Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 16. Betrachtung
Immer näher rückt der Apostel dem Feinde, wider den er kämpft. Wie ein Feldherr vor allem sorgt, dass er ein wohlgerüstetes, schlachtfertiges Heer habe, dann, bevor er das Zeichen zum Angriff gibt, noch ein ermunterndes Wort an Die Krieger richtet, und nun den Angriff beginnt: so der Apostel Paulus. Er hat uns die Waffen in die Hand gegeben, mit denen wir streiten sollen; er hat uns gewarnt und vermahnt: jetzt führt er uns in die unmittelbare Nähe des Feindes, zeigt ihn uns und spricht:
Kap. 2. V. 8: Seht zu, dass euch niemand beraube durch die Philosophie und lose Verführung nach der Menschen Lehre, und nach der Welt Satzungen, und nicht nach Christo. Welches ist demnach der Feind, wider den uns Paulus führt? Es ist
die falsche Philosophie.
Dreierlei ist es, worauf wir aufmerksam gemacht werden:
- die Vorsicht, die sie erfordert,
- der Trug, den sie uns bereitet,
- der Weg, auf dem sie das tut.
„Seht zu, dass euch niemand beraube, dass nicht jemand sei, der euch als Beute hinwegführe.“ Wir sollen vorsichtig sein. Die Vorsicht aber besteht darin, dass man teils die vorhandene Gefahr recht erkenne, teils sie meide. Es scheint, dass der Apostel eine bestimmte Person im Auge hat, die jene trügerische Weisheit unter den Kolossern zuerst aufbrachte und bald einen Anhang fand, wie ja denn gewöhnlich, wo Irrlehren aufkommen, ein „Jemand“ an der Spitze steht, der den ganzen Schwarm seiner Anhänger leitet. Diesen Jemand an der Spitze seines Anhangs stellt Paulus als einen Feind oder als einen Räuber dar, der im Hinterhalte lauert, um die Kolosser zu überfallen, sie ihrer geistlichen Waffen zu berauben, und sie von der Herde Christi hinwegzuführen zu der Herde Mosis. Alles stand in Gefahr, Glaube, gutes Gewissen, Freiheit, Seligkeit. Man steht also, wie viel an der Reinheit der Lehre gelegen ist. Es kommt nicht bloß auf das Leben, sondern auch auf die Lehre an. Wer die teure Beilage der evangelischen Wahrheit nicht bewahrt, der gleicht einem Krieger, der, vom Feinde überfallen, seiner Waffen und seiner Freiheit verlustig geht. Das ist die Gefahr, die wir sollen zu vermeiden suchen. Das Wort „seht zu“ setzt teils ein Licht voraus, das uns leuchtet, teils auch offene Augen, die wir brauchen sollen. Wir sind ja nicht mehr Kinder der Nacht, sondern Kinder des Lichts; sind errettet von der Obrigkeit der Finsternis, und verseht in das Reich Jesu Christi. Die Nacht ist vergangen, der Tag angebrochen. Dazu hat uns Gott erleuchtete Augen gegeben, dass wir in jenem Lichte nicht nur erkennen können, was wahr und heilsam, sondern auch, was falsch und verderblich ist. Wo es noch an diesen beiden Dingen fehlt, am Licht und an den offenen Augen, da ruft man vergeblich: Seht euch vor, dass nicht jemand euch verführe“ (Matth. 24,4.)! Wer im Finstern wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht, denn die Finsternis hat seine Augen verblendet.
