Hofacker, Ludwig - Predigt am sechzehnten Sonntage nach Trinitatis

Hofacker, Ludwig - Predigt am sechzehnten Sonntage nach Trinitatis

Jesum, die allmächtige Liebe

Text: Luc. 7,11-18.

Und es begab sich darnach, daß Er in eine Stadt mit Namen Nain gieng; und Seiner Jünger giengen Viele mit Ihm, und viel Volks. Als Er aber nahe an das Stadtthor kam, siehe, da trug man einen Todten heraus, der ein einziger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Wittwe, und viel Volks aus der Stadt gieng mit ihr. Und da sie der HErr sahe, jammerte Ihn derselbigen, und sprach zu ihr: Weine nicht! Und trat hinzu, und rührete den Sarg an; und die Träger standen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf! Und der Todte richtete sich auf, und fieng an zu reden. Und Er gab ihn seiner Mutter. Und es kam sie Alle eine Furcht an, und preiseten Gott, und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und Gott hat Sein Volk heimgesucht. Und diese Rede von Ihm erscholl in das ganze jüdische Land und in alle umliegenden Länder.

In unserem heutigen Evangelium offenbart der Heiland Seine Gottesherrlichkeit auf majestätische Weise. Bis in Sein dreißigstes Jahr hatte Er dieselbe vor der Welt verborgen; nur einmal, in Seinem zwölften Jahre, schimmerte etwas davon heraus. Da aber Seine Stunde gekommen war, da machte Er sie sichtbar, da stellte Er sie heraus, und ließ bald dieses, bald jenes Stück davon sehen; da ließ Er Seine Jünger und die Welt bald in diesen, bald in jenen Abgrund Seiner Herrlichkeit und Kräfte blicken, damit sie glauben, und durch den Glauben das Leben haben möchten. Denn glaubet sicher, wenn es nicht nothwendig gewesen wäre zum Heil der Menschheit, der Heiland hätte seine Herrlichkeit nicht geoffenbaret; es geschah aus keinen eigennützigen, ruhmsüchtigen Zwecken; o – Er wäre wohl Sein Leben lang dahingegangen in der Stille, in der Verborgenheit, unbekannt und unerkannt: denn Er hatte ein gar demüthiges Herz, welches von eigener Ehre nichts wußte und nichts wollte; aber die Menschen sollten an Ihn glauben, und durch solchen Glauben das Leben haben, und um diesen Glauben zu erwecken, und ihn lebendig zu machen, darum offenbarte Er Seine Herrlichkeit.

Aber welche Herrlichkeit hat Er denn geoffenbaret? welche Gotteskräfte, welche Gottesherrlichkeiten sind denn an Ihm sichtbar geworden? In den Reden, die wir von Ihm haben, hat Er sich oft als die vollkommenste Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe dargestellt, aber wir fragen jetzt nach den Werken. Und da hat er Sich allenthalben in Seinen ganzen Wirken als den Lebendigen gezeigt, als die Quelle des Lebens, mit andern Worten: Er hat seine Schöpfersmacht geoffenbaret, Seine Schöpfersmacht, sage ich, und Seine unendliche Liebe und Erbarmung. Diese zwey Seiten sehen wir allenthalben in Seinem Leben an Ihm hervortreten, und so auch in unserem heutigen Evangelium. Deßwegen will ich unter Gottes Beistand euch vorstellen

JEsum, die allmächtige Liebe.

Wir wollen

  • I. diese Wahrheit betrachten;
  • II. die Wichtigkeit derselben erwägen.

I.

