon den Schandpfahl der Geißelung auf Gabbatha und das Fluchholz des Kreuzes auf Golgatha. Also haben es bereits die Propheten geweissagt, welche von den Leiden, die in Christo sind, und der Herrlichkeit danach redeten; also hat es der Herr selbst vorhergesehen und voraus verkündet; und also ist Alles vollendet worden, und hat sich erfüllt bis ins Kleinste. Gelobt sei Gott.

Aber warum redet der Heiland so gern von seinem Tode, wie wir auch heute im Evangelium sehen? Es ist doch ein düsterer und trauriger Gegenstand. O meine Lieben, das Leiden und Sterben unseres Heilandes ist die Sühnung für der ganzen Welt Sünde, die Sündenschuld aller Zeiten und Menschen ist dadurch getilgt, die Missetat ist versöhnt und die ewige Gerechtigkeit gebracht; das Gotteslamm, es wollte sterben, uns Heil und Leben zu erwerben. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Seht, das ist das herrliche und selige Ziel des Todes unseres Heilands. Sein Leiden ist ein stellvertretendes, sühnendes und versöhnendes Leiden.

Wunder ohne Maßen,
Wenn man's betrachtet recht:
Es hat sich martern lassen
Der Herr für seinen Knecht, Es hat sich selbst mein Herr und Gott
Für mich verlornen Menschen
Gegeben in den Tod.

Was kann mir denn nun schaden.
Der Sünden große Zahl,
Ich bin bei Gott in Gnaden,
Die Schuld ist allzumal
Getilgt durch Christi teures Blut,
Dass ich nicht mehr darf fürchten
Der Hölle Qual und Glut!

Ja, das ist die ewige Bedeutung der Leiden Jesu Christi, das ist die selige und herrliche Frucht seines Sterbens, das ist das große in alle Ewigkeit nie genug zu preisende Resultat der Erniedrigung, Schmach und Verachtung, der Geißelung, Dornenkrönung und Kreuzigung: das Heil und die Erlösung der ganzen Sünderwelt! Nun dürfen die Boten und Diener des Herrn durch alle Lande ziehen und allem Volke verkündigen Vergebung der Sünden im Blute des Lammes, im Glauben an den Sohn Gottes, der gelitten hat, gekreuzigt und gestorben ist; nun dürfen die Prediger des Evangeliums alle Seelen rufen und locken zum Quell der Gnade, zum Gesundbrunnen der ganzen Menschheit, da Lebenswasser frisch und kräftig sprudelt, da Heil und Seligkeit zu schöpfen ist. O süßes Evangelium! O teure Botschaft! o seliges Gotteswort von Jesu Christo, der gekommen ist, Sünder, arme, fluchbeladene, verdammte Sünder selig zu machen. Habt ihrs vernommen, ihr lieben Seelen, die liebliche Botschaft? Ist sie euch ins Herz gedrungen? Ach wenn eine Seele in dieser Versammlung ist mühselig und beladen, bekümmert und leidtragend, angefochten, ob auch sie möge Vergebung der Sünden empfangen, ob auch sie des Heils in Christo sich getrösten dürfe: Höre, liebe Seele, dir gerade gilt das Wort vom Kreuze, vom Leiden und Sterben des Heilands; für dich ist die ganze Predigt, eigne sie dir an im Glauben! Für dich hat Jesus das köstliche Reisegespräch von seinem Leiden und Tode mit seinen Jüngern geführt, damit du daraus schöpfen mögest den Glauben und die Gewissheit der Vergebung der Sünden. Glaube nur, zweifle nicht! O bußfertige, leidtragende, bekümmerte Seele!

Freue dich von Herzen
Über deines Jesu Schmerzen;
Lass bei seinem Blutvergießen
Stille Dankestränen fließen.
Er hat sich für dich gegeben,
Such in seinem Tod das Leben.
Nur von seinem Kreuze quillt,
Was dein Herz auf ewig stillet.

Die Sünden sind vergeben; die Missetat ist versöhnt; alle Schulden sind bezahlt! Gelobt sei Gott!

