Harms, Ludwig - Der Psalter - Der 6. Psalm.
Unter den Psalmen Davids finden wir sieben Bußpsalme, und dieser sechste Psalm ist unter den Bußpsalmen der erste. Er ist überschrieben: „Bußgebet um Gesundheit Leibes und der Seele“, und fängt an mit den Worten: Ach, HErr, strafe mich nicht in Deinem Zorn, und züchtige mich nicht in Deinem Grimm. In diesen Worten seht ihr schon ausgedrückt die ganze Angst und Verzweiflung eines Menschen, der in der Buße steckt. Der Zorn Gottes liegt auf ihm, der Grimm Gottes schreckt ihn, darum hat er nichts als Tod und Verdammniß vor Augen. Wenn uns Gott straft, das können wir noch wohl aushalten, wenn uns Gott züchtigt, das können wir noch wohl ertragen; aber daß Er uns in Seinem Zorn straft, daß Er uns in Seinem Grimm züchtigt, das kann keiner aushalten. Der Zorn Gottes senkt uns in die Verdammniß, der Grimm Gottes stürzt uns in die Hölle. Straft Gott in Seinem Zorn, züchtigt Er in Seinem Grimm, so sind wir der Hölle und der Verdammniß verfallen. David weigert sich der Strafe und der Zucht Gottes nicht, aber er sagt: ich kann es nicht ertragen, wenn Du es in Deinem Zorn und Grimm thust. Wer in der Buße steckt, wen in der Buße seine Sünden angst und bange machen, der hat nichts vor sich als Tod und Verdammniß, es ist ihm, als ob die Hölle ihren Rachen aufgesperrt habe, ihn zu verschlingen. Soll einem solchen armen Menschen geholfen werden, soll er errettet werden, so muß er sich aufs Bitten legen, sonst hilft nichts; er muß bitten: Ach, HErr, strafe mich nicht in Deinem Zorn, züchtige mich nicht in Deinem Grimm. Wenn er es dadurch nicht erreicht, daß Gott ihm gnädig wird, so hilft nichts; verdient hat er es nicht anders, als daß ihn Gott in Seinem Zorn und Grimm straft und züchtigt. So erkennt und bekennt der bußfertige Mensch, daß er Tod und Verdammniß verdient habe. Aber er will natürlich nicht gern verloren gehn und verdammt werden, darum fleht er weiter- HErr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, HErr, denn meine Gebeine sind erschrocken; und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach Du, HErr, wie so lange! Da ein solcher Mensch, der seine Sünden erkennt und bekennt, alles eigene Verdienst und alle eigene Gerechtigkeit längst hat wegwerfen müssen, weil er davon überzeugt ist, daß bei ihm kein Verdienst zur Seligkeit, wohl aber die Ursache zur Verdammniß zu finden ist, so weiß er sich auf nichts anders zu legen, als auf die Bitte um Gnade. Kann noch etwas helfen, so ists die Gnade, denn barmherzig und gnädig ist der HErr, geduldig und von großer Güte. Darum fleht er: HErr, handle nicht mit mir nach meinen Sünden und vergilt mir nicht nach meiner Missethat. HErr, laß Gnade für Recht ergehen! Und daß Gott Gnade für Recht ergehen läßt, dazu kann Ihn nur Seine Gnade treiben, an uns ist nichts zu finden, was Ihn dazu bewegen kann. Mit uns ist es so wie jener Gesang sagt: An mir und meinem Leben, ist nichts auf dieser Erd', was Christus mir gegeben, das ist der Liebe werth. Was Gott zur Gnade bewegen kann, ist nicht meine Liebenswürdigkeit, sondern Sein Erbarmen. Dieses Rufen: HErr, ich bin schwach, meine Gebeine sind erschrocken und meine Seele ist sehr erschrocken! soll die Barmherzigkeit und das Mitleiden des HErrn erregen. Aber das Anrufen der Gnade Gottes, das Legen auf die Barmherzigkeit Gottes kann man lediglich nur aus der Bibel kennen lernen. Woher wüßtest du es sonst, daß Gott barmherzig und mitleidig ist, wenn du es nicht aus der Bibel wüßtest? Nun kannst du aber Gottes Gnade und Erbarmen aus dem einen Worte kennen lernen, was im Propheten Hesekiel steht: Ich aber ging an dir vorüber, und sahe dich in deinem Blute liegen und sprach zu dir, da du so in deinem Blute lagst: du sollst leben und nicht sterben! Ja zu dir sprach Ich, da du so in deinem Blute lagst: du sollst leben! Hesek. 