Wundert euch nicht, liebe Zuhörer, daß ich schon wieder von dem Heilande, und zwar von Seiner erbarmenden und allmächtigen Liebe zu euch rede. Zwar weiß ich wohl, daß dieß Manchen unter euch langweilig ist; aber diesen ist eben nicht zu helfen, und wird ihnen auch nicht zu helfen seyn, bis sie arm am Geiste werden, bis ihnen die Augen aufgehen, und sie ihr Elend, ja den Abgrund der Hölle vor sich sehen. Dann werden sie vielleicht noch froh werden, wenn ihnen das große Wort von der erbarmenden, unendlichen, ewigen, allmächtigen Liebe Dessen gesagt wird, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Bis dahin sind sie freilich blind, und es möchte ihnen in ihrer Blindheit ebenso langweilig seyn, von der Liebe Christi zu hören, als es einem Blinden langweilig und ärgerlich seyn müßte, wenn ihm von der Herrlichkeit des Lichtes Vieles gesagt würde. Freilich ist der Heiland deßwegen gekommen, um den Blinden das Gesicht zu geben (Luc. 4,18.), und es könnte vielleicht eben aus der Predigt von Christo, aus Seiner Alles belebenden und Alles durchdringenden Kraft heraus ihnen ein Lichtstrahl in’s Angesicht fahren, der ihnen die Augen öffnete; aber wenn eine Seele eben nicht will und mit Gewalt die Augen zudrückt, so kann ihr Niemand helfen. Nun, meine lieben Brüder und Schwestern, ihr, die ihr noch blind seyd, und ihr, die ihr einigermaßen sehet, ich will dieß Mal wieder von der Liebe Christi zu euch reden; höret mir zu; wollte Gott, es dränge dieses Lebenswort von Seiner Liebe in mein und euer Herz ein, daß es eine Frucht schaffte, die da bliebe in’s ewige Leben.

JEsus ist die allmächtige Liebe. Daß Er die Liebe, die barmherzige, die sanftmüthige Liebe ist, das sagt uns jedes Blatt Seiner Geschichte, davon gibt uns auch unser heutiges Evangelium die deutlichsten Spuren. Als Er den Schmerz und die Trauer der Wittwe sah, die ihren einzigen Sohn beweinte, da, heißt es, da jammerte Ihn derselbigen. Es jammerte Ihn, Er gieng nicht fühllos an dem Elend vorüber, wie wir es vielleicht gemacht hätten; es machte Eindruck auf Sein liebendes Herz; Sein Herz war dadurch zum tiefsten Mitleidsgefühl bewegt; der Jammer der Wittwe entzündete in dem gefühlvollen, reinen Herzen des großen Menschenfreundes auch einen Jammer; es gieng ihm wie dem barmherzigen Samariter, der auch nicht fühllos an dem Unglücklichen vorüber gehen konnte, dessen Seele auch zum Mitleiden bewogen wurde. Vielleicht können wir doch auch aus eigener Erfahrung dieses Mitleidsgefühl des Heilandes in etwas nachempfinden; vielleicht ist doch auch schon in unsern Herzen, obwohl sie kalt und hart sind, ein Gefühl dieser Art aufgestiegen. Und nun denket euch, ein solches Gefühl war im Herzen des Heilandes, nur viel stärker, viel zärter, viel reiner als bey uns.