Lasst uns nun ferner auf die Philosophie sehen, vor der wir uns hüten sollen. „Seht zu, dass niemand euch beraube durch die Philosophie und lose Verführung.“ Was ist Philosophie? Das Wort bedeutet Weisheits-Wahrheitsliebe, und man versteht darunter die Erforschung, die Erkenntnis der Wahrheit mittelst der Vernunft. Wird denn nun jede Philosophie von Paulus verworfen? Ist es wahr, was die Welt den Gläubigen oft genug vorgeworfen hat, dass sie die Vernunft hassen, dass sie einen blinden Glauben haben? Das sei ferne! Die Vernunft trennen wollen vom Evangelium, hieße das Auge trennen wollen vom Licht. Das Auge bedarf der Sonne, aber die Sonne bedarf auch des Auges, wenn sie uns ein Licht sein soll auf unserm Wege. Wie nun das Auge im Licht der Sonne erst einen rechten Wert für uns bekommt, also auch muss die Vernunft von Christo, der das Licht der Welt ist, erleuchtet werden, wenn sie die Wahrheit finden will. Wie? sollte nun der Glaube die Vernunft träge machen, der Wahrheit nachzuforschen? Nein, er weckt sie vielmehr, ermuntert und treibt sie an, das Geheimnis Gottes zu erforschen, damit das evangelische Licht immer heller im Menschen brenne. Ermahnt nicht Paulus noch kurz zuvor, dass wir sollen nach einem reichen und gewissen Verständnis trachten, um das Geheimnis Gottes zu erkennen? Will er nicht, dass wir aufhören sollen Kinder zu sein am Verständnisse, und zeigt er uns nicht, die vollendete Erkenntnis als das Ziel, wonach wir trachten sollen (Eph. 4,13.)? Also verwirft er nicht alle Forschung nach Wahrheit, sondern nur diejenige, die durch lose Verführung, das heißt, durch leeren Trug uns als Beute hinwegzuführen trachtet. Die Worte „durch die Philosophie und leeren Trug“ muss man also verbinden, dass man eine leere, trügerische Philosophie versteht, der die wahre und in die Wahrheit führende entgegensteht, die Paulus anerkennt. Was versteht er denn unter der inhaltsleeren, trügerischen Philosophie? Zunächst das Forschen der Irrlehrer zu Kolossä, die eine sonderliche Erkenntnis des Geisterreichs zu besitzen vorgaben, die sie auch mit schönen Worten schmückten, da sie doch in Wahrheit blind in göttlichen Dingen waren. Solche Philosophie gleicht einer Kornähre, die, je leerer sie ist, desto stolzer ihr Haupt erhebt, oder einem Gefäß, das desto mehr Klang hat, je weniger daraus zu schöpfen ist. Also fehlt der leeren Philosophie die wahre Weisheit und der lebendige Trieb zur Gottseligkeit und der rechte Trost für ein geängstetes Gewissen, ob gleich die, welche sie lehren, viel Rühmens und Prahlens von ihr machen. Hatte nun gleich die Philosophie nicht ihre eigentliche Heimat unter den Juden, so werden doch die Lehrer der jüdischen Sekten von den alten Schriftstellern Philosophen genannt, und auch die Irrlehrer in Kolossä mochten ihrer Weisheit den Namen Philosophie geben.
