Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 8.

Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 8.

V. 1 bis 5. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer usw. Es ist hinlänglich bekannt, dass die griechischen Kirchenväter diese Geschichte nicht gekannt haben. Deswegen vermuten einige, sie sei anderswoher genommen und hier eingeflickt worden.1) Aber da sie von jeher bei den lateinischen Gemeinden in Aufnahme gewesen ist und auch in sehr vielen alten griechischen Handschriften sich findet, auch nichts, das des apostolischen Geistes unwürdig wäre, enthält, so ist kein Grund vorhanden, dass wir uns sträuben, sie für unseren Gebrauch nutzbar zu machen. Wenn der Evangelist sagt, das Weib sei von den Schriftgelehrten herbeigeführt worden, so meint er damit, dass das nach vorheriger Verabredung unter ihnen geschehen sei, um Christo Nachstellungen zu bereiten. Die Pharisäer erwähnt er besonders, weil sie im Stande der Schriftgelehrten eine hervorragende Stelle einnahmen. Wenn sie nun gerade diesen Ehebruchsfall zum Vorwande benutzen, um etwas zu erhaschen, was sich zu Jesu Verderben ausbeuten ließ, so offenbarte sich hierin ihre ganze Abscheulichkeit. Ihr eigener Mund verrät sie. Sie machen nämlich kein Hehl daraus, dass sie eine klare Gesetzesvorschrift besitzen. Was fragen sie denn dann noch? Die Sache ist ihnen doch gar nicht zweifelhaft! Sie fragen aus bösem Willen; sie wollen Jesum zwingen, seine Gnadenpredigt einzustellen. Er soll vor dem Volke dastehen als einer, der seine Fahne nach dem Winde dreht, als seiner Sache selbst nicht gewiss. Deshalb erwähnen sie mit kluger Berechnung, dass Moses die Ehebrecherinnen verdammt. Sie wollen Jesum damit irremachen und ihm die Hände binden. Jemanden, den das Gesetz verdammte, freizusprechen, wäre ja nicht recht gewesen. Hätte Jesus nun gesagt: Gut, verfahrt nach dem Gesetz und steinigt sie! – so hätte das Volk gedacht: damit schlägt er seiner ganzen bisherigen Predigt ins Angesicht.

V. 6. Aber Jesus bückte sich nieder. Mit dieser Bewegung zeigte er deutlich, wie sehr er die Handlungsweise der Schriftgelehrten verachtete. So ist es vollständig überflüssig, zu fragen, was Jesus geschrieben habe. Er wendet sich einfach zu irgendeiner gleichgültigen Tätigkeit ab, um zu zeigen: Ihr seid es gar nicht wert, dass ich euch anhöre! So ist es ja auch zu verstehen, wenn jetzt jemand während der Rede eines anderen mit seinem Finger an einer Stubenwand Linien beschreibt, oder ihm den Rücken zukehrt oder anderswie zeigt, dass er auf seine Rede nicht achtet. Satan versucht in unserer Zeit alles Mögliche, um uns von der rechten Art der Lehre abzubringen. Da gilt es auch, gar manches, was er uns in den Weg legt, mit gründlicher Verachtung zu behandeln. Man kann unmöglich all das Geschwätz, dass sich wider unseren Glauben erhebt, im Einzelnen beantworten. Wer sich in ängstlicher Gewissenhaftigkeit damit abplagen will, der fängt etwas an, womit er nie zu Ende kommt. Es wäre verlorene Mühe und bedeutete nur eine Verzögerung für den fröhlichen Lauf des lauteren Evangeliums. Deshalb ist das Klügste, gar nicht auf alle diese Angriffe zu hören.

V. 7 u. 8. Der werfe den ersten Stein. Das sagt Jesus nach dem in 5. Mo. 17, 7 niedergelegten gesetzlichen Brauch. Gott befiehlt dort: die Zeugen, nach deren Aussage das Urteil gefällt worden ist, sollen eigenhändig die Übeltäter und Frevler zu Tode bringen. Das war heilsam zur Einschärfung der genauesten Wahrhaftigkeit in Zeugenaussagen. Wie flink sind viele damit bei der Hand, mit einem gewissenlosen Eide den Bruder unglücklich zu machen. Sie bedenken gar nicht, dass ihre Zunge es ist, die dem anderen die Todeswunde beibringt. Das bedachten auch die Ankläger jenes ehebrecherischen Weibes nicht. War die Aufgabe gestellt: ihr verklagt sie, nun wohl, so werfet sie auch zu Tode! – schrecken sie zurück und werden ganz kleinlaut, nachdem sie sich vorher so entrüstet gebärdet hatten. Doch Jesus sagt noch etwas mehr, als was in jenem Gesetzesworte steht. Dort mahnt Gott nur: mache dir ein Gewissen daraus, den mit deiner Zunge des Todes schuldig zu sprechen, bei dem du dir ein Gewissen machen müsstest, mit eigener Hand das Todesurteil zu vollstrecken. Christus fordert hier von den Zeugen eine vollkommene Unschuld; nur der soll die Vollstreckung des richterlichen Urteils in die Hand nehmen, der ohne den geringsten Makel in seiner ganzen Lebensführung ist. Er sagte das damals nur zu einigen Menschen. Es gilt jedoch allen. Wer einen anderen anklagt, soll von sich selber einen vollkommen reinen Lebenswandel verlangen. Tut er das nicht, so ist seine Anklage nur dem Hass gegen einen bestimmten Menschen entsprungen, nicht aber dem von Gott geforderten Hass gegen die Sünde.

Freilich scheint es, dass Christus den Bestand jedes gerichtlichen Verfahrens gefährdet, wenn er in dieser Weise die Menschen einschüchtert, als Ankläger aufzutreten. Könnte man auch irgendeinen Richter finden, der nicht in irgendeinem Stück ein böses Gewissen haben müsste? Und welche Zeugen könnten ohne jedes eigene Schuldbewusstsein dastehen? Demgegenüber ist doch zu sagen, dass wir es hier nicht mit einem runden und bedingungslosen Verbot Christi zu tun haben, wonach niemals ein Sünder pflichtgemäß in einem Strafverfahren mitwirken dürfte. Vielmehr will der Herr nur den heuchlerischen Sittenrichtern eine Warnung erteilen, nicht gar zu streng und rau wider andere aufzutreten, während sie doch ihre eigenen Fehler hegen und pflegen. Eigene Sünden sind kein Hindernis, die Besserung eines anderen zu erstreben, ja, wenn nötig, ihn um seiner Sünden willen zu strafen, wenn nur der Betreffende in gleicher Weise, wie an dem anderen, auch an sich selber alles Verdammliche verabscheut. Jedenfalls heißt es damit beginnen, dass man zuvor sein eigenes Gewissen befragt und gegen sich selber Ankläger und Strafrichter ist, bevor man das gegenüber anderen zu sein sich unterfängt. Dann erst ist es sicher, dass wir nicht Menschen hassen, sondern einen unerbittlichen Krieg gegen die Sünde führen.

V. 9 u. 10. Von ihrem Gewissen überführt. Eine Kundgebung der wunderbaren Gewalt des bösen Gewissens! Die gottlosen Heuchler haben sich vorgenommen, mit ihren schlau ausgesonnenen Reden Christum in eine Falle zu locken. Und was geschieht? Sie stieben auseinander, als ein einziges Wort aus seinem Munde ihr krankes Gewissen trifft. Man rufe solche Leute in der Weise, wie es Christus uns hier zeigt, vor den Richterstuhl Gottes. Das ist der wuchtige Hieb, unter dem ihr Hochmut in Stücke bricht. Indes gibt es auch solche, bei denen eine Beschämung vor anderen Menschen mehr ausmacht, als der Hinweis auf Gottes Gericht. Ein ergreifendes Schauspiel, wie sie da sich selber schuldig sprechen, indem sie voller Bestürzung davonlaufen! Auch das ist zu beachten, dass die Höchstgestellten unter ihnen rascher vom Schuldgefühl überwältigt werden, als die, welche einen niedrigeren Rang einnehmen. Indes ist das Schuldgefühl, das damals in den Schriftgelehrten erwachte, doch sehr verschieden von dem eines wahrhaft bußfertigen Menschen. Der verkriecht sich nicht in einem Versteck vor dem Angesichte des Richters, sondern geht aufrichtig und ehrlich zu ihm hin und bittet ihn um Vergebung.

Jesus ward gelassen allein. Das war eine Wirkung des Geistes der Weisheit, dass die Gottlosen, ohne ihre Pläne durchgesetzt zu haben, Christum verlassen mussten. Ohne Zweifel werden auch wir jeglichen Ränken der Feinde überlegen sein, wenn wir uns nur auch von diesem Geiste der Wahrheit regieren lassen. Nur darum unterliegen wir so oft, weil wir in Unterschätzung ihrer Angriffe zu wenig nach gutem Rat fragen und im Vertrauen auf eigene Weisheit nicht bedenken, wie nötig uns die Leitung des göttlichen Geistes ist. Es heißt hier, Christus sei allein da geblieben, - nicht weil das Volk, das er vorher belehrte, fortgegangen wäre, sondern weil die Schriftgelehrten, die das ehebrecherische Weib vorgeführt hatten, sämtlich ihn nicht weiter belästigten. Wenn wir dann hören, wie das Weib bei Christo bleibt, so können wir an ihr lernen: Es gibt für uns nichts Besseres, als vor seinen Richterstuhl als schuldig gestellt zu werden. Nur das Eine darf nicht fehlen: dass wir uns in Sanftmut und Gehorsam seinem Urteil unterwerfen.

V. 11. So verdamme ich dich auch nicht. Es heißt hier nicht, Jesus habe sie von der vorgebrachten Anklage freigesprochen, sondern nur: er hat sie frei ihres Weges gehen lassen, was nicht zu verwundern ist, da er ja nicht unternehmen wollte, was sich mit seinem Heilandsberufe nicht vertrug. Der Vater hatte ihn gesendet, die verlorenen Schafe um sich zu sammeln; so ist es denn ganz seinem Amte entsprechend, wenn er das Weib zur Buße ermahnt und ihr das Herz froh macht durch Anbietung der göttlichen Gnade. Wer aus dieser Stelle die Schlussfolgerung ziehen will, dass die weltlichen Gerichte keine Strafe für Ehebruch verhängen dürfen, der kann gerade so gut behaupten, dass man auch kein Erbe teilen dürfe. Christus hat ja auch darin seine Hand nicht haben wollen (Luk. 12, 14). Aber wohin geriete man damit? Schließlich würde man kein Verbrechen mehr bestrafen; damit aber würde Tür und Tor offen stehen für alle Arten der Treulosigkeit, Giftmischerei, Mord, Diebstahl. Nimm hinzu, dass eine Ehebrecherin, wenn sie ein uneheliches Kind als ehelich ausgibt, ihm nicht nur einen Namen stiehlt, der ihm nicht zukommt, sondern auch der rechtmäßigen Nachkommenschaft das Erbe schmälert. Das Schlimmste dabei ist und bleibt natürlich, dass ein Weib, das einem Mann gehörte, diesem zur Schande sich in gemeinster Weise preisgibt und zugleich den von Gott eingesetzten Bund verletzt, dessen Heilighaltung so wichtig ist, dass ohne sie alle Zucht und Sitte in der Welt ein Ende haben würde.

Alles in allem: Gewiss vergibt Christus den Menschen ihre Sünden, aber doch nicht so, dass er nun alle staatliche Ordnung über den Haufen würfe. Er denkt nicht daran, gerichtliche Urteile und gesetzliche Strafen abzuschaffen.

Sündige hinfort nicht mehr. Hieran können wir merken, worauf die Gnade Christi hinaus will: der mit Gott versöhnte Sünder soll durch ein frommes, heiliges Leben hinfort den, der ihn gerettet hat, ehren. Eben dasselbe Wort, das uns die Verzeihung anbietet, ruft uns zugleich zur Buße. Diese Aufforderung deutet vor allem auf die Zukunft, zugleich aber demütigt sie den Sünder im Blick auf sein früheres Leben.