O möchte dieses Reisegespräch des Heilands sich unseren Herzen unauslöschlich einprägen, uns unvergesslich sein! Da ist Balsam für das müde Herz zu finden, ein Meer von Seligkeit. Machet euch doch recht vertraut mit dem Leiden und Sterben unseres hochgelobten Herrn Jesu Christi! Es ist nicht bloß eine reiche Quelle des Trostes, aus der Vergebung der Sünden fließt für Alle, die da glauben; sondern aus der Betrachtung der Leiden unseres Herrn kannst du die stärkste Kraft schöpfen zur Überwindung der Sünde, zur Heiligung und Reinigung, zu einem gottseligen Leben, zu wahrer Frömmigkeit. Kannst du von dieser oder jener Sünde nicht los werden, sind die Bande der Fleischeslust, des Hochmuts, des Geizes, der Eitelkeit und Kleiderpracht zu stark, dass du sie nicht zerreißen kannst: o so denke an das bittere Leiden deines Herrn! Denke an die Dornenkrone um deines Heilands Haupt, die er getragen hat, um deinen Hochmut zu büßen! denke an die Bande und Fesseln, die er sich anlegen ließ, damit du von den Banden der Sünde frei werdest; denke an die Geißelhiebe, an die Schläge und Martern, an die Wunden und Nägelmale, an die unsäglichen Schmerzen, die ihm durch Leib und Seele gingen, so wirst du einen Ekel empfinden an der schändlichen Lust des Fleisches.

Herr, lass dein bitter Leiden
Mich reizen für und für,
Mit allem Ernst zu meiden
Die sündliche Begier,
Lass mirs nie kommen aus dem Sinn,
Wie viel es dich gekostet,
Dass ich erlöst bin.

Nachdem wir das schöne Reisegespräch unseres Heilands betrachtet haben, richten wir unsere Aufmerksamkeit

II.

auf die Reisegedanken.

Was für Gedanken das Herz Jesu bewegten auf seinem letzten Wege nach Jerusalem, davon ausführlich zu reden, wäre köstlich. Es sind Gedanken der Liebe, mit der er die unglückliche, arme Welt umfasste, der Liebe, die den guten Hirten trieb, dass er sein Leben ließ für die Schafe; es sind Gedanken des Glaubens, der in stiller Ergebung in den Willen des Vaters geduldig ausharrt bis aus Ende und gehorsam ist bis zum Tod; es sind Gedanken der Hoffnung, die gewiss weiß: am dritten Tag werd ich auferstehen. Aber, Geliebte, wir dürfen davon nicht weiter reden; denn unser Text spricht von den Reisegedanken der Jünger, die an das Gespräch Jesu von seinem Leiden und Sterben sich anknüpften; und davon steht also geschrieben: Sie aber vernahmen der keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das gesagt war.“ Das sind freilich betrübte und traurige Gedanken, Gedanken des Unverstands, der geistlichen Blindheit und Leidensscheu. Darüber könnten wir uns billig verwundern. Hat denn der Heiland nicht klar und deutlich geredet? Man sollte meinen, seine Rede sei so verständlich und hell, dass jedes Kind sie begreife, und dass keine besondere Weisheit dazu gehöre, um sie zu verstehen. Und so ist es auch. Jesus redet von Schmach und Spott und Lästerung, von Geißelhieben Kreuz und Tod; das sind keine besonders hohen Begriffe, die über den gewöhnlichen Verstand gehen, das ist Alles leicht einzusehen. Aber doch vernahmen die Jünger nichts davon und die Rede war ihnen verborgen. Woher kam das? Antwort: die Sache selbst gefiel ihnen nicht. Marter und Leiden, Erniedrigung und Schmach, Kreuz und Tod, das waren lauter Dinge, die nicht passten zu dem herrlichen, schönen Messiasbilde, das sie sich gemacht hatten. Darum dachten sie lieber, ihr Meister rede in Bildern und Gleichnissen, und es sei dies Alles nicht eigentlich und wörtlich zu verstehen. Erst nachdem die Sache geschehen war, nachdem Christus sein martervolles Leiden durchgemacht hatte und gestorben war, nachdem der Pfingstgeist ihre Herzen in Besitz genommen hatte und sie die hohe Bedeutung der Leiden ihres Herrn verstanden: da wurden sie fröhliche Zeugen des Todes und der Auferstehung ihres Heilands.