„Es jammert Ihn derselbigen“ - - o wie wichtig ist es, daß dieß in der heiligen Schrift vom Menschensohne steht! Wie wohl thut es einem armen Sünder! So hat es Ihn auch gejammert, als er das Volk Israel ansah, wie es sogar nicht bedachte, was zu seinem Frieden diente, als Er weinte über Jerusalem. So hat es Ihn auch gejammert, als Adam durch die Sünde sich selbst in’s Elend gestoßen hatte; darum ward ihm die Verheißung von Demjenigen zu Theil, der der Schlange den Kopf zertreten solle. So hat es Ihn gejammert des Volkes Israel, als es unter der Knechtschaft Egyptens und unter den Schlägen seiner Dränger seufzte; darum sprach Er zu Mose: „ihr Schreyen ist vor meine Ohren gekommen, und Ich will ihnen helfen.“ So hat es Ihn gejammert, als Er das Volk in der Wüste umherirren sah, denn Er ließ ihm sagen: „Ich habe dein Reisen zu herzen genommen.“ So hat es Ihn gejammert, wenn Er den Abfall des Volkes von Ihm, dem lebendigen Gotte sah, darum ließ Er dem abtrünnigen Israel so viele tröstlichen Worte sagen, wie wir in den Propheten lesen (Jes. 40,1.2. 41,14. 44.22. u.s.w.). Und was könnte nicht noch angeführt werden? Es ist dies Alles aus diesem Jammer, aus diesem tiefen unendlichen Abgrund Seiner Barmherzigkeit, Seines Mitleidens, oder wie die Schrift sagt, aus den Eingeweiden Seiner Barmherzigkeit hervorgegangen. So hat es Ihn gejammert; darum ist Er Mensch geworden, und hat Knechtsgestalt angenommen, und ward an Geberden als ein Mensch erfunden. Wer kann diesen Trieb der Barmherzigkeit fassen, wer kann erkennen die Länge, und die Breite, und die Höhe und die Tiefe der Liebe Christi, die doch alle Erkenntniß weit übersteigt? So jammert es Ihn noch auf die heutige Stunde unser Aller, wenn Er siehet, wie Seine Liebe so gar vergessen wird, wie wir unser eigenes Elend suchen, wie Er so unbekannt ist. Es jammert Ihn, wie es einen Hirten jammert, wenn seine Schafe sich verirrten; es jammert Ihn, wie es eine Mutter jammert über dem Leiden ihres einzigen Sohnes. „Es jammerte Ihn“ – o ein wichtiges Wort! Das ist aber das Wichtige daran, daß Er ein so liebendes Herz hat, ein Herz, das keinem menschlichen Gefühle fremd ist. Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er ihr einen Hohenpriester geschenkt hat, wie sie in ihrem Elende gerade einen nöthig hatte; einen Hohenpriester, der Fleisch von unserem Fleische und Blut von unserem Blute ist, und Sich nicht schämet, uns Seine Brüder zu heißen; einen Hohenpriester, der gefühlt hat wie wir, und gedacht hat wie wir, doch ohne Sünde; einen Hohenpriester, der ein Mensch war wie wir, ein menschliches, gar niedrig gesinntes Herz hatte, doch ohne Sünde. Was würde es uns helfen, wenn JEsus nicht menschlich gefühlt hätte, wenn Er zwar den Leidenden geholfen, aber dieß nur gleichsam nach Seiner ewigen und nothwendigen Willens-Bestimmung gethan hätte? Ach, wir hätten kein Zutrauen zu Ihm! wir könnten kein Herz zu Ihm fassen, Ihm unsere Noth nicht klagen, unser elend Ihm nicht offenbaren, unsere Sünde Ihm nicht bekennen. Aber, Gott Lob! der Vater hat uns JEsum geschenket, einen Hohenpriester mit einem menschlich fühlenden Herzen, einen Hohenpriester, den es jammert, wenn Er unser Elend siehet. „Wir haben“ – heißt es im Hebräer-Brief – „nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit“; Er weiß nun, wie es einem Menschen ist in den verschiedenen Anfechtungen, Proben und Leiden und Kämpfen, ja mitten in der Sünde, und darum jammert Ihn der Menschenkinder.

JEsus ist die Liebe, die liebenswürdigste Liebe, die Liebe, der wir uns ganz anvertrauen können; und nicht nur das, Er ist nicht nur die Liebe, sondern die allmächtige Liebe. „Weine nicht!“ sprach Er zu der unglücklichen Wittwe im Evangelium. Das ist aber nicht nur so gesagt, wie wir etwa einander trösten, wo oft kein Nachdruck, wenigstens keine Hülfe darunter steckt. Nein, Sein Wort: „Weine nicht!“ war That und Leben, denn zum Jüngling, der im Sarge lang, sprach Er: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf.“ Das war ein Wort, ein Wort des Schöpfers, ein Wort des allmächtigen Gebieters, ein Wort Dessen, der HErr ist über Leben und Tod. Wo ist das erhöret von der Welt her, daß ein Mensch oder ein Engel mit einem einzigen Worte einem Todten das Leben wieder gegeben hätte? Zwar haben einige Propheten, Elias und Elisa, auch Todten das Leben wieder gegeben; aber so hat es Keiner gemacht, daß er hingetreten wäre und gesagt hätte: „ich sage dir, stehe auf“, und der Todte dann sich aufgerichtet hätte. Man fühlt, daß Derjenige, welcher hier spricht: „ich sage dir“ – nicht bloß ein Knecht, sondern der HErr selbst ist, Derselbe, der da sprach: „Es werde Licht, und es ward Licht.“ – „Ja, wir haben einen Gott, der da hilft, und einen HErrn, HErrn, der vom Tode errettet.“ Unser JEsus ist die allmächtige Liebe, die Alles in ihrer allmächtigen Hand hält; Glück und Unglück, Alles ist in den Händen Dessen, der die Liebe ist, und wird benützt zu Seinen Liebesabsichten. Als allmächtige Liebe hat Er sich in der Schrift bewiesen von vornen bis hinten, in der Schöpfung des Menschen und in Seiner Wiederherstellung, in den Zeiten des Gesetzes und in der Gnadenzeit des Evangeliums, während Seines Wandels auf Erden, und nun, da Er sitzet zur Rechten der Kraft und ist Ihm Alles unterwürfig, überall ist Er die nämliche, allmächtige, erbarmende Liebe gewesen. Wer diese Erweisungen Seiner Herrlichkeit, Seiner allmächtigen Liebe, im Lichte Gottes siehet, der kann nicht anders als niedersinken und anbeten.

