Goßner, Johannes - Evangelische Hauskanzel - Am 6. Sonntage nach Trinitatis.

Goßner, Johannes - Evangelische Hauskanzel - Am 6. Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 5, 20 - 26.

Von der Gerechtigkeit der Pharisäer.

Es war zu den Zeiten Jesu im Judenlande - wie zu allen Zeiten und überall - die eigne Gerechtigkeit die herrschende. Jeder bildete sich ein, gerecht zu seyn. Aber doch war in Aller Augen die Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten die beste und geachtetste. Jedermann dachte: Wenn ich erst so weit wäre, so fromm, so gerecht und heilig lebte, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten, dann wollte ich mich freuen. Sie, diese Heuchler, schienen vor allem Volke die besten Menschen, die Heiligsten und Geliebten Gottes zu seyn. Wer fromm und selig werden wollte, suchte sie nachzuahmen, und ihnen ähnlich zu werden. Die Stillen im Lande kannte man nicht; sie stellten sich und ihre Gerechtigkeit auch nicht zur Schau aus, wollten nicht glänzen, nicht den Menschen gefallen, sondern vielmehr ein verborgenes Leben mit Gott führen; und das gilt vor der Welt gar nichts, weil es keinen Schein hat. Die Pharisäer aber gingen darauf aus, ihre Gerechtigkeit und Frömmigkeit sehen zu lassen, um bewundert und gelobt zu werden. Sie thaten Alles nur, um den Leuten zu gefallen, und Lob, Ehre oder Gaben und Geschenke zu erobern. Darum bestand ihre Gerechtigkeit in lauter Werken, die in die Augen fallen und gelobt werden. Sie beteten lange und viele mündliche Gebete - und an den Ecken der Straßen oder vornean im Tempel, um von den Leuten bemerkt zu werden. Sie gaben Almosen öffentlich, um gleich den Lohn des Lobes und der Ehre von den Zuschauern zu erndten. Wenn sie fasteten, so sahen sie sauer aus, wuschen sich nicht, daß man es ihnen ansehen sollte, wie strenge sie fasteten, und sie für heilig halten möchte. Sie hielten lange Gebete für die reichen Wittwen, um ihre Häuser zu fressen. Sie trugen breite Denkzettel mit schönen Bibelsprüchen an ihren Stirnen oder Armen, und große Quasten oder Säume, Trotteln an ihren Kleidern, um auffallend zu werden, und schon von ferne ihre Heiligkeit zu zeigen. Sie verzehnteten Kümmel, Minze und die geringsten Gartengewächse, aber das Schwerere und Wichtigere im Gesetze versäumten und vernachlässigten sie, nämlich Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glauben. Sie seigten Mücken und verschlangen Kameele. Sie reinigten die Becher und Schüsseln auswendig, aber inwendig waren sie voll Raubes und Fraßes, voll Unmäßigkeit und Ungerechtigkeit - indem sie Speise und Trank unrecht erwachen oder sündlich verpraßten. Sie waren übertünchten Gräbern gleich, die auswendig hübsch scheinen, mit Blumen geschmückt sind, aber inwendig voller Todtengebeine und alles Unflats. So schienen sie nur von außen fromm, aber inwendig waren sie voller Heuchelei und Untugend. Sie schmückten und renovirten der alten längst verstorbenen Propheten Gräber, und die lebendigen verfolgten und tödteten sie - so wie Christum selbst.

Dieses und dergleichen noch viel mehr sagt Christus selbst von der Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten - das war ihre Gerechtigkeit - und eine bessere kannte man damals nicht. Darum sagt der Herr:

Ich sage euch, es sey denn eure Gerechtigkeit viel besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Diese heuchlerische, scheinheilige Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit, sondern die größte Ungerechtigkeit und lauter Betrug, ein Werk des Teufels, und wird daher von Christo ganz verworfen; Er aber stellte ein ganz anderes Bild der Gerechtigkeit auf in Seiner Lehre und in Seinem Wandel, eine Gerechtigkeit die vor Gott gilt, eine wahre, keine Schein-Gerechtigkeit. Er will, daß das Herz zuerst gerecht gemacht werde durch den Glauben und die Vergebung der Sünden, durch Ausgießung des heiligen Geistes und die Wiedergeburt; denn in Christo gilt nichts als eine Neue Geburt, oder der Glaube in Liebe thätig. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, und kann nicht anders, als fleischlich gesinnt seyn. Fleischliche Gesinnung aber ist eine Feindschaft wider Gott, sintemal sie dem Gesetz Gottes - der Gerechtigkeit - nicht unterthan ist - sie vermag es auch nicht. Röm. 8, 7. Wer aber aus Gott geboren ist, der sündiget nicht, denn die Geburt aus Gott bewahrt ihn. 1 Joh. 3, 9. Der aus Gnaden Gerechtfertigte und durch den heiligen Geist Geheiligte liebt nicht nur den Schein der Gerechtigkeit, wie der Pharisäer und natürliche Mensch, sondern er liebt und übt die Gerechtigkeit aus Herzenslust; es ist ihm Natur; und Unrecht thun ist ihm widernatürlich - nach der Neuen Natur. - Es ist sein größter Schmerz und Herzeleid, wenn er fehlt und irrt. Einem Gerechten ist nichts unerträglicher, als der pharisäische Schein; darum prüft man sich vor den Flammen-Augen und reinigt sich von allen Befleckungen des Fleisches und Geistes. Wenn der Pharisäer sich selbst gerecht spricht und Gott dankt, daß er nicht ist, wie andere Leute, so sagt der Gerechte durch den Glauben:

Ich finde mehr als Ein Versehen,
Das von mir armen Kind geschehen;
Allein weil ich ein Sünder bin,
So werf ich mich in Demuth hin.
Ich weiß zwar wohl von keinem Bann,
Und fühl es: ich gehör Dir an;
Allein vor Deiner Augen Licht,
Den Feuerflammen taug ich nicht.
Ich geb‘ mich Dir aufs Neue hin
In Deine Hand, so wie ich bin,
Gestalt mich in Dein heilig Bild
Durch Lieb und Schmerz, Herr, wie Du willt.

Der Heiland erklärt nun das Gesetz der Gerechtigkeit, und spricht:

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten; wer aber tödtet, der soll des Gerichts schuldig seyn. Die alten Lehrer hatten das Gesetz so ausgelegt, und man hatte noch Ueberlieferungen von ihren Auslegungen, nach welchen nur der gewaltsame Todtschlag dem gewöhnlichen peinlichen (Criminal-) Gericht unterworfen, und ein strafwürdiges Verbrechen war. Seinen Nächsten hassen, kränken, und auf langsame Art zu Tode martern oder seinen Tod befördern, hielten sie nicht für Sünde. Das war ihre Gerechtigkeit. Darum erklärt es ihnen der Heiland anders, und sagt:

Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racka! der ist des hohen Raths schuldig. Wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Wer freventlich, unnöthig, nur aus Haß, umsonst, ohne gründliche Ursache, und mit leidenschaftlicher Heftigkeit mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig, dem gewöhnlichen Criminal-Gericht unterworfen (5 Mos. 17, 8.), der verdient schon obrigkeitliche Strafe, wie der, welcher einen Mord begangen hat. Denn wer seinen Bruder haßt, der ist ein Todtschläger. Es giebt wohl auch einen gerechten und heiligen Zorn, wie der Zorn Gottes, der ohne Leidenschaft und eine gerechte, ernste, aus Liebe strafende Mißbilligung des Bösen ist; dann giebt es einen Zorn, von dem es heißt: Zürnet und sündiget nicht, lasset die Sonne nicht untergehen über eurem Zorn - besänftiget, versöhnt euch wieder. Man kann gereizt werden zum Zorn, daß es unvermeidlich ist zu zürnen - Man kann bei offenbarer Bosheit und Widerspenstigkeit der Untergebenen, der Kinder rc. zürnen müssen, oder bei andern Gelegenheiten doch so zürnen, daß es nicht so sündlich und strafbar ist, als wie der obgenannte leidenschaftliche Zorn ohne Ursache, aus Haß oder Feindschaft, der dem Mord oder Todtschlag gleich gerechnet wird. Wer aber seinen Nächsten freventlich schimpft mit beleidigenden, kränkenden Worten, als da sind: Racka, Taugenichts, nichtswürdiger Kerl, Schweinhund und dergleichen, wie sie an den verschiedenen Orten üblich sind, der ist des hohen Raths schuldig; das war das Synedrium, welches nur schwere Verbrechen richtete. Also sind solche niederträchtige Schimpfworte, im Zorn und Haß oder aus Rache und mit Bitterkeit ausgestoßen, ein schwereres Verbrechen, als der gewöhnliche Todtschlag, worüber nur die höchste Instanz der Gerechtigkeit auf Erden entscheiden und strafen kann. Solche Schimpfworte sind aber so gewöhnlich, als wenn sie nichts zu bedeuten hätten. Man vergiebt sie sich selbst so leicht, als wenn nichts daran wäre. - Wer aber sagt: du Narr, Bösewicht, Verrückter, Gottloser, oder sonst einen tief verwundenden Lästernamen, den allergröbsten Schimpf gegen seinen Nächsten sich erlaubt, um ihn auf's allerschmerzlichste zu kränken und tödtlich zu verwunden, der ist des höllischen Feuers schuldig, oder, er verdient in das Thal geworfen zu werden, wo ehemals die Molochs-Opfer waren, und nachher alles Aas und Leichen der größten Missethäter hingeworfen und wo zur Verbrennung derselben stets Feuer unterhalten wurde. Da sehen wir, wie ernst Jesus das nimmt, was die Welt und viele Christen so gering achten. Man glaubt, der Zorn, die Schimpfworte und Beleidigungen des Nächsten verhallen in der Luft; nach welchen weiter nicht gefragt wird; aber nach Jesu Lehre und Erklärung ist es anders; sie werden aufgeschrieben, und bleiben unaustilgbar, bis sie durch Buße und Glauben getilgt und vergeben werden. Und das ist die Absicht Jesu, darum erklärt Er das Gesetz so scharf, daß du nämlich solche Versündigungen nicht als Kleinigkeiten verachten, sondern tief bereuen, und um Gnade und Vergebung bitten, dich bessern und bekehren, deinen Nächsten wie dich selber lieben sollst; daß du deine Leidenschaften, deinen Zorn bändigen, deine Zunge im Zaum halten sollst, die so oft wie Spieße und Schwerter verwunden und todten kann. Tausende sind schon mit der Zunge todtgeschlagen, d. i. so verletzt und verwundet worden, daß sie sich zu Tode kränkten, und darüber starben. Da mußt du Buße thun, so gut, wie ein Mörder und Todtschläger, Giftmischer und Mordbrenner. Da hast du Ursache, wie diese, zu beten und zu weinen, abzubitten und dich zu versöhnen, bei Gott Gnade und Vergebung durch Jesum Christum, und ein neues Herz und eine bessere Zunge dir zu erflehen, daß die Liebe ausgegossen werde in dein Herz. Es giebt so viele Mörder in der Welt als es böse Zungen giebt; und in der Hölle werden mehr schwitzen, die mit der Zunge durch Zorn und Haß, Rachsucht und Unversöhnlichkeit getödtet haben, als die mit dem Dolche, oder mit der Keule oder mit Gift umgebracht haben.

Darum, fährt der Heiland fort, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm, und opfere deine Gabe. Eben so sagte der Heiland Marc. 11, 25: Wenn ihr stehet und betet, so vergebet, wo ihr etwas wider Jemand habet, auf daß auch euer Vater im Himmel euch vergebe alle eure Fehle. Wenn ihr aber nicht vergebet, so wird auch euer Vater im Himmel eure Fehle nicht vergeben. Es kann daher unmöglich ein Opfer, ein Gebet, eine Andacht, ein Gottesdienst, oder Abendmahlsgenuß Gott angenehm, und gesegnet seyn, wenn man wissentlich ein unversöhnliches Herz dabei behält; wenn Einem einfällt, wie man irgend einen Nebenmenschen beleidigt, gekränkt, beschimpft hat, und er etwas, einen Groll oder Haß oder Widerwillen gegen uns, oder wir dergleichen gegen ihn im Herzen hegen. Das muß zuerst getilgt, und aus dem Herzen heraus, oder niedergeschlagen werden, so daß man von Herzen beten kann: Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Es ist etwas Schreckliches, mit einem feindseligen Herzen vor Gott stehen und beten oder Gott dienen, loben, anbeten und preisen, von Gott etwas bitten zu wollen. Ebenso, wenn man weiß, daß ein Anderer gegen uns vor Gott klagt, oder Beleidigungen des Nächsten vor Gott gegen uns als Kläger auftreten. Dies muß vor Allem weggeräumt werden, und wir müssen mit Gott und Menschen erst ausgesöhnt werden, und Vergebung von beiden Seiten erhalten haben, ehe wir etwas Gottgefälliges unternehmen wollen.