V. 12. Ich bin das Licht der Welt. Diejenigen Ausleger, welche über die eben betrachtete Geschichte hinweggehen, bringen diese Rede in unmittelbaren Zusammenhang mit jener Rede, die Jesus am letzten Tage des Laubhüttenfestes hielt. Übrigens eine wunderschöne Bezeichnung für Christum: Licht der Welt. Wir alle sind von Natur blind. In ihm haben wir das Heilmittel für unsere Blindheit. Durch ihn aus der Finsternis erlöst und befreit, sind wir des rechten Lichtes teilhaftig. Aber diese Wohltat kommt nicht nur diesem oder jenem zugute. Christus nennt sich ja das Licht der ganzen Welt. Durch dieses hochwichtige Wort wollte er nicht nur den Unterschied zwischen Juden und Heiden, nein, auch den zwischen Gelehrten und Ungelehrten, zwischen Hoch und Niedrig aufheben. Doch ist vor allen Dingen zu beachten: wir müssen das Licht suchen. Niemand wird Jesum um seine Erleuchtung bitten, der nicht vorher erkannt hat, dass diese Welt in der Finsternis liegt, und dass wir ganz und gar blind sind. Lasst uns also nicht vergessen: Wenn uns gezeigt wird, wie wir in Christo das Licht erlangen können, dann wird uns zugleich das Urteil gesprochen: Ihr alle seid blinde Leute! Sind wir aber doch der Meinung, es gäbe auch anderwärts noch Licht, so begeben wir uns damit in Nacht und tiefe Finsternis hinaus. Daraus folgt, dass es außer Christo kein Fünkchen wahres Licht gibt. Ja, es glänzt auch einmal etwas in der Welt ohne Christus, aber kein wohltuendes Licht, sondern ein greller Blitz, der nur die Augen blendet. Doch sollen wir wissen, dass die Kraft der Erleuchtung nicht an Christi körperliche Gegenwart gebunden ist: obgleich der Herr leiblich uns jetzt ferne ist, so lässt er uns doch sein Licht täglich durch die Lehre des Evangeliums und die verborgene Wirkung seines Geistes zufließen. Was dies Licht ist, begreifen wir indessen nicht eher vollständig, als bis wir gelernt haben, uns vom Evangelium und vom Geiste Christi erleuchten zu lassen. Dann wissen wir: in ihm sprudelt der Quell alles Wissens und aller Weisheit.

Wer mir nachfolgt usw. Erst die Lehre, dann die Aufforderung und gleich danach die Verheißung. Wenn wir hören, dass ein Mensch, der sich der Leitung Christi anvertraut, niemals irre gehen kann, so muss uns das zur Nachfolge anspornen; ja Jesus zieht uns mit seiner ausgestreckten Heilandshand in seine Nachfolge hinein. Eine so weit ausgespannte, großartige Verheißung muss für uns schwer ins Gewicht fallen. Wer nur auf Christum die Augen richtet, der soll, und ginge es mitten durch die Finsternis hindurch, immer dessen gewiss sein: Ich bin auf sicherem, gutem Wege! Ja, und das ist er nicht nur eine Strecke weit, sondern so lange, bis das Ziel glücklich erreicht ist. Das liegt in den Worten: der wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Es ist also nicht zu befürchten, dass das Licht unterwegs erlischt; nein, es führt bis zum Leben. „Licht des Lebens“ bedeutet, wie aus ähnlichen Zusammensetzungen, die im Hebräischen häufig sind, zu sehen ist: lebendig machendes Licht. Nun kann es uns nicht Wunder nehmen, dass sich eine so undurchdringliche Dunkelheit, bestehend aus tausenderlei Irrtum und Aberglauben, in der Welt lagert; es sind ja auch nur wenige, die wirklich auf Christum schauen.

V. 13. Da sprachen die Pharisäer usw. Sie machen ihm die landläufigen Einwand: Niemand ist in eigener Sache als glaubwürdig zu behandeln. „Wahres Zeugnis“ ist so viel als: vollgültiges Zeugnis, dem man Glauben schenken darf. Sie geben ihm zu verstehen: alle deine Worte sind verschwendet, wenn du niemanden hast, der sie uns verbürgt.

V. 14. So ich von mir selbst zeugen würde, so ist mein Zeugnis wahr. Christus gibt zur Antwort: trotzdem sei sein Zeugnis hinreichend glaubwürdig und vollwichtig, er sei ja nicht wie ein Mensch, wie man ihn alle Tage zu sehen bekommt, sondern etwas weit anderes. Denn wenn er hier sagt, er wisse, woher er gekommen sei und wohin er gehen werde, so sagt er damit: Ich mache eine Ausnahme von der gewöhnlichen Schar der Menschen. Der Sinn ist also der: Während ein jeder, der in eigener Sache spricht, für verdächtig angesehen wird, und es sogar gesetzlich festgelegt ist, dass man einem Menschen, der für sich selbst das Wort führt, nicht ohne weiteres glauben soll, so ist diese Regel nicht anzuwenden auf den Sohn Gottes, der über die ganze Welt erhaben ist. Ihn darf man nicht mitten unter die anderen stellen; ihm hat der Vater das Vorrecht gegeben, dass sein bloßes Wort jedem Menschen genug sein muss.

Ich weiß, von wannen ich kommen bin. Damit sagt Jesus frei heraus: Mein Ursprung ist nicht in der Welt, sondern in Gott; und deshalb ist es unbillig und grundverkehrt, an meine Lehre, die ja von Gott selber stammt, derartige menschliche Maßstäbe anlegen zu wollen! Aber weil er damals in Knechtsgestalt und fleischlicher Niedrigkeit den Juden ein Gegenstand der Verachtung war, so weist er sie als leuchtenden Beweis seiner bis dahin verborgenen und unerkannten Gottheit auf seine zukünftige glorreiche Auferstehung hin. Deshalb durfte seine jetzige Seinsweise kein Hindernis für die Juden bilden, sich ihm als dem einzig gerarteten Gottesboten, der ihnen längst im Gesetz verheißen war, zu unterwerfen. Wenn er betont: Ich weiß es, - ihr wisst es nicht, - so sagt er damit: Meine Herrlichkeit wird um nichts geringer dadurch, dass ihr nicht an sie glaubt! Haben nun auch wir solches Zeugnis empfangen, so muss unser Glaube alles Widersprechen und Toben der Gottlosen verächtlich bei Seite schieben. Nur wenn der Glaube höher ist, als alle Höhe in der Welt, vermag er sich fest in Gott zu gründen. Soll aber die Herrlichkeit des Evangeliums uns völlig gewiss werden, so müssen wir unverwandt auf Christi himmlische Herrlichkeit schauen und seine Worte, die er in der Welt redet, uns derart zu Herzen nehmen, dass wir stets daran denken, woher er gekommen ist, und welch eine Herrschaft jetzt, da er seines Auftrages sich entledigt hat, in seinen Händen liegt. Nur für kurze Zeit hat er sich erniedrigt. Jetzt sitzt er wieder zur Rechten des Vaters, und alle Knie sollen sich vor ihm beugen.

V. 15. Ihr richtet nach dem Fleisch. Das kann entweder heißen: Ihr urteilt aus eurer argen, fleischlichen Gesinnung heraus, oder: Ihr urteilt nach dem, was vor Augen ist. „Fleisch“ steht ja bisweilen für die äußere Erscheinung des Menschen. So oder so verstanden, hat die Stelle einen guten Sinn, denn mögen die fleischlichen Gelüste vorherrschen oder aber im Gericht persönliche Ab- oder Zuneigung entscheiden, in beiden Fällen fehlt es an Recht und Billigkeit. Ich glaube jedoch, dass der Sinn klarer ist, wenn wir hier Fleisch als Gegensatz von Geist nehmen; dann spricht Jesus den Juden die Befähigung zu richterlicher Entscheidung ab mit Berufung darauf, dass sie sich nicht von Gottes Geist leiten lassen.

Ich richte niemand. Das meint Jesus nicht allgemein, sondern nur für den vorliegenden Fall. Denn die Rede fährt ja fort: wenn ich aber richte, so ist mein Gericht recht. Dass Jesus jetzt nicht richtet, sagt er im Gegensatz zu seinen hochmütigen Feinden, die es nicht einmal vertragen konnten, dass er einfach als Lehrer, gar nicht einmal als Richter, auftrat.

V. 16. So ich aber richte. Eine Ergänzung des Vorigen. Es soll nicht so aussehen, als wolle Jesus sich seines guten Rechtes entäußern. Wenn ich richte, sagt er, so ist mein Gericht recht, d. h. unanfechtbar. Das ist aber deshalb, weil er nur nach dem Gebote des Vaters handelt. Mit dem Sätzchen: Ich bin nicht allein, will Jesus sagen: Ich bin nicht ein gewöhnlicher Mensch; ihr müsst auch das Amt mit in Betracht ziehen, welches mir der Vater übertragen hat! Doch weshalb redet er nicht, wie er mit Wahrheit gekonnt hätte, klar von seiner Gottheit? Jesus beruft sich eben viel lieber auf den Vater und dessen unbestreitbare Gottheit, weil seine eigene Herrlichkeit unter der Hülle des Fleisches verborgen war. Seine Rede will jedoch erreichen, dass man alles, was er tut und lehrt, als göttlichen Ursprungs ansehen soll.

V. 17 u. 18. Dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei. Die Berufung auf diesen Satz scheint auf den ersten Blick unzutreffend, weil ja niemand in eigener Sache als Zeuge auftreten soll. Wir wollen uns aber dessen erinnern, was wir schon sagten, dass für Christum eine Ausnahme gilt: er darf nicht mit dem Maße für Privatleute gemessen werden, wie er ja auch nicht seine eigene Sache führt. Wenn sich übrigens Jesus hier vom Vater unterscheidet, so tut er dies in Rücksicht auf das Verständnis der Zuhörer, weiter aber auch im Blick auf sein Amt: stand er doch als Diener des Vaters da, auf den er also seine Lehre durchaus zurückführen muss.

V. 19. Wo ist dein Vater? Ohne Zweifel war das nur eine spöttische Frage. Verächtlich, wie alles andere, was Jesus sagt, nehmen die Juden auch das auf, was er von seinem Vater sagt, und treiben dabei ihren Hohn damit, dass er so großartig von seinem Vater prahle, gleich als stamme er vom Himmel. Sie lehnen es also mit diesen Worten ab, auf den Vater Christi so viel Wert zu legen, dass sie um desselben willen dem Sohne irgendwie mehr trauen sollten. Was wir hier vor uns sehen, das ist in unserer Zeit etwas unglaublich Verbreitetes: eine freche Verachtung Christi. Wenige sind es, die ihn für den von Gott Gesendeten halten.

Ihr kennt weder mich, noch meinen Vater. Jesus würdigt die Gegner keiner direkten Antwort, sondern wirft ihnen in aller Schärfe ihre Unwissenheit vor, in der sie sich jedoch ganz wohl fühlten. Sie fragten nach dem Vater und hatten dabei den Sohn leibhaftig vor Augen; sie sahen und sahen doch nicht. Das war die gerechte Strafe für ihren Hochmut sowohl, als für ihren schändlichen Undank, dass sie, die den Sohn Gottes verachtet hatten, der sich ihnen so vertraulich zeigte, niemals zum Vater kamen. Wie könnte auch ein sterblicher Mensch zu dem hocherhabenen Gottes emporsteigen, außer wenn die eigene Hand Gottes ihn emporhebt? Gott hat sich nun in Christo zu uns niedrigen Menschen herabgelassen, um uns die Hand hinzuhalten. Wer diese Hand zurückstößt, ist der es nicht wert, dem Himmel fern zu bleiben? Was Christus hier sagt, gilt jedem von uns: Wer nach Gott verlangt, aber nicht bei Christo anfangen will, der läuft notwendig wie in einem Irrgarten umher. Eine wahre Gotteserkenntnis ist für den unerreichbar, der Christum beiseitelässt, und, den Riesen der griechischen Sage gleich, den Himmel stürmen will. Wer dagegen alle seine Gedanken auf Christum richtet, der wird auf geradem Wege zum Vater geführt werden. Es ist genau so, wie der Apostel (2. Kor. 3, 18) sagt, dass wir nämlich durch den Spiegel des Evangeliums in der Person Christi die Klarheit Jehovahs mit aufgedecktem Angesichte sehen. Das ist die unvergleichliche Belohnung, die der Glaubensgehorsam erhält, dass jeder, der sich vor Christo demütigt, hindurchdringt über alle Himmel hinaus bis zu den Geheimnissen, welche die Engel bewundern und anbeten.