16,6. Da ist es nichts anders, als das Erbarmen des HErrn, was uns entgegen strahlt. In unserm Blute, in dem Blute unserer Sünden sah uns Gott liegen, als Er an uns vorüber ging, und statt uns zu verwerfen, jammerte Ihn unser Elend und unsere Hülflosigkeit, und darum sprach Er zu uns: du sollst leben! Hat man das öfters gehört und gelesen, so giebt das den Muth zu bitten: HErr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, HErr, denn meine Gebeine sind erschrocken; und meine Seele ist sehr erschrocken. Ihr sehet aber auch zugleich aus diesen Worten, wie die rechte Buße nicht nur die Seele, sondern auch den Leib krank macht von großen Schmerzen. Wenn die Seele geängstet ist bis auf die Verzweiflung, dann leidet auch der Leib mit, der Leib ist eben so erschrocken wie die Seele, bei dem, der die Tiefen der Sünde recht erkannt hat. In der Angst der Seele, die über die Sünden unruhig und betrübt ist, mag der Mensch nicht essen und nicht trinken, er kann nicht schlafen und nicht ruhen vor innerer Qual, es ist ihm, als ob die Verdammniß ihn verschlingen will. Zuletzt meint man dann, Leib und Seele müssen zu Grunde gehn, wenn der HErr nicht hilft, so kann man's nicht länger aushalten. Nun fährt David fort, nachdem er seine bis aufs Aeußerste gestiegene Noth geschildert hat: Wende Dich, HErr, und errette meine Seele; hilf mir um Deiner Güte willen. Denn im Tode gedenket man Deiner nicht; wer will Dir in der Hölle danken? Aus diesen Worten sehet ihr, was der Bußfertige, wenn Gott nach Recht und Gerechtigkeit mit ihm handeln will, erwartet. Er erwartet nichts als Tod, Hölle und Verdammniß, und ohne Vergebung der Sünden in Tod, Hölle und Verdammniß fahren, das ist das Schrecklichste, was man sich denken kann, denn aus Hölle und Verdammniß kann Niemand wieder heraus kommen. Von denen heißt es: Im Tode gedenkt man Deiner nicht; wer will Dir in der Hölle danken? Ich kann, wenn ich ohne Vergebung der Sünden in Tod und Hölle fahren muß, nie an Gott als an meinen Vater denken, ich kenne Ihn dann nur als Richter. In der Verdammniß kann ich Ihn nicht loben und preisen, denn die Verdammten loben und preisen Gott nicht, sondern sie fluchen Ihm. Weil das nun mein Loos ist, so giebt es nur einen Rath: Wende Dich, HErr! David will damit sagen: HErr, Du mußt eine andere Stellung zu mir einnehmen, Du warst bisher mir gegenüber feindlich gesinnt, Du warst mein Richter, nun mußt Du mir freundlich, mußt mein Vater werden, sonst geht es nicht. Du mußt Dich wenden, eher kann ich es nicht, Du mußt Dein Angesicht mir freundlich und leutselig zuwenden, dann kann ich es auch. Ihr sehet, wenn Gott uns nicht Gnade zu Theil werden läßt, so ist keine Hülfe für uns zu hoffen. Gott muß sich anders zu uns stellen, dann können wir uns auch anders zu Ihm stellen; statt Seines Richterantlitzes soll Er uns Sein Väterantlitz zeigen, und das soll Er thun um Seiner Güte willen. Da wird wieder alles eigene Verdienst weggeworfen. Wenn Gott mich mit andern Augen, mit Vateraugen ansieht, dann kann ich Ihn auch mit Kindesaugen ansehen. Weil Gott in der heiligen