Aber noch jetzt offenbaret Er sich als die allmächtige Liebe, Hallelujah! Man sagt freilich gewöhnlich in unsern Tagen: die Zeit der Wunder ist nicht mehr; Gott thut kein Wunder mehr; JEsus thut kein Wunder mehr; es gibt keine Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes Gottes mehr; wir müssen uns damit begnügen, was vor 1800 Jahren geschehen ist. Das heißt aber nichts anders als behaupten: Gott ist gestorben; JEsus ist gestorben; es gibt keinen lebendigen Gott, keinen lebendigen Heiland; Er ist ein todter Götze, ein Gott, der nichts machen kann, dem die Hände durch die Natur, die Er selbst geschaffen hat, gebunden sind. Nein, nein, JEsus lebt, und die Zeit der Wunder ist nicht aus; Er ist noch der Nämliche wie vor 1800 Jahren; Seine Liebe ist noch ebenso unendlich brennend; Seine Allmacht ist noch die nämliche; JEsus Christus, heute und gestern und derselbige in Ewigkeit. Es ist Wahrheit und bleibt Wahrheit, was Er gesagt hat: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden;“ – „siehe, ich bin bey euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Freilich muß man sagen: JEsus offenbart Seine Herrlichkeit nicht mehr so häufig und in die Augen fallend, wie in den Tagen Seines Fleisches. In Seinem kurzen dreijährigen Lehrerslauf auf Erden waren unzählige Wunder, Erweisungen und Offenbarungen Seiner Herrlichkeit zusammengedrängt; und so auch im Laufe der Apostel. Auch liest man in der Kirchengeschichte noch von Wundern, die in der Kraft des Namens JEsu verrichtet wurden bis hinein in das vierte Jahrhundert. So ist es nun nicht mehr. Warum nicht? Erstlich wohl deßwegen, weil diese Wunder hauptsächlich nothwendig waren zur Gründung einer christlichen Kirche: nachdem diese gegründet war, hörten sie je mehr und mehr auf; sodann aber hauptsächlich um unseres Unglaubens willen. Als der Heiland einmal in Nazareth war, so heißt es von Ihm. Er habe kein Wunder verrichten können um ihres Unglaubens willen, und das ist der Charakter unserer Zeit. Liebe Zuhörer! um unseres Unglaubens willen geschehen so wenig Wunder unter uns. Es ist ein Vernunftgeist, ein Grübelgeist ausgegangen in alle Welt, und von diesem Geiste der Zeit sind wir Alle mehr oder minder gefangen; wir sind aus der Einfalt gewichen, und in Vielwisserey hinein gekommen; unsere Zeit ist schon längst über die Gränzen unserer eingeschränkten Vernunft hinausgeflogen, und hat das dem Urtheile der Vernunft unterworfen, und Grund und Ursache da erforscht, wo man nur in Einfalt glauben sollte, und von diesem Geiste der Zeit sind wir Alle angesteckt. Darum kann JEsus so selten Wunder unter uns thun: denn Er betrübt Sich über unsern stolzen Unglauben.