Zur Zeit der Christenverfolgung in den ersten Jahrhunderten entzweiten sich ein Priester und ein Laie, und wurden einander so feind, daß sie sich auf der Straße nicht einmal grüßen wollten. Nach einiger Zeit fühlte sich Nicephorus, der Laie, besänftigt, und bat den Sapricius wiederholt um Vergebung; der Presbyter aber wollte nicht vergeben. Jener warf sich ihm zu Füßen und bat um des Herrn willen um Vergebung; aber umsonst. In dieser Lage überraschte sie die Verfolgung. Der Priester wird gefangen gesetzt und legt ein gutes Bekenntniß ab. Als er zur Hinrichtung geführt wird, eilt Nicephorus hinzu, begleitet ihn, und da er auch jetzt noch sich weigert zu vergeben, sagt er zu ihm: Sapricius, es ist unmöglich, daß du die Märtyrerkrone erlangst, wenn du nicht vergiebst. Auf dem Richtplatze angekommen, spricht er: „Es steht ja geschrieben: Bittet, so wird euch gegeben werden.“ Aber auch das Wort Gottes selbst, dessen Kraft ihm jetzt so nöthig war, konnte keinen Eindruck auf ihn machen. Plötzlich wird er von Gott verlassen, entsagt dem Christenthume und verspricht zu opfern. Nicephorus bekennt sich als Christ und empfängt an seiner Statt die Märtyrerkrone.

Gott ist die Liebe, lauter Liebe und Erbarmen, Er vergiebt sogar Missethat, Uebertretung und Sünde bis in's tausendste Glied, wie Er denn den Namen hat: Herr, Herr, gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte und Treue. Wer sich daher Ihm nahen, mit Ihm in Verbindung treten und in Gemeinschaft stehen, von Ihm was erflehen will, der muß Ihm auch einigermaßen ähnlich seyn oder werden wollen; der darf doch nicht die entgegengesetzte Gesinnung, Feindseligkeit, Haß, Neid und Zorn gegen seinen Bruder im Herzen hegen, und doch dem Vater der Liebe und Barmherzigkeit sich nahen und mit Ihm sich vereinigen wollen. Was hat Licht und Finsterniß, Feuer und Wasser, Haß und Liebe, Feindseligkeit und Friedfertigkeit für eine Gemeinschaft mit einander? wie können sie Eins werden? Wie kann Kains Opfer, der seinen Bruder haßt, Gott gefallen? Wie kann Gott es ansehen, da er seinen Bruder nicht ansehen, nicht ertragen kann? Darum:

Sey willfährig deinem Widersacher bald, dieweil du noch mit ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht überantworte dem Richter, und der Richter dich überantworte dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Dies erinnert noch mehr an das obige Beispiel der Unversöhnlichkeit jenes Priesters. Hätte er vergeben auf dem Wege zum Martertode, so wäre er durch den Martertod siegreich mit seinem Bruder in die Herrlichkeit Gottes eingegangen; aber da er auf dem Wege nicht willfährig war, sondern selbst der Widersacher und Unversöhnliche gegen den bittenden und liebenden Bruder blieb, so wurde er dem ewigen Richter übergeben, ihm die Gnade des Bekenntnisses des Glaubens entzogen, und dafür Verstockung und ewige Verdammniß sein Loos. Nichts verschließt der Gnade und Liebe Gottes das Herz so sehr, als die Harte des Herzens, die nicht vergeben will, sich nicht versöhnen und erweichen läßt. Gott hat Geduld und wartet, so lange man noch auf dem Weg zur Ewigkeit ist, bis an den Tod; dein ganzes Lebenlang sieht Er dir zu, ob du nicht willfährig werdest, Andern ihre Schulden und Beleidigungen nachzulassen, zu vergeben und zu vergessen, ihnen die Hand zu reichen, ehe du aus der Zeit gehst, und vor dem ewigen Richter erscheinst. Er kommt auf diesem deinem Lebenswege oft an dein Herz, um es zu bewegen und zu ändern durch Seine Gnade, dich aufzufordern zur Versöhnung - aber wenn dies Alles nichts hilft, und du hart und unversöhnlich bleibst, so bleibt dir nichts Anderes als ein unbarmherziges Gericht, und ein unversöhnlicher Richter, und die ewige Verdammniß. Nach dem Tode hat keine Vergebung mehr statt. So lange du noch auf dem Wege bist, kannst du die Hand reichen und Gottes Hand ergreifen; diese ist so lange nach dir ausgestreckt, und sein Schooß dir offen; aber am Ziele, am Ende des Lebensweges, in der Ewigkeit schließt sich der Schooß der Gnade; und die Hand, die, so lange du lebtest, dir Gnade bot, verändert sich in eine richterische, und erhebt sich wider dich, um dich der gerechten ewigen Strafe zu überliefern und in den Kerker zu werfen, wo keine Erlösung mehr seyn wird, wo dein Wurm nicht stirbt und dein Feuer nicht verlischt, denn:

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, du wirst nicht von dannen heraus kommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest. Da hat kein Nachlaß, kein Vergleich mehr statt, wie vorher so leicht hätte geschehen können, wo dir all deine Schuld erlassen worden wäre, wenn du die Hand geboten hättest, und dein Herz sich hätte erweichen lassen; wenn du ebenso vergeben hättest, als du Vergebung von Gott verlangt und gewünscht hast. Es kam nur auf einen Federstrich an, womit du die Schuld deines Nächsten durchstrichen, so hätte Gott auch all deine Schuld und Missethat mit dem Blute Christi durchstrichen, und ihrer ewig nicht mehr gedacht. Aber wenn du dieses nicht thust, und die Schulden des Nächsten nicht vergiebst, so bleibt deine Schuld ewig - so wird dir nicht ein Heller erlassen; und da deine Schulden so groß und schwer sind, daß sie ewige Strafe verdienen, so wirst du auch ewig zu bezahlen haben, und ist an keine Erlösung zu denken. Durch Bezahlung kannst du unmöglich gerettet werden - hier nicht, viel weniger dort - nur durch Erlaß, durch Vergebung, nur durch die Versöhnung und das Lösegeld Christi; und das wird dir nur zugerechnet und geschenket, wenn du deinem Bruder vergiebst und dich versöhnst. Ein Vergleich ist immer besser, als ein Prozeß. Beim Vergleich wird nachgelassen; beim Prozeß wird richterlich streng verfahren, und der letzte Heller gefordert - hier schon bei menschlichen Gerichten; was wird in der Ewigkeit vor dem unbestechlichen gerechten Gerichte Gottes geschehen, der die Person nicht ansieht, und urtheilt und vergilt einem Jeden, wie er es verdient hat.

Wer wird in der Hölle bezahlen? den letzten Heller bezahlen? wer auch nur den ersten Heller? Wenn die Frommen sagen müssen: Meiner Sünden sind mehr, als Haare auf meinem Haupte, als der Sand am Meere - Herr, wenn Du Sünde zurechnest, kann vor Dir kein Lebendiger bestehen - Ich kann Dir auf tausend nicht Eins antworten. Wenn die Gerechten kaum erhalten werden, wie will der Gottlose, der Feindselige, Unversöhnliche, Verstockte bestehen? wie bezahlen? in der Hölle - bis auf den letzten Heller bezahlen?

So laßt uns denn, weil wir auf dem Wege sind, vergeben, vergessen, und gar nicht an Beleidigungen des Nächsten denken; denn man kann uns nie Unrecht thun; wir haben alles verdient; sondern laßt uns nur darauf denken, wie wir Vergebung erlangen, und daß Gott uns und unsern Freunden und Feinden durch Christum gnädig ist, und uns täglich die Schuld erläßt, die Sünden verzeiht und Gnade und Barmherzigkeit widerfahren läßt. Darum heißt uns ja der Heiland bitten, nicht: Vergieb mir, sondern, uns - auch unsern Feinden oder Beleidigern und Schuldigern die Schulden; wie wir ihnen vergeben.

Ihr Kinder des Höchsten, wie steht's um die Liebe?
Wie folgt man dem wahren Vereinigungstriebe?
Bleibt ihr auch im Bande der Einigkeit stehn?
Ist keine Zertrennung der Geister geschehn?
Der Vater im Himmel kann Herzen erkennen,
Wir dürfen uns Brüder ohn‘ Liebe nicht nennen,
Die Flamme des Heilands muß lichterloh brennen

Herz und Herz vereint zusammen,
Sucht in Gottes Herzen Ruh‘,
Lasset eure Liebesflammen
Lodern auf den Heiland zu!
Er ist's Haupt, wir Seine Glieder,
Er das Licht und wir der Schein;
Er der Meister und wir Brüder;
Er ist unser, wir sind Sein.

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