V. 20. Diese Worte redete Jesus usw. Der Gotteskasten war ein Bestandteil des Tempels. Es wurden darin heilige Stiftungen, Gaben von Hab und Gut, niedergelegt. Es war also ein besuchter Ort. Daraus entnehmen wir: Christus hat diese Rede vor einer großen Menschenmenge gehalten. Das Volk sollte umso weniger Entschuldigung haben. Der Evangelist weist bei dieser Gelegenheit auf die wunderbare Macht Gottes hin; sie waren gezwungen, Christum, der mitten im Tempel lehrte, gewähren zu lassen – und hatten doch erst kurz vorher den Versuch gemacht, ihn zum Tode zu schleppen. Sie hatten ja im Tempel unbeschränkte, alleinige Gewalt; sie konnten dort schalten und walten nach Laune und Willkür. Es bedurfte nur eines Winkes von ihrer Seite, so ward Christus hinausgeworfen. Da wagt er es, des Lehramtes zu walten. Weshalb legen sie denn nicht gewaltsam Hand an ihn? Gott hat ihn erhört, Gott hat ihn unter seinen Schutz genommen. Diese Wölfe und Tiger sollten ihm kein Leid antun, obwohl er wehrlos vor ihrem gierigen Rachen stand. Der erneute Hinweis darauf, dass Jesu Stunde noch nicht gekommen war, mag uns lehren, dass es nicht von der Menschen, sondern von Gottes Willen abhängt, ob wir leben oder sterben.

V. 21. Ich gehe hinweg. Als Jesus sieht, dass er bei diesen hartnäckigen Menschen nichts erreicht, kündet er ihnen ihr Verderben an. Hier ist die Rede von dem Ende, das alle Verächter des Evangeliums nehmen. Das Evangelium wird ja nicht bloß in den Wind hinein gesät, - es ist vielmehr ein Geruch des Lebens oder aber des Todes. Die Gottlosen werden es einmal verspüren, wie schrecklich sie sich selber geschädigt haben, indem sie Christus verwarfen, obwohl er sich ihnen aus freiem Willen darbot, - leider nur zu spät, wenn für Buße kein Raum mehr sein wird. Und um sie durch die Nähe der Strafe desto mehr zu erschrecken, sagt Jesus zuerst, er werde in kurzem schon weggehen. Dadurch deutet er an: es wird ihnen nur noch kurze Zeit hindurch das Evangelium gepredigt; lassen sie diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen, so wird nicht immer angenehme Zeit und Tage des Heils sein. So geht es auch heute.

Gehe Christo eilends entgegen, wenn er an deine Türe klopft! Er möchte sich sonst, verdrossen wegen deiner Trägheit, dir entziehen. Sicherlich hat man es zu allen Zeiten erfahren, wie sehr dies Weggehen Christi zu fürchten ist. Aber zunächst haben wir im Auge zu behalten, wie diejenigen, von denen hier gehandelt wird, Christum wohl gesucht haben. Hätten sie sich wahrhaft zu ihm bekehrt, so hätten sie ihn nicht vergeblich gesucht. Es ist ja keine Lüge, wenn er verheißt, zur Stelle zu sein, sobald der Sünder nach ihm seufzt. Christus meint also nicht, sie würden ihn dereinst auf dem rechten Wege, dem Wege des Glaubens, suchen; er denkt vielmehr an solche Stunden äußerster Angst und Not, in denen die Menschen Hilfe um jeden Preis, und bei wem es immer sei, suchen. Die Ungläubigen hätten es ja ganz gerne, dass Gott ihnen gnädig wäre; dennoch aber hören sie nicht auf, ihn zu fliehen. Gott ruft sie; der Zugang zu ihm liegt einzig in Buße und Glauben. Aber sie setzen Gott ihre Herzenshärtigkeit entgegen, und wenn sie einmal von Verzweiflung zerbrochene Leute sind, dann knirschen sie mit den Zähnen. Alles in allem: weit entfernt davon, nach Gott zu verlangen, schneiden sie ihm selbst alle Möglichkeit ab, ihnen zu helfen; helfen könnte ihnen Gott nur, wenn er seine heilige Gottheit verleugnen würde, - und das wird er niemals tun. So gottlos auch die Schriftgelehrten waren, sie hätten gerne ihren Teil an der Erlösung erwischt, die der verheißene Messias brachte, hätte nur Christus sich ihnen mundgerecht machen wollen! So drohte denn Christus allen Ungläubigen an: Ihr werdet, nachdem ihr mein Evangelium verachtet habt, noch einmal so ins Gedränge kommen, dass ihr euch gezwungen sehen werdet, zu Gott zu schreien; alles Heulen aber wird euch nichts helfen! So muss es gehen, denn, wie schon gesagt, sie suchen ihn dann, und suchen ihn doch nicht recht. Das aber wird deutlich genug in dem Sätzchen gesagt: Ihr werdet in eurer Sünde sterben. Das ist die Ursache ihres Untergangs, dass sie bis zuletzt Gott den Gehorsam verweigern werden als Empörer gegen sein Regiment. Was unter dieser „Sünde“ zu verstehen ist, werden wir gleich (zu V. 24) sehen.

V. 22. Will er sich denn selbst töten? Die Schriftgelehrten fahren nicht nur fort, den Herrn Jesus mit stolzer Verachtung zu behandeln: sie kehren ihre ganze Frechheit heraus. Sie treiben ihren Spott mit seinen Worten: Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. Was machen sie daraus? Er will Selbstmord begehen; freilich, da können wir ihm nicht nach, denn das ist eine Sünde! Dass Christus einmal fern sein wird, macht ihnen durchaus keinen Eindruck; dann meinen sie erst recht die Herren der Lage zu sein. Deshalb mag er ihretwegen anderwärts tun und lassen, was ihm gefällt. Welch schauerliche Stumpfheit! So versteht Satan die Verworfenen zu verblenden! Wahnsinnstrunken geben sie sich der verzehrenden Flamme des göttlichen Zornes preis. Sehen wir heutzutage nicht bei vielen dieselbe blinde Wut? Mit abgestumpftem Gewissen hören sie die Verkündigung des grauenvollen göttlichen Gerichtes; sie machen nur ihre schlechten Witze darüber, als wäre hier ein Gegenstand zum Lachen! Es ist indes kein fröhliches Lachen aus Herzensgrunde, sondern ein erzwungenes, bei dem ihnen selber unheimlich zu Mute ist.

V. 23. Ihr seid von unten her. Ihr Unwürdigkeit lag nun klar am Tage. So versucht Jesus nicht länger zu belehren, sondern greift zu den einschneidendsten Vorwürfen gegen sie. Er sagt es hier frei heraus: Ihr könnte meine Lehre gar nicht begreifen, denn ihr seid innerlich auf das Reich Gottes gar nicht angelegt! Unter „von unten“ und „von der Welt her sein“ versteht Jesus die ganze natürliche Begabung des Menschen. So stellt er fest: sein Evangelium ist allem Scharfsinn des Menschengeistes unerfassbar; denn das Evangelium ist himmlische Weisheit; unsere menschlichen Gedanken aber haften an der Erde. Es wird sich also nur der zum Jünger Christi eignen, den er durch seinen Geist gebildet hat. Davon kommt es, dass Glaube in der Welt etwas so Seltenes ist; denn von Natur ist die ganze Menschheit Christo abgeneigt und feindlich, und nur diejenigen machen davon eine Ausnahme, denen er selbst durch besondere Begnadigung seines Geistes einen Zug nach oben gibt.

V. 24. Dass ihr sterben werdet in euren Sünden. Oben hieße es (V. 21): „In eurer Sünde“, hier lesen wir: „In euren Sünden“. Im Wesentlichen ist der Sinn der gleiche hier wie dort. Nur wollte Jesus mit der Einzahl den Unglauben als die Grundsünde und den Quell alles Bösen bezeichnen. Ist auch dieser Unglaube nicht gerade die einzige und allein verdammenswerte Sünde, wie einige übertreibend behaupten, so ist er es doch jedenfalls, der uns von Christo scheidet und seiner Gnade beraubt, die uns allein von allen Sünden befreien kann. Mit hartnäckiger Bosheit verweigern die Juden, die ihnen angebotene Arznei zu kosten. Das hat ihnen den Tod gebracht. Von nun an häufen sie als willenlose Werkzeuge Satans Sünde auf Sünde, Schuld auf Schuld.

Darum fährt Jesus auch fort: So ihr nicht glaubt, dass Ich es sei. Verlorene Menschen können auf keine andere Weise gerettet werden als dadurch, dass sie ihre Zuflucht zu Christo nehmen. Auf der Wendung: „dass Ich es bin“ liegt ein kräftiger Nachdruck. Wir sollen uns dabei alles das vergegenwärtigen, was die Schrift vom Messias sagt und uns von ihm zu hoffen lehrt: das Hauptstück, ja der Inbegriff dessen, was er bringen soll, ist die Wiederherstellung der Gottesgemeinde, die nur durch das Licht des Glaubens geschehen kann, aus welchem dann Gerechtigkeit und neues Leben fließen.

V. 25. Von Anfang. Dieser rätselhafte Satz hat die mannigfaltigsten Deutungen erfahren. Manche Ausleger übersetzen mit einem Umstandswort: „anfänglich“, „erstlich“ oder ähnlich2). Meiner Meinung nach will Jesus jedoch sagen: „Von Anfang“ bin ich! Nicht plötzliche bin ich erschienen, sondern wie ich längst geweissagt war, so bin ich jetzt gekommen.

Wenn Jesus dann fortfährt: demgemäß ich denn auch zu euch rede, so gibt er zu verstehen, dass er schon hinreichend klare Auskunft über seine Person erteilt hat, - wenn man nur hören wollte! So verbindet er seine gegenwärtige Lehre in einer solchen Weise mit seinem Ausgang von Uranfang, dass dieselbe durchaus zur Bestätigung dieser Tatsache dienen muss. Was Jesus jetzt predigt und für sich in Anspruch nimmt, ist nichts anderes, als was Gott den Vätern im alten Bunde verheißen, und was die Propheten geweissagt haben. Wussten also die Juden wirklich nicht, wer Jesus war, so lag dies lediglich daran, dass sie weder den Propheten noch dem Evangelium Glauben schenkten: denn hier wie dort wird ein und derselbe Christus gepredigt. Sie wollten Schüler der Propheten und Glieder des ewigen Bundes Gottes sein, - und verwarfen dabei den Christus, der von Anfang verheißen war und nun greifbar vor ihnen stand!

V. 26. Ich habe viel von euch zu reden. Weil Jesus sah, dass er unnütze Arbeit tun würde, wenn er noch weiter redete, so brach er ab. Er sagt nur das noch sehr nachdrücklich, dass Gott der Rächer sein wird über die Lehre, welche sie verachten; denn diese Lehre stammt von Gott. Er will sagen: Wollte ich euch anklagen, so hätte ich Stoff in Hülle und Fülle; den böte mir euer arges, gottloses Denken und Tun. Aber ich will es dabei bewenden lassen. Der Vater aber, der mich zu lehren beauftragt hat, wird euch nicht so leichten Kaufes entrinnen lassen. Es ist in seinem Wesen notwendig begründet, dass er sein Wort verteidigen muss gegen die Verachtung der Menschen, die gottloserweise dies Heiligtum antasten. –

Nahe verwandt mit diesem Worte ist ein Ausspruch des Paulus (2. Tim. 2, 13): „Glauben wir nicht, so bleibt Er treu; er kann sich selbst nicht verleugnen“. Dann erst gewinnt unser Glaube volle Festigkeit, wenn er sich mit Gott ganz allein zufrieden gibt, der seine Wahrheit schon stützen wird, wenn auch die ganze Welt sich dawider auflehnt. Wer auf den Schutz Gottes vertraut und in wahrem Glauben Christo dient, der kann kühnlich die ganze Welt der Lüge zeihen.

Was ich von ihm gehört habe, das rede ich. Jesus trägt durchaus nichts vor, was er nicht aus des Vaters eigenem Munde hat. Eine andere Bürgschaft für reine Lehre gibt es nicht, als diese. Zeigst du, dass das, was du sagst, von Gott selber kommt, so ist es gut. Christus war der treue Diener Gottes; deshalb ist es nicht zum Verwundern, wenn er Gehör verlangte. Er brachte ja den Menschen nur, was Gott ihm aufgetragen hatte. Übrigens schreibt er mit seinem Verhalten der gesamten Kirche das Gesetz vor: Niemand darf Gehör finden, der nicht genau nach dem Munde Gottes redet. So wirft er auf der einen Seite alle Anmaßung der Menschen nieder, die es wagen, in der Kirche Gehör zu verlangen für das, was sie vorbringen, ohne sich auf Gottes Wort wirklich stützen zu können; auf der anderen Seite aber unterweist er auch alle wahren Lehrer des göttlichen Wortes, die mit gutem Gewissen den von Gott ihnen anvertrauten Beruf ausüben, und wappnet sie mit beherzter Freudigkeit, dass sie sich von Gott führen lassen und kecklich zum Angriff übergehen gegen jeden, der Menschenmeinungen gegen sie ins Feld führt.