Aber dennoch offenbaret Er Seine Herrlichkeit, Seine allmächtige Liebe noch jetzt bey uns und an Denen, die in Einfalt glauben, und sich an Ihn wenden. Vielleicht sind in dieser Versammlung Seelen, die davon etwas sagen können. Wie manche unter uns waren wohl schon in einer Noth, und haben in dieser Noth dem Heilande die Ehre gegeben, daß Er helfen könne, und haben Ihm dieselbe einfältig vorgetragen, und Er, die allmächtige Liebe, hat geholfen. Eine jede Erhörung unseres Gebetes ist eine Offenbarung der Herrlichkeit der allmächtigen Liebe des Sohnes Gottes, und wenn wir im Glauben beteten, so würden wir mehr erhöret. Wenn ich z.B. den Lebenslauf des sel. August Herrmann Franke lese und betrachte, so muß ich mich wundern, wie der Heiland mit diesem Knechte verfahren ist, wie dieser Mann das Waisenhaus in Halle mit lauter Wundergeld erbauet hat. Aber der Heiland bindet sich hier nicht gerade an besonders begnadigte Leute; ich habe schon Erfahrungen gemacht von Menschen, die man beynahe Weltleute heißen dürfte, deren Gebet in der Noth wider alle Erwartung und alle Berechnung menschlicher Vernunft erhört wurde, weil sie den Heiland im Glauben ergriffen hatten. O wenn wir mehr Glauben hätten, Glauben nur als ein Senfkorn, so würden wir staunen über die Offenbarungen der allmächtigen Liebe des Heilandes. Ich kann nicht glauben, daß es ein Kind Gottes gibt, das nicht auch schon in seinem Laufe eine Offenbarung der Herrlichkeit JEsu erfahren hätte; aber um unsers Unglaubens willen wird es uns so selten zu Theil.

Doch was halte ich mich so lange bey’m Aeußerlichen auf? Sehet doch die Offenbarung der Herrlichkeit JEsu in den inneren Wundern. Es ist ein Wunder, ein großes erstaunliches Wunder, wenn ein todter Mensch, ein roher, kalter Klumpen, ein blinder, Mensch nach Licht und Leben sich sehnet; es ist ein Wunder, wenn ein arger, verfluchter, höllenwürdiger Sünder hindurchbricht zur Freiheit der Kinder Gottes; es ist ein Wunder, wenn aus einem solchen todten Klotz ein lebendiger Mensch in Christo JEsu wird; es ist ein Wunder, wenn ein verdammungswürdiger Sünder herumgeholt und bewahret wird zur Seligkeit durch Gottes Macht; ein Wunder, wenn ein solcher höllenwürdiger Mensch hinein darf in den Himmel; lauter Wunder und Beweise der Allmacht und Liebe JEsu, lauter Beweise, das wir einen lebendigen Heiland haben, Dessen Worte Wahrheit sind, wenn Er gesagt hat: „siehe ich bin bey euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Denn wenn ein todter Sünder, der geistlich blind, lahm, taub, gefühllos ist, dessen Willen erstorben ist, zum Leben aus Gott kommt, so ist dieß ein ebenso großes, ja ein noch größeres Wunder, als wenn ein leiblich todter Mensch sich aufrichtet und zu reden anfängt. Denn unser Elend ist nicht zu ermessen; unser geistlicher Jammer ist nicht zu beschreiben; wir sind viel elender als wir wissen, viel todter, als wir glauben können, wir sind eben geistlich todt. Doch wer glaubt dieser Predigt? Man weiß es nicht, und bedenkt es nicht. Aber man wisse es, oder man wisse es nicht; es muß gepredigt, es muß gesagt werden: JEsus ist die allmächtige Liebe, so allmächtig, daß Er den Geistlich-Todten das Leben geben kann durch Seine heilige Menschwerdung und Geburt. Durch Sein Blut und Seine Wunden ist diese Kraft und erworben; darin liegt die allmächtige Lebenskraft JEsu für alle armen Sünder. „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde“ – sprach Er einst – „was wollte ich lieber, denn es brennete schon. Aber ich muß mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe; und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde!“ (Luc. 12,49.50.). Seit Er nun getauft ist mit Seiner schweren Leidenstaufe, brennt dieses allmächtige Lebens- und Liebes-Feuer. O daß auch ein Funke dieses Feuers in uns eindränge und ein Feuer anzündete! Ach, daß doch bald Dein Feuer auch in uns brennete, damit an uns Allen offenbar würde, daß Du die allmächtige Liebe bist!