Aber meint ihr, im Herrn Geliebte, dass jene betrübten. und beklagenswerten Reisegedanken der Jünger nur bei ihnen zu suchen und zu finden seien? Mitnichten! Der natürliche, ungebrochene Sinn in den Herzen der Jünger ist zu allen Zeiten derselbe, heute wie damals. Bei vielen Hunderten und Tausenden mitten in der Christenheit, mitten auch in unserer Kirche, in unserem Volk und Land, heißt es in noch ganz anderem und noch viel schlimmerem Sinne: sie vernahmen der Keines und die Rede war ihnen verborgen und wussten nicht, was das gesagt war. Ein leidender Messias, ein sterbender Gottmensch und Heiland, erscheint ihnen als die größte Torheit, und vollends von einem versöhnenden, stellvertretenden Leiden Jesu Christi wollen sie gar nichts wissen, das erscheint ihnen als die Spize aller Abgeschmacktheiten und Torheiten; diese köstliche Lehre, die Trost- und Heilquelle der armen Menschheit, erscheint ihnen als tolle Unvernunft, alter Aberglauben und Wahnwitz, mit dem endlich einmal gründlich aufgeräumt werden müsse. Ja, es sind finstere Abgrundsgeister in die Welt ausgegangen, Feinde des Kreuzes Christi; und das Schlimmste ist, dass sie sich gebärden als die wahren Lichtbringer, Aufklärer und Heilande des Volkes.

Woher kommt aber diese Abneigung und Feindschaft gegen das Krenz Christi, gegen das versöhnende Leiden und Sterben des Heilands? Es ist kein anderer Grund als der menschliche Hochmut! Der Mensch will nicht erkennen, dass er ein fluchbeladener, armer Sünder ist, der einen Heiland braucht, weil er sich selbst nicht helfen kann. Er redet viel lieber von seiner Menschenwürde, von seinem Tugendadel und seiner Geisteshöhe. Da werden die Sünden kleine Fehler, Schwächen und Gebrechen genannt, wenn überhaupt noch von solchen geredet wird und sie nicht gerade in Tugenden verwandelt werden. O das hochmütige Gerede von Tugend und Rechtschaffenheit und das stolze Rühmen von der natürlichen Güte und den Vorzügen des menschlichen Wesens bis zur Menschenvergötterung will kein Ende nehmen. Da ist freilich die Lehre von einem Versöhner und Heiland, der durch sein Leiden und Sterben die Sünder selig macht, die Lehre von Buße und Bekehrung, Glauben und Wiedergeburt eine Torheit und Unverstand. „Sie vernahmen der Keins und die Rede war ihnen verborgen und wussten nicht, was das gesagt war.“

Aber diese betrübten Gedanken haben wir nicht bloß bei den offenbaren Feinden des Kreuzes Christi zu suchen. O nein! Auch von Vielen, die zur Kirche des Herrn sich halten und Gottes Haus fleißig besuchen, gilt es: „sie vernahmen der Keins,“ und vielleicht gilt es auch von dir, lieber Zuhörer! ja nicht bloß vielleicht, sondern gewiss von Manchem unter uns gilt dies Wort. Wie ist das zu verstehen? Höre mich an, lieber Freund, und lass mich offen und ehrlich mit dir reden! Du hast schon oft gehört die Predigt vom Leiden und Sterben des Heilands, von der Versöhnung und Vergebung der Sünden in den Wunden des Lammes, und du bist ganz damit einverstanden und hast gar nichts dagegen einzuwenden; die Lehre, dass man gerecht und selig werde durch den Glauben an Jesum Christum, gefällt dir wohl. Aber es ist dies nur ein äußeres Wohlgefallen, ein äußeres Übereinstimmen. Du hast das Leiden und Sterben des Heilands noch nicht vernommen, die Rede ist dir im Grunde noch verborgen, du hast sie noch nicht zu Herzen genommen in Buße und Bekehrung, in Leidtragen und Traurigkeit über die Sünden, in lebendigem Glauben; du weißt also nicht aus innerster Herzenserfahrung, was da gesagt und gepredigt wird von der Vergebung der Sünden. Obwohl du einig bist mit dem Glauben der Kirche, so hast du doch kein inneres Leben, sondern richtest dein Leben ein nach der Art der sündigen Welt, nach der Eitelkeit und Lust dieser Zeit; du führst ein gar bequemes Modechristentum, bei welchem der geistliche Tod von der Seele nicht genommen ist. Du betest vielleicht der Form nach aus dem Buche, aber du führst fein inneres Gebetsleben mit Gott, weder allein noch in Gemeinschaft mit deiner Familie, mit deinem Mann, deiner Gattin, deinen Kindern. Du liesest nicht fleißig in Gottes Wort, um daraus weise zu werden zur Seligkeit, Christus ist dir nicht das A und O deines Lebens. Sieh, lieber Freund: das Leiden und Sterben deines Heilandes hast du noch nicht innerlich vernommen, es ist dir noch nicht durchs Herz gegangen. Aber lass es heute geschehen! ich bitte dich im Namen Jesu Christi Lass das Reisegespräch des Heilands von seinem Tode tief in deine Seele fallen und unvergesslich darin bleiben; lass edle Buß- und Glaubensgedanken daraus entstehen, so bist du ein glücklicher und seliger Mensch.