V. 27. Sie vernahmen aber nicht usw. Wie macht doch Satan die Menschen dumm, deren Herz ihm gehört! Es war mit Händen zu greifen, dass Christi Worte die Juden vor den Richterstuhl Gottes rufen wollten. Sie aber sind mit völliger Blindheit geschlagen und merken nichts davon. So geht es den Feinden des Evangeliums noch heute. Deshalb muss uns solche Verblendung zu ängstlicher Wachsamkeit anleiten.

V. 28. Wenn ihr des Menschen Sohn erhöhen werdet usw. Um ihrer stumpfen Unempfänglichkeit willen, welche der Evangelist mit offensichtlicher Entrüstung schildert, erklärt Jesus die Juden noch einmal für unwert, weitere Worte aus seinem Munde zu vernehmen. Jetzt, so will er sagen, könnt ihr das allereinfachste nicht mehr verstehen, - Satan hat euch des Verstandes beraubt; - es kommt aber die Zeit, da werdet ihr merken, dass ein Prophet Gottes unter euch geweilt und zu euch geredet hat! Es bleibt eben in dergleichen Verhandlungen mit gottlosen Menschen zuletzt nichts anderes mehr übrig, als dass man sie auf den Tag verweist, an dem sie im Gericht vor Gott stehen werden. Natürlich kommt ein solches Erkennen, von dem hier die Rede ist, viel zu spät! Zur Rechenschaft gezogen, werden die Gottlosen, - aber wahrlich nicht gerne! – in Gott, den sie gutwillig hätten anbeten sollen, ihren Richter erkennen. Christus verheißt ihnen hier nicht etwa: Ihr werdet euch noch einmal bekehren! Sondern er sagt nur bestimmt voraus; der tiefe Seelenschlaf, in den ihr euch jetzt einwiegt, wird dann aus und vorbei sein; erschreckt werdet ihr aufwachen, wenn mit unerhörtem, nie geahntem Grauen der Zorn Gottes über euch losbrechen wird! –

So gingen dem Adam die Augen auf, als er in schamhafter Verwirrung sich vergebens zu verstecken suchte und merkte: Ich bin verloren! Nur insofern passt der Vergleich nicht, als bei Adam diese Erkenntnis, die ja an und für sich ihm keinen Nutzen gebracht haben würde, durch die Gnade Gottes ihm zum Heile ausschlug. Den Verworfenen aber gehen (und dabei übermannt sie die Verzweiflung) nur zu dem Zwecke die Augen auf, dass sie ihr unabwendbares Verderben vor sich sehen. Übrigens hat Gott verschiedene Wege, auf denen er sie zu dieser Art Erkenntnis führt. Häufig lernen sie in schweren Züchtigungen, dass Gott sie verwirft. Zuweilen aber wendet er keine äußere Pein an, sondern stürzt sie in Gewissensqualen. Ja, es kommt auch vor, dass sie ihr ganzes Leben lang sich in dieser Beziehung im Schlafe befinden; erst die Schrecken der Ewigkeit wecken sie auf. –

Unter der „Erhöhung“ versteht Christus hier seinen Tod. Er erinnert an ihn, um von vorn herein das klar zu stellen, dass die Juden, mögen sie ihn auch dem Leibe nach aus dem Wege räumen, damit gar nichts ausrichten werden. Er will sagen: „Jetzt spottet ihr in eurem Hochmut über meine Worte. Dabei wird es nicht bleiben. Ihr werdet mich umbringen. Dann werdet ihr euer Triumphlied anstimmen, als hättet ihr erreicht, was ihr wünschtet. Es wird aber nicht lange währen, dann werdet ihr merken, wie wenig das leibliche Sterben mich vernichten kann. Euch aber wird es dann übel ergehen. „Erhöhung“ nennt Jesus also seinen Tod, um ihnen so recht zu zeigen, dass sie nur das Gegenteil ihrer Absichten erreichen werden. Möglicherweise wollte er auch auf seine Todesart, die Erhöhung am Kreuze, anspielen. Vor allen Dingen jedoch hat er den herrlichen und so ganz unerwarteten Erfolg seines Todes im Auge gehabt. Schon am Kreuze selbst hat er dadurch, dass er die Handschrift der Sünde austilgte und unsere Schuldverhaftung beseitigte, kraft der wir dem Tode verfallen waren, einen großartigen Triumph über Satan vor Gott und den Engeln gefeiert; dieser Triumph aber ward den Menschen erst durch die Predigt des Evangeliums offenbar. Bald danach stieg Christus in den Himmel empor. So sollen wir heutzutage der frohen Hoffnung leben: mögen die Gottlosen sich ausdenken, was sie wollen, um Christum in ihrer Lehre und in der Kirche zu unterdrücken, Christus wird nicht nur, allen ihren Plänen entgegen, immer wieder emporkommen, er wird ihre frevlerischen Absichten sogar dermaßen durchkreuzen, dass dadurch sein Reich nur gefördert wird.

Dass ich es sei. Dass solche Aussagen nicht auf Christi göttliches Wesen, sondern auf seinen Heilandsberuf sich beziehen, habe ich bereits (zu 7, 29) ausgesprochen. Darauf deutet hier auch der Zusammenhang. Christus redet ja davon, dass er nichts ohne des Vaters Geheiß tut, was doch besagt, dass er der Gesandte Gottes ist und in dieser Stellung seine Aufträge treulich ausrichtet.

Und nichts von mir selber tue. Jesus unterfängt sich also nichts zu tun ohne besonderen Auftrag des Vaters. Um das mit einem Beispiel zu belegen, sagt er, er rede nur, was ihn der Vater gelehrt habe. Es sei zu dieser Stelle an das erinnert, was ich schon mehrfach hervorheben musste: wenn Jesus all das Göttliche, das er besitzt, nicht sein eigen nennt, so lässt er sich damit zu der Fassungskraft seiner Hörer herab. Er will damit nur darauf den Fingern legen: Haltet meine Worte nicht für Menschenworte; es sind Worte Gottes!

V. 29. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Wiederum rühmt er da, dass Gott, unter dessen beständiger Leitung er alles tut, mit ihm sei, damit er nicht umsonst und ohne Erfolg arbeite. Die Kraft des Geistes Gottes ist mit ihm bei der Ausübung seines Amtes. Von demselben Vertrauen dürfen alle Lehrer der göttlichen Wahrheit beseelt sein: Gott hält seine Hand über sie, wenn sie ihm mit einem Gewissen, wie er es von ihnen verlangt, dienen. Denn Gott betraut sie nicht mit der Verkündigung seines Wortes, damit sie mit nutzlosem Reden nur die Luft erschüttern; er gibt durch geheime Wirkung seines Geistes dem Worte Erfolg und nimmt sie zugleich in seinen besonderen Schutz, sodass ihre Feinde überwunden werden, und sie gegen die Angriffe der ganzen Welt gefeit sind. Wollten sie bloß sich selbst und ihre Fähigkeiten in Betracht ziehen, so müsste ihre Kraft in jedem Augenblick zu Ende sein. Feststehen ist nur dann möglich, wenn wir der Überzeugung sind: Gott selber hält uns mit seiner Hand! Wohl zu beachten ist übrigens der Grund, auf welchen Jesus die Tatsache stützt, dass Gott ihm zur Seite steht und ihm seine Hilfe allezeit zuteilwerden lässt: denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. „Allezeit“, das besagt, dass er nicht bloß bis zu einem gewissen Grade und Maße Gott gehorsam ist, sondern, dass er völlig und ausnahmslos sich dem Gehorsam gegen ihn geweiht hat. Wünschen wir die nämliche Gegenwart Gottes zu erfahren, so haben wir nur unser ganzes Sinnen und Denken auf seine Befehle zu richten. Wollen wir uns nur teilweise auf seinen königlichen Willen einlassen, so wird der Segen Gottes ausbleiben, und alle unsere Bemühungen sind für nichts; und scheint es auch eine Zeit lang, als lächle uns günstiger Erfolg, so wird der Ausgang doch unglücklicher Art sein.

Wenn Jesus sagt: der Vater lässt ich nicht allein, so erhebt er damit Klage über die Treulosigkeit seines Volkes, in dem er fast niemanden fand, der ihm die Hand reichte. Auch zeigt er damit, dass es ihm genug und übergenug ist, wenn er Gott auf seiner Seite hat. Nun, so dürfen auch wir gutes Mutes sein: Wir sind nicht allein, und wären wir noch so wenige! Wer dagegen Gott nicht auf seiner Seite hat, der wird vergeblich mit ganzen Menschenmassen prahlen, die zu ihm halten.

V. 30. Da er solches redete, glaubten viele an ihn. Obgleich die Juden dem dürren und unfruchtbaren Lande ähnlich waren, ließ Gott den Samen seines Wortes doch nicht ganz verkommen. Wo man es kaum gehofft hätte, da so viele Hindernisse im Wege waren, kommt doch einige Frucht auf. Übrigens braucht der Evangelist die Bezeichnung „glauben“ hier nicht im strengen Sinne; es war ja nur eine Art Vorbereitung für den Glauben. Jene Leute waren geneigt, die Lehre Christi anzunehmen, wie ja auch die unmittelbar folgende Ermahnung durchblicken lässt.

V. 31. So ihr bleiben werdet an meiner Rede. Da macht Christus darauf aufmerksam, dass ein guter Anfang noch nicht genügt, sondern dass ein entsprechender Fortschritt bis zum Ende standhalten muss. Damit ermahnt er die, welche an seiner Lehre Geschmack gefunden haben, zur Ausdauer im Glauben. Er kann erst die als seine echten Jünger anerkennen, die in den Nährboden seines Wortes tiefreichende Wurzeln getrieben haben und darin bleiben. Er gibt damit den Wink: Viele, die sich zu meinen Jüngern zählen, sind in Wahrheit keine Jünger von mir; so verdienen sie es denn auch nicht, dafür angesehen zu werden. Das Merkzeichen, an welchem Jesus seine wirklichen Jünger von den Heuchlern unterscheidet, besteht darin, dass Leute, die sich fälschlich des Glaubens rühmen, alsbald nach Beginn oder doch mitten im Laufe abfallen, während die Gläubigen unentwegt bis zum Ziele aushalten. Soll uns also Christus unter seine wahren Jünger zählen, so müssen wir standhafte Treue beweisen.

V. 32. Und werdet die Wahrheit erkennen. Von Leuten, welche die Wahrheit doch schon ein wenig kennen gelernt hatten, sagt Jesus, sie würden dereinst die Wahrheit erkennen. Sie hatten ja kaum den ersten Anfang gemacht; so ist es nicht befremdlich, wenn er ihnen ein umfassenderes Verständnis seiner Lehre verheißt. So soll auch ein jeder von uns sich dessen bewusst bleiben: haben wir im Evangelium schon einige Schritte voran getan, - wir müssen immer wieder noch weiter kommen. Bleiben sie standhaft und treu, so will Christus die Seinen damit belohnen, dass er ihnen immer vertrauter wird, was übrigens, genau besehen, keine Vergeltung eines menschlichen Verdienstes ist, sondern nur ein neues Geschenk zu den alten Gnadengaben. Er selbst ist es ja, der sein Wort durch seinen Geist unseren Herzen einprägt; er ist es, der täglich die Nebel der Unwissenheit in unseren Herzen verscheucht, welche die hellen Strahlen des Evangeliums überschatten möchten. Soll die Wahrheit sich uns in ihrer ganzen Tiefe erschließen, so müssen wir mit beständigem Ernst und Eifer zu ihr emporstreben. Übrigens ist es nicht eine verschiedene, sondern ganz ein und dieselbe Wahrheit, die Jesus von Anfang bis zu Ende die Seinen lehrt. Der Unterschied besteht nur darin, dass er uns anfangs bloß mit kleinen Lichtfunken bestrahlt, uns aber je mehr und mehr mit einer Flut von Licht überströmt. So kann man denn mit einigem Rechte sagen: die Gläubigen wissen, so lange sie nicht völlig gefestigt sind, das, was sie wissen, noch nicht. Indes ist keine Glaubenserkenntnis so gering oder so trübe, dass sie nicht zum Seligwerden ausreichte.

Die Wahrheit wird euch frei machen. Zur Erkenntnis seines Evangeliums lockt der Herr nun auch damit, dass er auf die Frucht oder den Erfolg davon hinweist, auf das unvergleichlich hohe Gut der Freiheit. Daraus folgt, dass es nichts Besseres gibt, nichts, wonach man inniger verlangen muss, als die Erkenntnis des Evangeliums. Alle Menschen wissen und gestehen es: Sklaverei ist ein großes Unglück. Wenn das Evangelium uns nun aus der Sklaverei befreit, so folgt daraus, dass es ein kostbares Geschenk ist, das uns ein glückseliges Leben verschafft. Doch wollen wir nicht übersehen, an welcherlei Befreiung Christus denkt: an die, welche uns aus der Gewalt der drei Tyrannen Satan, Sünde und Tod erlöst. Wird uns das durchs Evangelium zuteil, so ist klar: von Natur sind wir alle Knechte der Sünde. Weiter gilt es zu beachten, wie die Befreiung zustande kommt. So lange wir uns von den eigenen Gedanken und Einfällen regieren lassen, sind wir der Sünde leibeigen. Wenn aber der Herr aus uns durch seinen Geist neue Menschen macht, dann schenkt er uns eben damit die Freiheit; aus den Stricken des Satans, in denen wir schmachteten, sind wir nun heraus und gehorchen willig der Gerechtigkeit. Aus dem Glauben kommt die Wiedergeburt. Daraus geht hervor: aus dem Evangelium kommt die Freiheit. So schlägt Christi Wort alle Träumereien von einem eigenen freien Willen nieder: nur Christus vermag uns zu befreien. Zu bemerken ist noch, dass diese Freiheit ihre Stufen hat, und zwar nach dem Maße des Glaubens; Paulus seufzte noch nach der völligen Freiheit, als er längst aus der Knechtschaft befreit war (Röm. 7, 24).

V. 33. Wir sind Abrahams Samen. Man weiß nicht recht, ob der Evangelist hier dieselben Leute, wie vorhin, oder andere redend einführt. Meiner Meinung nach ging es so her, wie es eben bei einer aus vielen einzelnen zusammengesetzten Schar von Menschen herzugehen pflegt. Es gab bald hier, bald dort einer Christo Antwort. Und zwar werden sich dabei die Verächter mehr beteiligt haben, als die Gläubigen. Diese Erzählungsweise findet man in der ganzen heiligen Schrift, dass bei Verhandlungen mit einer ganzen Volksmasse eben diesem Gesamtkörper zugeschrieben wird, was doch nur aus einer bestimmten Gruppe kam. Die Leute nun, welche hier einwenden, sie seien doch Abrahams Kinder und deshalb von jeher in Freiheit, hatten aus Christi Worten ganz richtig geschlossen, dass er ihnen die Freiheit eben darum verhieß, weil er sie für Sklaven hielt. Das aber empfanden sie als eine unerträgliche Beleidigung, dass sie als Gottes heiliges und auserwähltes Volk Knechte sein sollten. Sie meinten, es würde dadurch die göttliche Erwählung Israels an Sohnes Statt und der Bund am Sinai, durch welchen sie von den Heidenvölkern geschieden waren, heruntergesetzt, wenn Christus sie nicht für freie Gotteskinder ansähe, sondern ihnen die Freiheit als ein erst noch zu erlangendes Gut hinstellte.

Man könnte übrigens sagen: Eine leere Prahlerei ist es, dass sie behaupten, nie keinmal jemandes Knechte gewesen zu sein. Wie oft ist doch das Judenvolk von Eroberern unterdrückt worden, ja, wie seufzten sie damals unter dem schweren Joche der römischen Cäsaren! Immerhin war doch etwas an dieser ihrer Behauptung; selbst unter der Fremdherrschaft blieben sie rechtlich freie Leute. Der grundlegende Irrtum war der, dass sie nicht in Erwägung zogen, dass das Recht der Kindschaft für sie allein in dem Mittler begründet war. Wodurch anders soll denn Abrahams Same frei sein, als dadurch, dass er durch die Gnade des Erlösers der allgemeinen Knechtschaft der Menschheit entnommen wird?

Der zweite, noch weniger erträgliche Irrtum auf ihrer Seite war der, dass sie, die völlig Entarteten, doch unter die Söhne Abrahams gerechnet werden wollten und nicht daran dachten, dass man allein durch die Wiedergeburt aus dem heiligen Geiste ein rechtmäßiger Abrahamssohn wird. Das war in fast allen Jahrhunderten ein allgemein verbreiteter schwerer Übelstand, dass man außerordentliche Gottesgaben schon der fleischlichen Geburt zu verdanken wähnte, und dass man die Heilmittel, welche Gott zur Gesundung unserer Natur anwendet, eben dieser Natur auf Rechnung setzte. Selbstverständlich halten alle die, welche, von einem solchen leeren Wahne aufgebläht, sich so wie sie sind, längst gut vorkommend, Christum und seine Gnade von sich fern. O, wie ist doch dieser Hochmut in aller Welt verbreitet! Unter Hunderten weiß kaum einer, dass er der Gnade Gottes bedarf.

V. 34. Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Rühmten sich die Juden ihrer Freiheit, so zeigt ihnen Jesus im Gegenteil, dass sie Sklaven der Sünde sind, weil sie, in fleischlichen Lüsten gefangen, nichts anders können als sündigen. Es ist nur zu verwundern, dass die Menschen von dieser einfachen Wahrheit sich nicht durch ihre eigene, tägliche Erfahrung überführen lassen, und sich zu demütigen. Heute ist es an der Tagesordnung, mit hochtrabenden Redensarten die Freiheit des menschlichen Willens zu verteidigen, und das umso eigensinniger, je mehr man selbst in der Knechtschaft der Sünde steckt. Scheinbar sagt Christus hier nur dasselbe, was sich schon in den Aussprüchen von Philosophen des Altertums findet, nämlich dass diejenigen, welche ihren Lüsten hingegeben sind, in der schmählichsten Knechtschaft leben. Aber es ist nicht dasselbe.

Der Sinn der vorliegenden Worte ist tiefer und liegt nicht so unmittelbar am Tage. Jesus redet nicht nur von dem Treiben besonders schlimmer Menschen, sondern beschreibt die Lage, in der sich von Natur jeder Mensch befindet. Jene Weltweisen waren der Meinung: Es steht im freien Willen jedes Einzelnen, ob er ein Sklave werden und ob er wieder frei werden will. Christus aber stellt hier den Satz auf: Jeder Mensch, den ich nicht befreie, ist und bleibt ein Sklave. Alle Menschen sind geborene Knechte, da sie zufolge der verderbten Menschennatur gleich von vornherein mit der Sünde in unheilvolle Berührung kommen. Zu beachten ist die Gegenüberstellung von Gnade und Natur in diesem Ausspruche Christi; es ist daraus leicht zu verstehen, dass die Menschen der Freiheit verlustig gegangen sind und nur dadurch frei werden können, dass ihnen die Freiheit von anderer Seite hier wieder gegeben wird. Insofern bleibt übrigens mitten in dieser Knechtschaft eine Art von freiem Willen bestehen, als derjenige, welcher mit Notwendigkeit sündigt, doch nicht etwa zur Sünde gezwungen wird: er sollte und müsste anders handeln.

V. 35. Der Knecht aber bleibt nicht ewiglich im Hause. Der Herr führt ein Gleichnis aus dem bürgerlichen Rechtsleben an. Ein Knecht hat wohl eine Zeitlang die Oberleitung des Hauses in Händen; und doch ist er nicht der Erbe. Daraus folgert er: so ist nur das die rechte und immer währende Freiheit, die man durch den Sohn erhält. Auf diese Weise sagt er den Juden: Wir töricht brüstet ihr euch doch! Ihr habt ja nur den Schein der Freiheit, nicht die wirkliche Freiheit! Dass sie fleischlich von Abraham abstammten, machte sie ja nur scheinbar zu freien Abrahams Kindern. Ja, sie gehörten zur Gemeinde Gottes, aber nur so wenig und so viel wie Ismael, der sich eine kurze Zeit hindurch als rechter Abrahams Sohn aufspielte, indem er als Knecht den freien Bruder verspottete.

V. 36. So euch nun der Sohn frei macht. Jesus sagt damit: Mir allein steht das Recht Alles in allem: wer in dieser Weise sich der Abrahams Kindschaft rühmt, wiegt sich nur in einer trügerischen und leeren Hoffnung.

des freien Sohnes zu; die anderen alle werden als Knechte geboren und können allein durch meine Gnade frei werden, -

Was ihm selber von Geburt zusteht, das teilt er uns mit, indem er uns zu Kindern Gottes macht, wenn wir, durch Glauben dem Leibe Christi eingefügt, seine Glieder werden. So ist das Evangelium der Freiheitsstab, der uns berühren muss, wenn wir freie Leute werden sollen. In dem „so seid ihr recht frei “ fällt im Gegensatz zu der törichten Einbildung der Juden der Ton auf das Wörtchen „recht“. Wie viele Weltmenschen dünken sich auch heute, Könige zu sein, und sind doch elende Sklaven!

V. 37. Ich weiß wohl, dass ihr Abrahams Same seid. Das ist ein Zugeständnis, mit welchem Jesus doch zugleich über die Torheit der Juden spottet, die sich eines ganz hohlen Titels rühmten. Er will sagen: selbst wenn ich euch einmal zugebe, worin ihr euch so sehr gefallet, - was hilft euch eure Abrahams Kindschaft, wenn ihr doch wider Gott und seine Diener wütet? wenn ihr in gottlosem und verbrecherischem Hass gegen die Wahrheit unschuldiges Blut zu vergießen trachtet? Aus diesem ihren Gebaren ergibt sich, dass sie den edlen Namen, auf den sie Anspruch machen, durchaus nicht verdienen, denn die Ähnlichkeit mit dem Gottesmanne Abraham geht ihnen gänzlich ab.

Ihr sucht mich zu töten. Wenn Jesus sagt, dass sie ihn zu Tode zu bringen suchen, weil seine Rede in ihren Herzen keine Stätte finde, so will er sie damit nicht einfach als Menschenmörder bezeichnen. Er meint vielmehr, dass der Hass gegen Gott und seine Wahrheit sie zu solch mörderischer Wut treibt. Das ist noch etwas viel Schrecklicheres: ihr Hass kehrt sich nicht bloß gegen einen Menschen, sondern zugleich gegen Gott. Jesus sagt: Meine Rede fähet nicht unter euch , d. h. ihr vermögt sie nicht zu fassen, weil ihr böswillig eure Herzen verschließt, so dass nichts Gesundes eindringen kann.

V. 38. Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe usw. Schon öfter hatte sich Jesus auf seinen Vater berufen: jetzt zieht er auch gegensätzlich den Schluss, dass die Gegner seiner Lehre Gottes Feinde und Kinder des Teufels sein müssen. Ich, so sagt er, bringe nichts vor, als was ich vom Vater gelernt habe. Wie soll ich mir nun eure entrüstete Widerspenstigkeit gegen diese Rede Gottes anders erklären, als dass ihr eben ganz gegenteiliger Herkunft seid? Von sich sagt Jesus: „Ich rede,“ von ihnen: „Ihr tut,“ weil er des Lehramtes waltete, sie dagegen sich bemühten, in leidenschaftlichem Hasse seine Lehre auszutilgen. Sein Evangelium stellt er dabei vor Verachtung sicher; es ist etwas Göttliches, - daher ist es denn auch kein Wunder, dass Söhne des Teufels es bestreiten.

V. 39. Abraham ist unser Vater. Die rechthaberische Fortsetzung des Streites zeigt zur Genüge, wie völlig jene Leute alle Warnungen und Vorwürfe Jesu in den Wind schlagen. Sie bleiben steif und fest dabei: wir sind Abrahams Kinder, - aber nicht nur in dem Sinne, wie Jesus es ihnen zugegeben hat, dass sie äußerlich, dem Stammbaume nach, von Abraham herkommen, sondern in dem Sinne: Wir sind das heilige Volk, Gottes Eigentum und Erbe, Söhne Gottes! Das ist alles weiter nichts als fleischliche Zuversicht. Solche nur äußerliche Zugehörigkeit zu Abraham ist nichts, als der Schein der Sache ohne ihr Wesen. Aber mit solch schön aufgeputzter fleischlicher Selbstgewissheit schaffen sie sich nur einen eisernen Widerstand, welcher dem Herrn den Zugang zu ihren Herzen wehrt.