Unser JEsus ist die allmächtige Liebe. Dieß wird sich noch besonders herausstellen, wann Er das, was Er an dem Jüngling zu Nain that, auch an den Leibern Seiner entschlafenen Jünger beweisen wird. Wann die Stimme des Sohnes Gottes in die Gräber tönen wird mit der Posaune des Erzengels, wann das Meer und die Erde ihre Todten wieder geben werden; dann wird es sich erst im hellsten Lichte zeigen, daß Er die allmächtige Liebe ist; da wird Er unsern nichtigen Leib verklären, daß er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe nach der Wirkung, damit Er auch kann alle Dinge Ihm unterthänig machen. Ja, Allmacht muß allerdings dazu gehören, die Leiber der gebornen Sünder so umzugestalten, daß sie ähnlich werden Seinem verklärten Leibe. Er ist die allmächtige Liebe. Die Allmacht kann nicht ruhen, bis sie Alles, was sich zum Gehorsam des Glaubens hat bringen lassen, in die Liebes-Absichten der ewigen Erbarmung hineingeführet hat, und die Liebe kann nicht ruhen, bis sie Alles, was sich durch die vom Sohne Gottes erworbene und in Seinem Evangelium angebotene Gnade hat erneuern lassen, allmächtig herwiedergebracht und das Verderben ganz hinweggeräumt hat. Dieß sah Johannes, da er die heilige Stadt sah, und die große Stimme vom Stuhle höret: „Siehe da eine Hütte Gottes bey den Menschen, und Er wird bey ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk seyn, und Er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott seyn, und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr seyn, noch Leid, noch Geschrey, noch Schmerzen wird mehr seyn; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Stuhle saß, sprach: Siehe, ich mache Alles neu“ (Offenb. 21,3.4.5.). Da wird es erst recht heißen: „weine nicht; siehe, es hat überwunden der Löwe, der da ist vom Geschlechte Juda, die Wurzel des Geschlechts Davids, ein heller Morgenstern“ (Offenb. 5,5. 22,16.).

Da wird man Freudengarben bringen,
Denn uns’re Thränensaat ist aus.
Welch’ heller Jubel wird erklingen,
Und süßer Ton im Vaterhaus!
Schmerz, Seufzen, Leid, Tod und dergleichen
Wird müssen flieh’n und von uns weichen;
Wir werden unsern König seh’n;
Er wird bey’m Brunnen uns erfrischen,
Die Thränen von den Augen wischen.
Wer weiß, was sonst noch wird gescheh’n!

II.

Liebe Zuhörer! JEsus ist die allmächtige Liebe. Dieß ist sehr tröstlich für uns, sehr tröstlich für arme Menschen, wie wir sind, für arme Sünder, wie wir sind, für so finstere, blinde, verzweifelte, in Sünden geborne, erzogene, alt gewordene Leute, wie wir sind.

Wenn eine Seele unter uns wäre, die im blick auf ihr großes Elend verzagen wollte, ob auch für sie noch ein Theil im Himmel, ob auch für sie noch ein Plätzchen im Herzen JEsu sey, diese dürfte man wohl sagen, wie JEsus zu der Wittwe: „weine nicht!“ Sieh Ihn an in unserem Evangelium, sieh, wie es Ihn jammerte der betrübten Wittwe, sieh Ihn an in der ganzen heiligen Schrift; was hat Ihn denn herabgezogen in dieses Jammerthal herein? Ist es nicht gerade das Elend, das du beklagst? Hat Ihn nicht gerade das bewogen, Alles zu dulden, was Er geduldet hat, wovon du jetzt glaubst, es schließt dich aus? Weine nicht, denn „selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Wage einen Blick auf Golgatha, thue einen Blick in Sein erbleichtes Antlitz.

Du edles Angesichte!
Dafür sich sonsten scheut
Das große Weltgewichte:
Wie bist Du so bespeit!
Wie bist Du so erbleichet!
Wer hat Dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht nicht gleichet,
So schändlich zugericht’t?

Da blicke hinein, Seele, dem Sohne unter die Dornenkorne, in’s Angesicht. Siehe, auf da Kreuz ist es eingeschrieben, daß JEsus die Liebe ist.