Schrift als ein Erbarmer gepriesen wird, so sagt David nochmals zu Ihm: Ich bin so müde von Seufzen; ich schwemme mein Bette die ganze Nacht, und netze mit meinen Thränen mein Lager. Meine Gestalt ist verfallen vor Trauren, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde. Mit allen diesen Worten sucht David das Mitleiden und die Barmherzigkeit Gottes zu erregen. Er will sagen: erhöre doch, Gott, mein Seufzen, siehe doch an meinen durch die Traurigkeit über die Sünde so sehr verfallenen Körper, und laß Dich das zum Mitleiden und Erbarmen bewegen. Was meint ihr wohl, meine Lieben, sollte es wohl Viele unter uns geben, die diesen Psalm mit Wahrheit beten können? Ich sage euch geradezu: ich glaube, keinen einzigen, oder doch nur sehr wenige. Das jetzige Geschlecht ist ein so oberflächliches, kraftloses und leichtsinniges, daß es nicht Viele giebt, die etwas von dem Zorn und Grimm Gottes erfahren haben, die müde sind von Seufzen, die über ihre Sünden bittere Thränen geweint haben, denen Leib und Seele alt geworden ist über die Schmerzen der Buße. Bei den meisten Menschen, die Buße thun, bleibt es auf der Oberfläche, und wo sich noch rechte Traurigkeit über die Sünde findet, da ist sie bald wie weggewaschen und der ganze Himmel hängt gleich wieder voll Geigen. Fast nichts geht in die Menschen Hüttlein, und was hinein kommt, werfen sie wieder heraus, oder bleibt doch oben auf liegen. Wir wollen indeß mit menschlichen Augen eben so wenig bestimmen, was rechte Buße als was rechter Glaube ist. Macht euch hernach, wenn die Kirche aus ist, in eurem stillen Kämmerlein an diesen Psalm und fragt euch bei jedem einzelnen Verse: habe ich das so an mir erfahren? Ich glaube wir alle, oder doch die meisten von uns müssen sagen: so kenne ich es nicht. Und dabei bedenkt, daß diesen Psalm nicht ein weinerlich Mädchen oder ein zimperlich Jungfräulein gebetet hat, sondern ein Krieger, der mit Löwen und Bären gekämpft, der mit Riesen gerungen und sie besiegt hat. Zu dieser Sündenangst des Herzens in der Buße kommt dann noch, wovon unser heutiges Evangelium (Joh. 16, 16 - 23) redet: der Spott und die Schadenfreude, die triumphierende Bosheit der Feinde Gottes, die ihre Freude und Wonne daran haben, wenn es den Frommen übel geht. Aber David sagt in seinem Gebete weiter: Weichet von mir, alle Uebelthäter; denn der HErr hört mein Weinen, der HErr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der HErr an. Es müssen alle meine Feinde zu Schanden werden, und sehr erschrecken, sich zurückkehren und zu Schanden werden plötzlich. Es sollen diejenigen, die ihre höllische Freude über David haben, nicht triumphiren, sie sollen zu Schanden werden plötzlich. David verläßt sich auf die Barmherzigkeit des HErrn, darum kann er triumphiren: Weichet von mir, ihr Uebelthäter, denn der HErr hört mein Weinen, der HErr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der HErr an. Als er das sagt, da hat er Vergebung der Sünden; nun siegt er und seine Feinde gehn zu Grunde. Darum wer nur an Gottes Barmherzigkeit fest hält in der Sündennoth, wer nur anhält mit Flehen und Schreien, der soll erfahren, was der HErr sagt: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan Matth. 7, 7. Und ob es währt eine Zeit und noch eine Zeit, endlich kommt doch die Hülfe und die Erbarmung des HErrn, und diese Erbarmung ist überschwänglich, die Gnade, die uns dann zu Theil wird, ist größer als alles Elend, was wir erfahren haben. Amen.