Wenn ihr Abrahams Kinder wäret usw. Jetzt unterscheidet Christus die entarteten Abrahams Kinder schon genauer von den rechtmäßigen. Er will auch den bloßen Namen denen nicht mehr gönnen, die dem Abraham unähnlich sind. Es kommt ja oft vor, dass die Söhne in ihrem ganzen Betragen ihren Vätern durchaus nicht ähneln. Christus aber redet hier nicht von fleischlicher Abstammung, sondern sagt nur, dass Gott diejenigen nicht zu Kindern Abrahams rechnet, welche nicht im Glauben die Begnadigung mit dem Kindesrechte festhalten. Jehovah hatte verheißen, der Gott des Samens Abrahams zu sein; alle Ungläubigen gingen natürlich dieser göttlichen Zusage verlustig und schieden damit aus dem Geschlechte Abrahams aus. Der Stand der Frage ist also der: Sind Leute, welche den ihnen im Worte angebotenen Segen Gottes ausschlagen, noch als Abrahams Kinder anzusehen? Sind sie selbst dann noch ein heiliges Volk, Gottes Eigentum, ein königliches Priestertum? Christus sagt: Nein! – und das mit Recht, denn die Kinder der Verheißung müssen durch den Geist von neuem geboren werden. Nur neue Kreaturen, durch den Geist umgewandelte Menschen, können einen Platz im Reiche Gottes beanspruchen. Unnütz und bedeutungslos war natürlich die fleischliche Abstammung von Abraham nicht; es musste nur die wirkliche, geistliche Abrahamskindschaft hinzukommen. Gott hat den Samen Abrahams erwählt. Aber es ist das eine freie Erwählung; er hat sich nicht die Hände gebunden. Als Erben des Lebens sind nur diejenigen anzusehen, die Gott durch seinen Geist heiligt.

V. 40. Nun aber sucht ihr mich zu töten. Aus dieser Frucht ihres inneren Sinnes zieht Jesus den Schluss, dass die Juden unmöglich Abrahams Kinder sein können, wie sie sich rühmen: sie streiten ja wider Gott, während Abrahams Haupttugend der Gehorsam des Glaubens gegen Gott war! Der ist also das Merkzeichen, an dessen Fehlen oder Vorhandensein man mit Sicherheit erkennen kann, ob jemand nur vorgeblich oder wirklich ein Kind Abrahams ist. Ein bloßer Titel, mag auch die Welt noch so hohen Wert darauf legen, gilt vor Gott gar nichts. So macht denn Christus abermals die Schlussfolgerung: Also seid ihr Teufelskinder! Weshalb? Weil sie entschiedene Feinde der rechten und heilsamen Lehre sind.

V. 41. Wir sind nicht unehelich geboren. Damit machen sie abermals Anspruch auf den von Christus ihnen abgesprochenen Ehrennamen. In ihren Augen war eben ein wirklicher Nachkomme Abrahams nach dem Fleisch ohne weiteres ein Kind Gottes. So bilden sie selbst sich ein, dass sie von Mutterleibe an heilig sind, weil sie aus einer heiligen Wurzel stammen. Sie halten sich für die Gemeinde Gottes, weil sie von heiligen Vätern abstammen. Geradeso denken heute die Papisten: als ob die bloße väterliche Tradition das Kennzeichen der Kirche Gottes sein könnte, auch wo man vom Worte Gottes, vom Geist und vom Glauben gewichen ist!

V. 42. Wäre Gott euer Vater usw. Christi Beweisführung hat folgenden Gang: Ein jedes wahre Gotteskind wird mich als den eingeborenen Sohn Gottes anerkennen und lieben; ihr aber hasst mich. Ihr habt also keinen Grund, euch der Gotteskindschaft zu rühmen. –

Dieses Urteil wollen wir uns wohl einprägen: es lehrt uns, dass, wo man Christum verwirft, keine Frömmigkeit, noch Gottesfurcht wohnt. Eine erlogene Religion behauptet kühnlich, Gott zu haben. Aber wie können diejenigen mit dem Vater einig sein, welche sich lossagen von seinem einigen Sohne? Was soll man von einer Gotteserkenntnis halten, welche das lebendige Ebenbild Gottes für nichts achtet? Christus will hier gerade damit, dass er vom Vater zu kommen bezeugt, besagen: Alles, was ich habe, ist göttlich! Deshalb eben stimmt es nie und nimmermehr zusammen: ein wahrer Gottesverehrer sein und die Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes verabscheuen. Jesus sagt: Ich bin nicht von mir selber kommen. Das heißt: Ihr könnt mir nichts vorhalten, das an mir Gott missfällig, ungöttlich wäre; nichts Irdisches, nichts nur Menschliches werdet ihr auffinden können in meiner Lehre und überhaupt in meiner ganzen Amtsführung. Er redet also auch hier wieder nicht von seinem Wesen, sondern von seinem Heilandsberuf.

V. 43. Warum kennt ihr usw. Jesus wirft den Juden hier ihre Widerspenstigkeit vor, die so weit ging, dass sie es nicht einmal zu ertragen vermochten, ihn reden zu hören. Daraus folgert er, dass sie sich von teuflischer Wut ganz und gar hinreißen lassen. Übrigens setzen viele Ausleger schon nach der ersten Hälfte des Verses ein Fragezeichen und fassen dann die zweite Hälfte als begründende Antwort: „Warum kennt ihr denn meine Sprache nicht? Denn ihr könnt ja mein Wort nicht hören.“ Ich ziehe jedoch das alles lieber in einen einzigen Fragesatz zusammen. Dann würde Jesus sagen: Was ist doch der Grund, dass meine Sprechweise euch so fremdländisch und unverständlich anmutet, dass all mein Reden nichts hilft, ja dass ihr euch überhaupt nicht bequemt, auch nur dem, was ich sage, euer Ohr zu öffnen? Das erste Satzglied tadelt dann die stumpfsinnige Unempfänglichkeit der Juden, das zweite ihren unbeugsamen und ohnmächtigen Hass gegen Jesu Lehre. Dann erst (V. 44) wird für beides der Grund angegeben: sie stammen vom Teufel. So wollte Jesu Frage ihnen die unaufhörlich wiederholte Gegenrede abschneiden, dass ihr Widerstand sich auf gute und rechtmäßige Gründe stütze.

V. 44. Ihr seid von dem Vater, dem Teufel. Das hatte er schon zweimal vorher angedeutet, hier sagt er es ganz unverhüllt frei heraus: sie sind Teufelskinder. Es wäre unmöglich, dass sie gegen den Gottessohn so feindselig gesinnt wären, wenn sie nicht den unversöhnlichen Feind Gottes zum Vater hätten. Kinder des Teufels sind sie nicht nur, weil sie demselben ähnlich sind, sondern hauptsächlich, weil sie nur seinem Antriebe folgen, wenn sie Christum bekämpfen. Wir heißen Gotteskinder nicht nur, weil wir Gott ähnlich sind, sondern weil er uns durch seinen Geist lenkt, und weil Christus in uns lebt und wirkt, um uns in des Vaters Ebenbild einzugestalten. Umgekehrt heißt der Teufel derjenigen Menschen Vater, deren Sinn er verblendet, deren Herzen er zu jeglicher Ungerechtigkeit aufstachelt, und in denen er als ein unumschränkter Gewalthaber kräftig wirkt (2. Kor. 4, 4; Eph. 2, 2 usw.).

Der selbige ist ein Mörder. In zwei Stücken, Grausamkeit und Lüge, waren die Juden diesem ihrem Vater nur zu ähnlich. Das im griechischen Grundtext gebrauchte Wort heißt ganz genau: ein Menschenmörder. Mit dieser Bezeichnung sagt Christus, dass es Satan auf das Verderben des Menschen abgesehen hat. Sobald der Mensch geschaffen war, begann Satan, von grässlicher Lust am Schadenstiften getrieben, an dem Verderben desselben zu arbeiten. Übrigens meint Christus hier mit dem Anfang nicht die Erschaffung Satans; dann würde ja Gott selber ihm die Freude am Unheil anderer anerschaffen haben. Christus verdammt hier an Satan das von diesem selbst verschuldete, durch und durch sündliche Wesen. Dass es nur so gemeint ist, geht aufs deutlichste hervor aus dem, was folgt: Er ist nicht bestanden in der Wahrheit. Satan ist also, das steht hier ganz klar, ursprünglich wahrhaftig geschaffen; durch Abfall von der Wahrheit ist er dann erst zum Lügner geworden. Folglich ist seine Bosheit kein Naturübel, sondern in seinem eigenen Willen begründet. Diese Beschreibung Satans ist für uns von hohem Nutzen. Ein jeder muss sich ernstlich vor seinen Nachstellungen hüten und seinen furchtbaren Angriffen widerstehen (1. Petr. 5, 9). Je größer seine Gier nach Menschenseelen, je unerschöpflicher seine List, desto mehr müssen die Gläubigen sich mit geistlichen Waffen zum Kampfe rüsten und nüchtern und wachsam sein. Satan kann sein Wesen nicht mehr wandeln. Deshalb darf es uns nicht erregen, als wäre es etwas Neues und Unerhörtes, wenn rasch hintereinander so mannigfaltige Irrlehren auftauchen. Satan gebraucht seine Werkzeuge dazu, dass sie mit dem Wind ihrer Lug- und Trugreden die Welt verrückt machen sollen. Es ist ja gar nicht verwundern, dass Satan so alle Kräfte zusammennimmt, um das Licht der Wahrheit auszublasen, - kann doch die Menschenseele allein in der Wahrheit wahrhaftiges Leben haben. So gebraucht er denn die Lüge als furchtbarste Mordwaffe für das Seelenleben. Mag sich nun gegen die Wahrheit aufmachen, wer da will – jeder, der Augen hat, weiß und bedenkt, welches eigentlich der Feind ist, mit dem es zu streiten gilt. Weiß du das, nun wohl, so begib sich in den mächtigen Schutz deines Feldherrn Jesus Christus, zu dessen Fahne du geschworen hast! –

Das folgende Satzglied: Denn die Wahrheit ist nicht in ihm, erweitert den ausgesprochenen Gedanken. Daraus, dass Satan die Wahrheit hasst und sie nicht vertragen kann, ja vielmehr in lauter Lügen steckt, macht Christus die Schlussfolgerung: also ist er jedes Restes von Wahrheit bar und in seinem ganzen Wesen ihr völliger Gegensatz. Wundern wir uns deshalb nicht, wenn er Tag für Tag Früchte seines Abfalls hervorbringt!

Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen, d. h. es ist ihm ganz geläufig und zur anderen Natur geworden, zu lügen, zu trügen und Verführung und höllisches Blendwerk anzurichten. Darum heißt er auch ein Vater der Lüge: denn er ist von Gott, dem einigen Sitz und Quell der Wahrheit, abgefallen.

V. 45. Weil ich die Wahrheit sage usw. Die Gegner haben keinen einzigen stichhaltigen Grund, dem Herrn Jesus Widerstand zu leisten; ihr ganzes Verfahren erklärt sich daraus, dass sie die Wahrheit nicht leiden mögen, sondern sich völlig dagegen verschließen, - der sichere Beweis, dass Christus es hier mit Kindern des Teufels zu tun hat.

V. 46. Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen? Diese Frage stammt aus einer guten Zuversicht. Da Jesus weiß, dass auch der leiseste Tadel ihn nicht wirklich zu treffen vermöchte, steht er als Sieger seinen Feinden gegenüber und fordert sie getrost heraus. Indes sagt er nicht, dass sie nicht imstande seien, Verleumdungen gegen ihn auszusprechen. Möchte ihnen jeder tatsächliche Stoff, um dessentwillen sie Widerspruch gegen ihn erheben konnten, fehlen, so standen sie doch nicht davon ab, Christum mit ihren Schmähungen anzugreifen. Er ist sich jedenfalls bewusst, dass keine Anschuldigung, sie mag lauten, wie sie will, wirklich an ihm haftet. Doch ist es nicht richtig, zu sagen: Jesus spricht hier aus, dass er vollkommen sündlos ist. Das war er freilich, und zwar als einziger unter allen Menschen, da er ja der Sohn Gottes war. Im vorliegenden Zusammenhange ist aber nur von der Pflichterfüllung die Rede, die Christus als treuer Diener Gottes leistet, ganz in dem Sinne, in welchem auch Paulus sagt (1. Kor. 4, 4): „Ich bin mir nichts bewusst!“ Denn dabei denkt der Apostel nicht an sein ganzes Leben, sondern verteidigt nur seine Lehre und sein Amt. Dass unsere Stelle ebenso zu verstehen ist, zeigen auch die unmittelbar folgenden Worte: So ich euch aber die Wahrheit sage usw. Daraus ist zu ersehen, dass Christus hier mehr für die Reinheit seiner Lehre als seiner Person spricht.

V. 47. Wer von Gott ist usw. Weil Jesus mit gutem Grunde es als unbestreitbar ansehen kann, dass er ein Abgesandter des himmlischen Vaters ist und als solcher in unerschütterlicher Treue seine Pflicht tut, so steigert sich hier seine Rede zu gewaltiger Eindringlichkeit, - war doch die Gottlosigkeit der Gegner jetzt völlig offenbar geworden, da sie so hartnäckig das Wort Gottes verschmähten. Er hatte ihnen gezeigt: der einzige Vorwurf, den ihr mir machen könnt, ist der, dass ich genauso lehre, wie wenn Gott selbst seinen Mund auftäte. Daraus macht er die Schlussfolgerung: also habt ihr keinerlei Gemeinschaft mit Gott, wenn ihr nicht auf mich hören wollt! Er sieht hier von sich selber ganz ab und zeigt ihnen den Abgrund, an dem sie stehen: mit Gott selber liegen sie im Streite. Außerdem lehrt uns diese Stelle: Es gibt kein gewisseres Zeichen dafür, dass ein Mensch dem ewigen Verderben entgegen geht, als dass er die Lehre Christi nicht leiden kann, mag er daneben auch in Heiligkeit strahlen wie ein Engel. Sind wir dagegen seiner Lehre herzlich zugetan, so haben wir daran eine Art sichtbares Siegel unserer Erwählung. Wer das Wort sein eigen nennt, der besitzt darin Gott selbst, wer es aber abweist, bringt sich damit um Gerechtigkeit und Leben. So hüte dich ernstlich davor!

V. 48. Sagen wir nicht recht usw. Immer mehr verraten die Juden, wie furchtbar Satan ihnen alles Nachdenken gelähmt hat. Christus hat sie überführt, ja völlig bloßgestellt. Und dennoch tragen sie keine Scheu, sich blindlings in eben das Gericht hinein zu stürzen, das er ihnen vor die Augen gemalt hat. Ihre Schmähung ist eine zwiefache: Du bist ein Samariter und hast den Teufel. Sie wollen den Herrn Jesus damit als einen verabscheuungswürdigen Menschen bezeichnen, der von einem bösen Geiste getrieben werde. Die Juden sahen die Samariter ja als Abtrünnige und als Gesetzesschänder an. Deshalb war ihr schlimmstes Schimpfwort: „Samariter“. Dies denkbar kräftigste Wort lassen sie sich auch jetzt von ihrer unbesonnenen Wut eingeben.

V. 49 u. 50. Ich habe keinen Teufel. Auf den ersten Schimpfnamen nimmt Jesus gar keine Rücksicht. Nur von der zweiten Anschuldigung reinigt er sich. Weshalb wohl? Einige sagen: Es liegt ihm nichts an der Beschimpfung seiner Person; auf seine Lehre jedoch will er nichts kommen lassen. Das ist meiner Meinung nach nicht richtig. Die Juden werden schwerlich den feinen Unterschied zwischen Person und Lehre gemacht haben. Und gerade bei dem Schimpfwort „Samariter“ kam sehr stark die falsche Lehre der Bewohner Samarias in Betracht. Sie waren ja vom Gesetz abgefallen, hatten es durch allerhand abergläubische Zusätze entstellt und hatten die gesamte Gottesverehrung nach ihrem eigenen Sinne umgestaltet. Die Wahrheit wird die sein, dass der buchstäblich doppelte Schimpfname inhaltlich nur einer ist. Darum kann sich Jesus mit einer bloß einfachen Widerlegung begnügen. Überlegt man sich die Schimpfreden der Juden recht, dann war wohl der Vorwurf, Jesus sei ein Samariter, viel schlimmer als der, er sei ein (nicht zurechnungsfähiger) Besessener. Aber wie gesagt, Christus gibt sich keine Mühe, jede Schmähung besonders zu widerlegen. Dass er nicht von einem bösen Geiste besessen ist, zeigt er an der unleugbaren Tatsache, dass er nur das eine Streben hat, den Vater zu ehren. Ein solcher Diener Gottes, wie er, der den Vater in Lauterkeit ehrt, wie es sich gebührt, kann nur vom Geiste Gottes regiert sein.

Ihr unehret mich. Man könnte diese Worte so auslegen: Christus beklagt sich darüber, dass er nicht nach Gebühr behandelt wird, während er doch nur auf Förderung der Ehre Gottes bedacht ist. Ich glaube jedoch, dass seine Gedanken noch höher zielen: er verbindet seine Ehre innig mit der des Vaters. Er will dann sagen: Ich will keinerlei Ehre erwiesen haben, wodurch der Ehre des Vaters Abbruch geschähe. Begegnet ihr mir in so abscheulicher, gehässiger Weise, so fallen eure Schmähungen auf Gott selbst. In mir seht ihr seine göttliche Hoheit erstrahlen. In mir wohnt er in der Fülle seiner Herrschermacht! –

Deshalb heißt es (V. 50) auch sofort, Gott sei der Rächer des von ihnen begangenen Unrechtes. Man hätte den Herrn Jesus für einen ehrsüchtigen Menschen halten können, wenn er nicht ausdrücklich bezeugt hätte: nicht aus kleinlicher persönlicher Empfindsamkeit kümmere ich mich darum, ob man mich ehrt oder verachtet, sondern weil es sich dabei um eine Ehren oder Verachten Gottes handelt. Übrigens dürfen wir bei allem Abstand von Christus uns dennoch gewisslich dessen getrösten, dass, wenn wir von ganzem Herzen Gottes Ehre suchen, wir bei ihm Anerkennung genug finden werden. Es ist und bleibt wahr, was er gesagt hat (1. Sam. 2, 30): „Wer mich ehrt, den will ich auch ehren“. Mögen uns dann auch die Menschen verachten, ja gar mit Schmähungen überschütten, wir dürfen, ohne uns dadurch irre machen zu lassen, frohen Herzens warten, bis der Tag des Herrn anbricht.

V. 51. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch usw. Ohne Zweifel erkannte Jesus, dass in der Schar um ihn her einige noch zu heilen waren, andere seiner Lehre durchaus nicht ganz abgeneigt waren. So kam es ihm denn nicht nur darauf an, die Gottlosen zu schrecken, die man um ihrer Bosheit willen aufgeben musste, sondern mehr noch darauf, den Bessergesinnten einen Trost anzubieten, wodurch die noch nicht ganz Verlorenen angelockt werden konnten. Mag auch ein großer Teil der Zuhörer innerlich voller Widerspruch und Abneigung gegen Gottes Wort stecken, so darf doch ein rechter Verkündiger des Evangeliums sich niemals ausschließlich mit der Aufgabe befassen, den Gottlosen das Gericht anzudrohen; er muss vielmehr stets zugleich den Kindern Gottes das Heil anbieten und wenigstens den Versuch machen, diejenigen, welche noch nicht ganz unheilbar sind, wieder zur Besinnung zu bringen. Christus verheißt hier seinen Jüngern das ewige Leben; aber er will solche Schüler haben, die nicht bloß gedankenlos mit dem Kopf nicken oder nur mit dem Munde sich zu seiner Lehre bekennen, sondern solche, die sie als einen kostbaren Schatz bewahren. Er sagt, sie würden den Tod nicht sehen: denn sobald der Glaube eine Menschenseele lebendig macht, ist der Stachel des Todes abgestumpft, und sein Gift entfernt, sodass er die tödliche Wunde nicht beibringen kann.

V. 52. Nun erkennen wir usw. Die unglückseligen Menschen verharren in ihrer Stumpfheit. Ob Verheißungen, ob Drohungen, das ist ihnen gleich. Sie lassen sich weder an der Hand zu Christo führen, noch an den Haaren zu ihm schleppen. Wenn einige Ausleger aber sagen, sie hätten sich von ihrer Verleumdungssucht soweit fortreißen lassen, dass sie Christi Worte übertreibend verzerrt hätten, - sie sagen: „den Tod nicht schmecken“, Christus nur: „den Tod nicht sehen“, - so halte ich das nicht für stichhaltig. Im Hebräischen war, so glaube ich wenigstens, der Sinn dieser beiden Wendungen ganz der gleiche. Natürlich lassen die Juden aber auch so den Worten Christi keine Gerechtigkeit widerfahren. Was er mit Beziehung auf den Geist gesagt hat, das übertragen sie auf den Leib. Den Tod bekommt kein Gläubiger zu sehen, weil alle die, welche aus dem unvergänglichen Samen des Wortes wiedergeboren sind, auch im Tode doch das Leben behalten. Sie sind mit Christo als mit ihrem Haupte verbunden, und der Tod hat deshalb keine Macht über sie. Der Tod ist für sie nur der Übergang ins Himmelreich. Der in ihnen wohnende Geist ist das Leben um der Gerechtigkeit Christi willen und wird dereinst auch den letzten Rest des Todes in ihnen verzehren (Röm. 8, 10 f.). Die Juden, fleischlich, wie sie waren, wissen freilich nichts von einer Befreiung vom Tode, die nicht äußerlich am Leibe sichtbar ist, wie sie sich das allein vorzustellen vermögen. Sie haben in diesem Stück unzählige Leidensgenossen; denn eine Menge Menschen halten nur deshalb von der Erlösung durch Christum nichts, weil sie dieselbe eben nur nach dem zu beurteilen vermögen, was man mit seinen fünf Sinnen wahrnimmt. Damit es uns nicht auch so gehe, müssen wir unsere Gedanken ermuntern, dass sie auch mitten im Tode das geistliche Leben wahrnehmen.

V. 53. Unser Vater Abraham. Jetzt versündigen sie sich damit, dass sie Abraham und die heiligen Gottesmänner so hell erstrahlen lassen wollen, dass Christus, mit ihnen verglichen, in tiefer Finsternis dastehen soll. Aber wie die Sonne das Licht aller Sterne überstrahlt, sodass man nichts mehr von ihnen sieht, so auch Christus diese Vorbilder der Frömmigkeit. Vor ihm muss all ihr Ruhm verschwinden. Es ist grundverkehrt von den Juden, dem Herrn die Knechte gegenüberzustellen. Ja, sie tun Abraham und den Propheten Unrecht, wenn sie ihre Namen als Waffe gegen Christum missbrauchen. Aber auch diese Sünde hat in fast allen Jahrhunderten sich breit gemacht und spreizt sich noch heute, nämlich dass gottlose Menschen, um das, was Gott tut, schadenfroh zu zerpflücken, sozusagen eine Offenbarung Gottes gegen die andere ausspielen. Gott hat seinen Namen durch Apostel und Blutzeugen verherrlicht. Alsbald kommen die Anhänger des Papsttums, machen sich Götzen aus diesen Aposteln und Blutzeugen und setzen sie an die Stelle Gottes!

V. 54. So ich mich selber ehre usw. Ehe Jesus den verkehrten Vergleich richtig stellt, schickt er voraus, dass er nicht die eigene Ehre suche. So begegnet er der Verleumdung. Sollte jemand einwenden: Christus hat sich aber doch auch selbst geehrt! – so ist die beste Antwort darauf: Gewiss, aber nicht aus menschlicher Eitelkeit, sondern weil es Gott wollte und befahl. Auch hier wieder nimmt er, wie wir es schon einige Male näher erläuterten (z. B. zu 7, 16), die Scheidung vor zwischen sich und Gott. Alles in allem: er erklärt, er begehre keinen Ruhm außer dem, den ihm Gott gegeben habe. Diese Worte belehren uns darüber, dass Gott, da er seinen Sohn ehrt, es nicht immer geduldig mit ansehen kann, dass die Welt denselben verachtet. So lange sie das ungestraft tut, müssen die vom Himmel her erschallenden Gottesworte den Gläubigen rechten freudigen Mut machen: „Küsst den Sohn! Es sollen ihn anbeten alle Engel! Vor ihm sollen sich alle Knie beugen. Den sollt ihr hören! Ihn sollen die Heiden suchen! Vor ihm soll sich demütigen alles Fleisch!“ Außerdem mahnt uns unsere Stelle daran, dass alle Ehre, die sich Menschen selber beilegen, nichts wert ist. Wie blind ist dann doch aller Ehrgeiz! Um was plagt er sich? Um nichts! Deshalb soll uns der Ausspruch Pauli (2. Kor. 10, 18) stets gegenwärtig sein: „Denn darum ist einer nicht tüchtig, dass er sich selbst lobt, sondern dass ihn der Herr lobet.“ Da wir nun alles Ruhmes vor Gott entbehren, so lasst uns lernen, uns in Christo allein zu rühmen, soweit er uns aus Gnaden seines Ruhmes teilhaftig macht!

Von welchem ihr sprecht, er sei euer Gott. Damit nimmt Jesus den Namen Gottes, auf den sich die Juden berufen, aus ihren unreinen Händen fort. Er sagt: Ich weiß wohl, wie frech ihr euch brüstet, das Volk Gottes zu sein. Da ihr aber Gott nicht kennt, so ist es eine Lüge, wenn ihr euch mit diesem Titel schmückt! Wir lernen daraus, dass ein rechtes Bekenntnis des Glaubens immer auf wahre Erkenntnis gegründet sein muss. Woher soll man aber Gott anders kennen lernen, als aus seinem Wort? Wer sich also mit seinem Glauben an Gott brüstet, das Wort Gottes aber nicht gelten lassen will, der ist einfach ein Lügner. Christus stellt sein gutes Gewissen ihrer hartnäckigen Feindschaft entgegen. Dieser Gesinnung müssen alle Diener Gottes sein, dass sie sich damit zufrieden geben: Gott steht auf unserer Seite! Dann mag immerhin die ganze Welt gegen uns aufstehen! So haben einst Propheten und Apostel mit unbezwungener Seelengröße die schrecklichen Angriffe der ganzen Welt über sich ergehen lassen, - sie wussten ja, wer sie gesandt hatte. Allerdings, wenn uns solche Kenntnis Gottes abgeht, so bleibt uns kein Halt mehr.

V. 55. Und so ich würde sagen usw. Hier bezeugt Christus, er könne und dürfe nicht anders, er müsse von Amts wegen reden: Schweigen würde schnöder Verrat an der Wahrheit sein. Ein wichtiger Ausspruch! Gott offenbart sich uns dazu, dass wir, so oft es nottut, dem Glauben unseres Herzens vor den Menschen mit unserem Munde Ausdruck verleihen. Es muss uns einen nicht geringen Schrecken verursachen, zu hören, dass die, welche Menschen zuliebe sich mit ihrem Glauben verstecken und die Wahrheit Gottes verleugnen oder durch sie beeinträchtigende Zusätze entstellen, nicht nur oberflächlich dafür zur Rechenschaft gezogen, sondern zu den Kindern des Teufels gestellt werden sollen.

V. 56. Abraham, euer Vater. Dem Buchstaben nach gesteht Jesus den Juden noch einmal zu, was er ihnen vorher in anderem Sinne abgesprochen hatte, nämlich, dass Abraham ihr Vater sei. Er macht es ihnen aber handgreiflich, wie sehr sie sich damit versündigen, dass sie ihm den Namen Abrahams entgegenhalten. Abraham, das gibt er ihnen zu bedenken, hat sein ganzes Leben hindurch den höchsten Wunsch im Herzen gehegt, dass er doch noch mein Reich blühen sehen möchte. Jener hat sich, als ich noch ferne war, nach mir gesehnt; ihr verachtet mich, da ich mich nun eingestellt habe! Was Christus hier nur Abraham nachsagt, das hat seine Gültigkeit bei allen Heiligen Gottes. An der Person Abrahams jedoch, des Vaters aller Gläubigen, zeigt diese Lehre ihr ganz besonderes Gewicht. Wünscht irgendjemand zu der Zahl der wahrhaft Frommen gerechnet zu werden, so muss er den endlich erschienenen Heiland mit der rechten Freude aufnehmen, entsprechend der heißen Sehnsucht Abrahams nach Christo. Er ward froh, - wofür der griechische Text ein Wort gebraucht, das zur Bezeichnung der freudigsten Sehnsucht zu dienen pflegt. Und nun vergleiche man: als die Erkenntnis Christi noch so mangelhaft war, brannte Abraham dermaßen von Verlangen nach ihm, dass er alles, was er hatte, daran gegeben hätte, nur um mit ihm umzugehen, ihn zu sehen; die Juden dagegen, Jesu Zeitgenossen, erzeigen ihm abscheuliche Undankbarkeit, indem sie ihn, der vor ihnen steht, so geringschätzig behandeln und, wie wir eben gesehen haben, rundweg verwerfen. Welch ein Gegensatz!

Der „Tag“ Christi, von dem hier die Rede ist, soll die Zeit seiner Königsherrschaft auf Erden bedeuten, welche mit seiner Menschwerdung begonnen. Aber, so fragt man, wie hat denn Abraham die Offenbarung Christi geschaut? Unsere Stelle scheint schlecht zu stimmen mit der anderen (Lk. 10, 24): „Viel Propheten und Könige wollten sehen, das ihr seht, und haben es nicht gesehen“. Darauf ist zu antworten: Es gibt verschiedene Stufen des Anschauens Christi im Glauben. Gesehen haben auch die Propheten des alten Bundes Christum, - aber nur von ferne, als den Verheißenen. Gesehen haben sie ihn dagegen nicht als den Gekommenen, Gegenwärtigen, so wie ihn die sahen, welche seine Zeitgenossen sein durften. Weiter entnehmen wir unserer Stelle die Lehre, dass Gott, der den Abraham nicht vergebens sich sehnen ließ, auch in unseren Tagen nicht zugeben wird, dass ein Menschenherz vergeblich nach Christo verlangt. Er wird solchem frommen Sehnen ganz gewiss Genüge tun. Sind es nur wenige, die sich ihres Heilandes freuen, so ist daran die Beschaffenheit der Herzen schuld, denen nichts an einem Heilande gelegen ist. Die Frucht nun, welche alle wirklich Frommen von ihrem Glauben haben, ist die, dass sie zufrieden sind, wenn sie nur Christum besitzen; in ihm sind sie wahrhaft frohe und von Herzen glückliche Menschen, die ein ruhiges, heiteres Gewissen haben. Der hat Christum noch nicht recht erkannt, der ihm nicht die Ehre zuteilwerden lässt, dass er an ihm sein volles Genüge hat. Es gibt Ausleger, die der Meinung sind, Abraham habe nach seinem Tode Christum geschaut, als derselbe auf Erden erschien. So würde die Zeit des Verlangens und des Sehens auseinander fallen. Das ist gewiss richtig, dass den Heiligen drüben in der Ewigkeit die Erscheinung Christi auf Erden, nach der sie während ihres ganzen Lebens verlangend ausgeschaut hatten, bekannt wurde. Ob das jedoch in unserer Stelle liegt, weiß ich nicht.

V. 57. Fünfzig Jahre. Die Juden wehren Christi Wort durch den Hinweis auf die augenscheinliche Unmöglichkeit ab: ein noch nicht fünfzig Jahre alter Mensch kann doch nicht ein Zeitgenosse Abrahams sein, der vor vielen Hundert Jahren gestorben ist! Christus war damals noch nicht vierunddreißig Jahre alt. Sie geben ihm einige Jahre zu; es kommt ihnen nicht so genau darauf an. Sie meinen: Du gibt dich doch nicht für einen Greis aus, - wirst doch wohl nicht behaupten, schon fünfzig Jahre alt zu sein. So fällt sowohl die Vermutung derer dahin, welche meinen, es hätten sich dem Angesichte Jesu vor der Zeit tiefe Furchen eingegraben, die ihn hätten älter erscheinen lassen, als er in Wirklichkeit war, als auch derer, die hier nicht von langen Sonnenjahren die Rede sein lassen. Auch die alte Angabe, dass Christus über vierzig Jahre alt geworden sei, ist gänzlich aus der Luft gegriffen.

V. 58. Ehe denn Abraham ward. Weil die Ungläubigen nur nach dem, was sie vor Augen haben, urteilen, weist Christus darauf hin, dass er eine Hoheit und Würde besitzt, die man seiner schlichten menschlichen Erscheinung allerdings nicht ohne weiteres ansehen kann, die man jedoch, da sie sich dem fleischlich Gesinnten entzieht, mit den Augen des Glaubens ansehen muss; diese gerade, das will er sagen, hätten die heiligen Väter sehen können, ehe er als Mensch die Erde betrat. Mit diesem erhabenen Wort stellt er sich hoch über alle sonstige Menschenart und schreibt sich ein himmlisches und göttliches Wirken zu, das man von Anfang der Welt durch alle Jahrhunderte hin sollte spüren können. Man hat diese Stelle zwiefach ausgelegt. Die einen finden hier einfach eine Aussage der ewigen Gottheit Christi und ziehen als Parallele 2. Mo. 3, 14 herbei: „Ich bin, der ich bin“. Ich denke dagegen in viel umfassenderem Sinne daran, dass Christi welterlösende Kraft und Gnade durch alle Zeitalter sich wirksam erwies. Was Christus hier meint, ist auch in dem apostolischen Worte enthalten (Hebr. 13, 8): „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“. Auf diese Auslegung führt der ganze Zusammenhang. Jesus hatte vorher gesagt, wie sehnlich ihn Abraham erwartet habe: weil die Juden ihm das nicht glauben wollten, fügt er hinzu, er sei auch damals schon gewesen. Das versteht man erst dann recht, wenn man bedenkt, dass er auch damals schon als der Mittler anerkannt worden ist, der Gott versöhnen sollte. Natürlich hing es mit seiner ewigen Gottheit zusammen, dass die Gnade des Mittlers in allen Jahrhunderten wirksam war. Daher enthält dieser Ausspruch Christi allerdings einen hervorragenden Beleg für seine ewige Gottheit.

Zu beachten ist die feierliche Formel der Beteuerung: Wahrlich, Wahrlich, sowie die Zeitform: Ich bin. Jesus sagt nicht: „Ich war“ oder „Ich bin gewesen“. Er ist von Anfang bis zu Ende immer ganz genau der Gleiche. Auch sagt er nicht: „Ehe Abraham war,“ sondern bedeutungsvoll: „Ehe Abraham ward;“, damit gibt er ihm einen zeitlichen Anfang.

V. 59. Da hoben sie Steine auf. Möglicherweise haben sie das getan unter Berufung auf eine Gesetzesstelle (3. Mo. 24, 16), als wäre es ihre heilige Pflicht, Christum zu steinigen. Wir sehen daraus, wohin es die Raserei unbedachten Eifers bringen kann. Ihre Ohren brauchen sie nicht, um auf Jesu Worte zu hören; ihre Hände aber brauchen sie, um sich zu seiner Ermordung zu bewaffnen. Ohne Zweifel hat sich Christus damals durch eine geheime Machtwirkung gerettet, doch in schlichter, unauffälliger Weise. Er wollte nicht unverhüllt von seiner Gotteskraft Gebrauch machen, sondern dabei seiner menschlichen Schwachheit auch etwas nachgeben. Bemerkenswert ist noch, dass die gottlosen Priester und Schriftgelehrten, als sie Christum zur Flucht getrieben hatten, nun den Tempel, freilich nur äußerlich betrachtet, in alleinigem Besitz haben. Aber sie sind in schwerem Irrtum befangen, wenn sie glauben, ein Gebäude, das Gott verlassen hat, sei noch ein Tempel. Ist nicht ähnlich die päpstliche Kirche, aus der man Christum vertrieben hat, nur noch eine Scheinkirche?

1)
Dieses Urteil ist durch die neuere Textforschung zur unbedingten Gewissheit erhoben worden: das Stück 7, 53 – 8, 11 gehört in der Tat nicht zum Johannesevangelium, in dessen Zusammenhang es sich auch nicht gut einfügt.
2)
Für diese Umsetzung in ein Umstandswort haben sich die neueren Ausleger so gut wie allgemein entschieden. So übersetzt man entweder: „Durchaus das (bin ich), was ich auch zu euch rede.“ D. h. haltet euch doch einfach an mein Selbstzeugnis, welches vollkommen der Wahrheit entspricht! Oder: „Überhaupt, - was rede ich noch mit euch!“ Im letzteren Fall würde Jesus nicht eigentlich antworten, sondern abbrechen
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