Welchen Weg nun gingen sie mit ihrer Philosophie? Einen Weg, der neben der Offenbarung Gottes her oder ihr geradezu entgegenlief. „Sie war gemäß der Lehre der Menschen,“ das heißt denjenigen Lehren und Satzungen unter den Juden, die zwar im alten Testamente nicht geschrieben standen, aber doch dem geschriebenen Gotteswort an Wert gleich geachtet wurden. Es gab viele solcher Satzungen, von denen man vorgab, dass sie von Gott selbst auf Sinai dem Moses, von diesem den 70 Ältesten übergeben, und dann von Geschlecht auf Geschlecht mündlich fortgepflanzt worden wären. Aber Paulus erklärt sie für Menschen-Lehren, das ist, für solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind (Marki 7, 7.). Neben jener Überlieferung waren es die Gebote des Zeremonialgesetzes, worauf die falschen Apostel zu Kolossä hielten, wovon Vers 20 und 21 ein Mehreres steht. Paulus nennt diese Gesetze „Satzungen“, eigentlich nach dem Grundtext: Anfangsgründe, weil Gott durch sie das israelitische Volk, da es noch ein Kind war, auf die reifere Erkenntnis des verheißenen Erlösers vorbereiten wollte. Nach der Erscheinung Christi im Fleisch sollten diese Gesetze nicht mehr gelten, denn nachdem der Körper selbst gekommen war, musste der Schatten weichen. Aber warum nennt der Apostel sie „Anfangsgründe der Welt“, da doch Gott selber sie gegeben hatte? Weil die falschen Apostel sie dazu machten. Denn sie wollten sie mit dem Evangelium vermischen, und lehrten, dass ihre Befolgung notwendig sei, wie es heißt Apg. 15,1: „Wo ihr euch nicht beschneiden lasst, nach der Weise Mosis, so könnt ihr nicht selig werden.“ Dadurch wurden sie ihres Sinnes, ihres Geistes beraubt, den sie vor Christo hatten, und wurden ein leerer, äußerlicher Buchstabe, der sich neben dem lebendigen, freien Geiste des Evangeliums behaupten wollte. Was sind Beschneidung, Opfer, Fasten und dergleichen, anders als tote Zeremonien, dergleichen bei den Katholiken noch heutiges Tages viele gefunden werden; wenn man sie als notwendig zur Seligkeit den Christen aufbürdet und die Freiheit der Kinder Gottes damit tötet: was sind sie anders als Schalen ohne Kern, als Ähren ohne Korn, als Dinge, die nicht der Geist Christi sondern der Geist der Welt verordnet? Darum ist auch eine Lehre, die auf ihre Beobachtung dringt, „nicht nach Christo“, wie Paulus spricht. Er will sagen: der „Christus in euch,“ lehrt euch solche Dinge nicht, sondern wo ihr den Sinn und Geist des Herrn in euch tragt, so wisst ihr euch von dem Joche jener Satzungen frei, und sucht im Glauben, was ihr nimmer in jenen toten Werken finden könnt. -
Aber was hat die Philosophie mit jener Lehre gemein? Zeigt uns die falsche Philosophie unserer Tage den Weg jener Überlieferung und jener Anfangsgründe der Welt? Nein! Aber darin ist sie jener jüdischen Philosophie gleich, dass sie sich nicht unter, sondern neben, wo nicht gar über Christum stellt, dass sie sich nicht vom Geiste Christi, sondern vom Geiste dieser Welt regieren lässt. Christus spricht: „Ich bin die Wahrheit:“ ist er denn nicht auch die Wahrheit in der Philosophie? Ja! und eben darum müsst auch ihr, die ihr euch Philosophen nennt, von neuem geboren werden, müsset nach Erkenntnis, Sinn, Leben und Wandel euch von Christi Geist durchdringen lassen, wenn ihr hineinwollt in das Himmelreich der Wahrheit. Es gibt zwar viele Dinge, die man erforschen und ergründen kann ohne Christi lebendig machenden Geist; aber wo es die höchsten Fragen gilt, die Fragen nach Gott, Freiheit, ewigem Leben, die Fragen: was soll ich glauben, was soll ich tun, dass ich Frieden erlange, dass ich zu Gott komme und selig werde? da kann man die richtige Antwort nicht finden ohne Christum, sondern gerät, wenn man ohne Christum ist, auf Wege des leeren Trugs, wie denn viele sind, die auch nicht mehr an Gott den Vater, nicht mehr an ein ewiges Leben glauben, und das ganze Jenseits der Christen als eine Fabel bekämpfen und verspotten. So lange die Philosophie noch nicht begriffen hat, dass sie muss in ihrem innersten Leben christlich sein, so lange ist sie jene falsche Philosophie, vor der uns Paulus warnet, indem er spricht: Seht zu, dass ihr euch nicht berauben lasst durch die Philosophie und leeren Trug!