Und wenn ein Sünder unter uns wäre, der verzagte, ob er auch könnte loskommen, ob er auch frey werden könnte von seinen langen Gewohnheitssünden, diesem dürfte man getrost sagen: verzage nicht, denn JEsus ist die allmächtige Liebe. Wenn es freilich auf dich ankäme, auf deine eigene Kraft, dann müßtest du verzagen; aber Er will es thun; ergieb dich nur Ihm, Er will es machen. Siehe, in Seiner großen Arbeit hat Er auch für dich gearbeitet; in Seinem Tode und in Seiner Auferstehung liegt auch für dich Kraft genug, abzusterben dem alten Menschen, und aufzuerstehen, und in einem neuen Leben zu wandeln. Siehe an, wie Viele hat Er schon aus dem Sündenschlamme herausgerissen, siehe, was der Apostel zu den Korinthern sagt: „ihr waret weiland Hurer, Ehebrecher, Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer, Räuber – nun aber seyd ihr abgewaschen, ihr seyd geheiliget, ihr seyd gerecht geworden durch den Namen des HErrn JEsu und durch den Geist unseres Gottes.“ Und dieß hat Er schon an so vielen tausend Seelen gethan, die bereits vor Seinem Throne stehen in weißen Gewändern: darum verzage nicht, Seine allmächtige Liebe ist noch nicht verkürzt.

Und wenn eine Seele sich vor dem Tode und dem Zorne Gottes fürchtete und dächte: wie wird dir’s gehen, wenn du von hinnen mußt? Dieser darf man auch sagen: verzage nicht; wenn du dich an Ihn hältst, wenn du alle eigene Gerechtigkeit in dir tödten, und deinen Grund nur auf Ihn gründen lässest, wenn du auf JEsu Wunden trauest, und an Ihm bleibest, siehe, so kann dir der Tod nichts thun. JEsus, die allmächtige Liebe, hat die Todesthüren gesprengt, und einen freien, offenen Durchgang den armen Sündern zum ewigen Leben erworben.

O wie bald kann Er es machen,
Daß die Sachen
Gehen, wie es heilsam ist!
Laß die Wellen
Sich verstellen,
Wenn du nur bei JEsus bist.

Und wenn eine begnadigte Seele unter uns wäre, die etwa auf den blöden, verzagten Gedanken käme, ob sie sich auch vollends durchschlagen möchte durch diese Welt bey allen Versuchungen und Reizungen zur Sünde, zum Unglauben, zum Abfall – auch ihr darf man sagen: verzage nicht, durch Gottes Macht kannst und wirst du bewahret werden zur Seligkeit. „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HErr dein Erbarmer.“ JEsus Christus ist die allmächtige Liebe, heute und gestern und dieselbe in alle Ewigkeit.

Aber Denen, die noch todt sind in Sünden, die Ihn noch nicht kennen, denen muß man sagen: weinet, ihr Jünglinge, die ihr ohne JEsus in der Welt lebet; weinet, ihr Jungfrauen, ihr Männer, ihr Weiber, weinet, weinet über euer Elend. Ach, daß Alle aus dieser Versammlung, ach, daß dieses ganze Dorf anfienge zu weinen und zu klagen, wie man um einen einzigen Sohn klaget, nicht um Geld und Gut, nicht um einen mißrathenen Herbst, nicht um die äußeren Lebenslasten, nicht um die Todten, denn sie sind in der Hand Gottes; sondern über uns, über uns, daß wir noch todt sind in unseren Sünden und Uebertretungen, daß wir bis jetzt den Heiligen Geist betrübet, den Heiland für nichts geachtet haben, daß wir gelebet haben ohne JEsus. O ihr Seelen, suchet euer Elend nicht weit; denn das ist das Elend, das ist der geistliche Tod, wenn man nicht im Glauben des Sohnes Gottes lebt, wenn man Ihn nicht liebt, wenn man sein Herz nicht Ihm, sondern dem Teufel gibt; und Er hat es doch verdient, Er hat es doch erworben mit so viel sauern Tritten, und man kennt Ihn nicht und ist finster, und Er ist doch die allmächtige Liebe. Das ist das Elend, darüber wir weinen und heulen sollen. Darum wache auf, wache auf, der du schläfest, so wird dich Christus, die allmächtige Liebe, erleuchten.

So komme denn, wer Sünder heißt,
Und wen sein Sündengräu’l betrübet,
Zu Dem, der Keinen von sich weist,
Der sich gebeugt zu Ihm begiebet.
Wie? willst du dir im Lichte steh’n,
Und ohne Noth verloren geh’n?
Willst du der Sünde länger dienen,
Da, dich zu retten, Er erschienen?
O nein! verlaß die Sündenbahn!
Mein Heiland nimmt die Sünder an.

Amen!

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