Seele, geh auf Golgatha!
Setz dich unter Jesu Kreuze,
Und bedenke, was dich da
Für ein Trieb zur Buße reize;
Willst du unempfindlich sein,
O so bist du mehr als Stein.

Unter dem Reisegespräch und den Reisegedanken, die bis jetzt der Gegenstand unserer Betrachtung waren, kam der Herr mit seinen Jüngern nach Jericho. Hier sehen wir

III.

das Reisewerk. Ein Blinder saß am Wege und bettelte. Der sollte die Hirtentreue und Heilandsliebe Jesu reichlich erfahren und ein Almosen bekommen, das er sein Lebenlang nimmer vergaß. Als er nämlich das Volk hörte, das durchhin ging, forschte er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. Dieser Name Jesus hatte in allen Gauen Israels einen guten Klang, besonders bei den Armen und Kranken, Blinden und Lahmen. Darum rief der unglückliche Mann aus allen Kräften: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und als die Leute dieses Geschrei für unpassend und unanständig hielten und ihn bedrohten, er solle schweigen, schrie er noch vielmehr: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! O seliges Rufen! o herrlicher Glaube, der sich durch Nichts und Niemand von seinem Arzt und Heiland abhalten lässt! Das gläubige Rufen des Blinden wurde gekrönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Jesus stand still, ließ ihn zu sich bringen und fragte: Was willst du, dass ich dir tun soll? Der Blinde antwortete: Herr, dass ich sehen möge! Und Jesus sprach: sei sehend! dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das solches sah, lobte Gott. Als ich diese wunderliebliche Geschichte der Heilung des blinden Mannes las, fiel mir unwillkürlich der köstliche Vers aus einem schönen Kirchenliede ein:

Sehende Augen gibt er den Blinden,
Erhebt, die tief gebeuget gehn;
Wo er kann gläubige Seelen finden,
Die lässt er seine Liebe sehn.
Die Hartgebundenen macht er frei
Und seine Gnad ist mancherlei.
Halleluja! Halleluja.

Ja, so ist es, wie es im Liede heißt: Wo er kann gläubige Seelen finden, die lässt er seine Liebe sehn. Seht da den Glauben des Blinden im Evangelium und die Wunderhilfe des liebreichen Heilands! Und meint ihr etwa, Geliebte, jetzt sei der Arm des Herrn zu kurz, jetzt sei seine Hand zu schwach, dass er nicht helfen könne? O nein, Ihm, unserem gekreuzigten, auferstandenen und zur Rechten des Vaters erhöhten Heiland ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden; groß und herrlich ist sein Name, groß, überschwenglich groß seine Liebe. Er kann auch aus dem Tode erretten. O so bringt doch in kindlichem Glauben alle eure Nöten, Ängsten, Kümmernisse und Krankheiten dem Heiland, dass er euch errette und seine Liebe sich an euch herrlich beweisen könne. Vor Allem aber kommt mit eurer geistlichen Blindheit zum Herrn und ruft laut mit sehnendem Herzen: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Öffne mir die Augen, dass ich meine Sünde sehe; öffne mir die Augen, dass ich deine Gnade sehe; öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder in deinem Gesetz und Evangelium. Der Herr wird hören und die Augen werden aufgetan und eine neue, schöne Welt des Geistes, des Friedens, der Liebe, der Sanftmut und Demut, Glaubens und der Hoffnung schließt sich auf und breitet sich in der Seele selbst aus lieblich und schön. O HErr, das gib uns Allen; das gib diesen lieben, teuren Seelen; das gib auch deinen Feinden, die dich hassen ohne Ursache, obwohl du sie bis in den Tod geliebt hast. Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich unser, erbarme dich meiner! Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/koerber_e/oelblatt/koerber-oelblatt-die_reise_nach_jerusalem.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain