Zuletzt angesehen: Calvin, Jean – Hiob 10, 7-15.

Calvin, Jean – Hiob 10, 7-15.

Calvin, Jean – Hiob 10, 7-15.

7) Du weißt: ich werde nichts Schlechtes tun, und niemand wird mich retten aus deiner Hand. 8) Deine Hände haben mich gebildet, sie haben mich um und um gestaltet, und nun wolltest du mich vernichten? 9) Bedenke doch: wie aus Ton hast du mich geformt, und zu Staub wirst du mich wieder machen. 10) Hast du mich nicht durchgesiebt wie Milch, wie Käse mich zusammengepresst? 11) Hast du mich nicht mit Haut und Fleisch bekleidet? Hast du mich nicht zusammengesetzt aus Knochen und Sehnen? 12) Leben und Gnade hast du mir gegeben, und dein Aufsehen hat meinen Geist bewahrt. 13) Das hast du in dir verborgen; dennoch weiß ich, dass dies deine Absicht ist. 14) Habe ich gesündigt, so legst du mich ins Gefängnis; du wirst nicht leiden, dass ich ungestraft herauskomme. 15) Habe ich unrecht gehandelt, wehe mir! Bin ich gerecht gewesen, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben; denn ich sehe mich mit Schmach bedeckt und erkenne mein Elend.

Gott braucht keine Untersuchung anzustellen, wie ein irdischer Richter: Du weißt: ich werde nichts Schlechtes tun. Wenn man einen Verbrecher in Haft hält, so befürchtet man: wenn er entwischt, so treibt er´s nur noch ärger. So ist man am Ende genötigt, solche Leute zu töten, wo doch keine Hoffnung auf Besserung besteht. Das aber trifft auf Gott nicht zu: Du weißt, ich werde nichts Schlechtes tun; selbst wenn du mich erretten wirst aus dieser Not. Dir bin ich immer unterworfen, und wenn du willst, so kannst du mich jederzeit in diesen meinen Jammer zurückbringen. Warum tust du mir denn soviel Plage an? So dürfen wir wohl klagen, wenn es nur in aller Demut geschieht und wir ja nicht mit Gott rechten, als wollten wir ihn anklagen, er behandle uns zu streng, oder als wollten wir irgendeinen Grund anführen, dass wir eine gute Sache gegen ihn verteidigten. Wir wollen so sagen: Herr, du machst es nicht wie die Menschen; du weißt, wer ich bin, du weißt, was in meinem Herzen ist, du kannst mich auch im Zaum halten; und wäre ich der gottloseste Mensch in der Welt, so kann ich dir nicht entfliehen. Und was gewänne ich auch damit, dass ich mich gegen dich auflehnte? Denn wer bin ich? Staub bin ich und eine arme sterbliche Kreatur. Und vor allem: ein Hauch deines Mundes – und es ist aus mit mir. Ich weiß ganz gut, es ist nicht fleischlicher Eifer, wenn du mich schlägst. Lass mich nur deine Güte schmecken!

Deine Hände haben mich gebildet, sie haben mich um und um gestaltet, und nun wolltest du mich vernichten? Das ist ein sehr tröstlicher Gedanke: Ist Gott streng gegen uns, so ist er´s nicht aus Grausamkeit. Er hat ja sein eigen Werk und Geschöpf vor sich! Ich habe mich doch nicht selber gemacht, will Hiob sagen, Gott hat es nicht mit etwas Fremdem zu tun, nein, ich bin seiner Hände Werk. So hat er also wohl einen Grund, wenn er mit mir also handelt. Er kennt sein Werk, er spiegelt sich sozusagen in den Menschen, er sieht sich in uns wieder. Nicht ohne Grund ist gesagt: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut“ (Gen 1, 31). Ist also der Mensch das vornehmste und vortrefflichste Werk unter allen Kreaturen, so hat Gott in ihm darstellen wollen, was er am Himmel, an der Erde und an allen Tieren nur zum kleinen Teil dargestellt hat. Darum wird der Mensch auch eine „kleine Welt“ genannt, weil man an ihm so viel Wunderbares sieht, dass es zum Staunen ist. Deshalb sollen wir allezeit überzeugt sein: Gott sieht in uns sein Werk an, und das macht ihn geneigt, uns Gutes zu tun und uns zu erhalten. Das wird ihm ja auch in der Heiligen Schrift zugeschrieben: „Herr, deine Güte ist ewig; das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen“ (Ps 138, 8). Diese seine Gnade will er an uns bis ans Ende erweisen. Diesen Gedanken führt Hiob weitläufig aus.

Und nun wollest du mich vernichten? Du hast mich doch um und um gestaltet! Menschen können wohl ein Werk herstellen, das schön aussieht, aber es ist doch nicht in allen Stücken gleich kunstvoll, es sind auch Stellen daran, wo man nicht so viel Kunst aufgewandt hat. Aber der Mensch ist kunstvoll gestaltet von der Fußsohle bis zum Scheitel, er ist ein gleichmäßiges Kunstwerk und nichts ist daran zu tadeln bis zum kleinsten Nagel hin. Damit will Hiob die unendliche Weisheit Gottes ausdrücken, die sich am menschlichen Leibe zeigt: Lieber Herr, willst du denn solch ein treffliches Werk zerstören, das uns deine Weisheit, Kraft und unermessliche Güte zeigt zu deinem Preis? Sollte es dir Vergnügen machen, deine Herrlichkeit, die an den Menschen so leuchtend strahlt, also zunichte zu machen?

Wie aus Ton hast du mich geformt, und zu Staub wirst du mich wieder machen. Herr, wenn alles an mir verschwindet, was dein Werk ist, was bleibt dann übrig? Denn meinen Ursprung habe ich im Erdenstaub. Nimmt Gott weg, was er zum Erdenstaub hinzugetan hat, seine Kraft, Weisheit und Güte, so müssen wir wieder dahin zurückkehren, woher wir gekommen sind. Wollte uns Gott also vernichten, hieße das nicht seine Herrlichkeit zunichte machen? Das heißt: wenn er´s ohne Ursache täte! Denn wenn er die Gottlosen und Ungerechten zunichte macht, so geschieht es, weil sie das Ebenbild, das ihrer Natur aufgeprägt war, ausgelöscht haben. Ausdrücklich sagt Mose: „Da reuete es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden; denn er sah, dass der Menschen Bosheit groß war“ (Gen 6, 5.6). Es „gereute“ ihn nicht in dem Sinne, als sei eine Änderung in ihm vorgegangen – er hat ja alles vor Erschaffung der Welt genau vorhergesehen -, nein, Mose meint: Gott verleugnet die Menschen, weil sie sich so verderbt und von ihrer Unschuld und Redlichkeit abgewandt haben, die ihnen anerschaffen war. Gott sieht an den Menschen allezeit sein Werk, hat aber dabei immer einen Abscheu vor der Sünde, die doch nicht von ihm herkommt und ihm deshalb auch nicht zugerechnet werden kann.

Gott hat sich jedoch nicht daran genügen lassen, den Menschen im Mutterleibe zu bilden und ihm eine so treffliche Gestalt zu geben, nein, er hat noch mehr getan: Leben und Gnade hast du mir gegeben, und dein Aufsehen hat meinen Geist bewahrt. Unter Leben versteht Hiob alles, was an Lebenskraft in der Seele ist; denn der Leib an sich wäre bewegungslos, ein totes Ding. Herr, das Vornehmste, was an deinem Werk zu preisen ist, ist nicht die Gestalt meines Leibes – die Seele ist noch viel mehr. Dazu hat die Seele nicht nur ein Leben wie alle anderen Kreaturen, etwa die unvernünftigen Tiere, die vermöge ihrer Seele Empfindung und Bewegung haben, essen und trinken, kommen und gehen. Nein, im Menschen finden sich nicht nur diese äußerlichen Fähigkeiten, sondern er hat auch Verstand und Vernunft und Wahrheit. Alles das befasst in sich der Geist, der im Menschen ist. Darum fügt Hiob dem Worte Leben noch das Wort Gnade hinzu: das Leben, das Gott den Menschen gegeben, haben sie nicht mit den unvernünftigen Tieren gemein, sondern ihre Würde ist viel größer und preiswürdiger. Darum braucht Hiob auch den Ausdruck „Aufsehen“ oder „Heimsuchung“: Herr, wenn du mich nicht mit deinem väterlichen Auge anblicktest, so wäre ich sicherlich jeden Augenblick verloren, aber du schaust mich allezeit an; du weißt, was ich bedarf, und sorgst für mich.

Das alles hast du in dir verborgen; dennoch weiß ich, dass dies deine Absicht ist. Herr, ich weiß wohl, diese Dinge sind so erhaben, dass ich sie nicht völlig begreife; aber das ist sicher: Ich muss ein Verständnis davon haben. Ich habe nur eine Ahnung davon, aber das genügt mir, um daraus den Schluss zu ziehen, dass du so große Schätze deiner Weisheit, Güte und Kraft an mir erzeigt hast, dass es mir unmöglich ist, sie gebührend zu loben und zu preisen. Jetzt aber sehe ich, wie du mit mir umgehst: unglücklich bin ich, wie ins Gefängnis hast du mich eingeschlossen, nie komme ich wieder heraus. Ich sehe die Trübsale, in die du mich geführt hast; ich weiß nicht, wie sie enden sollen, darum bin ich verzweifelt: wäre ich gerecht, so dürfte ich doch mein Haupt nicht erheben, um mich vor dir zu entschuldigen, und du würdest mich von dir weisen. Wenn ein Richter nicht annehmen will, was ihm vorgetragen wird, so weist er die Partei ab, und so muss es ungeachtet aller Einreden zur Verurteilung kommen. Ich weiß mich nicht schuldig, meint Hiob, und doch hast du mich so hart geplagt! Das sagt er aus seiner unbeherrschten Gemütsstimmung heraus, und dabei weiß er doch ganz gut: Wenn er es mit der unbegreiflichen Gerechtigkeit Gottes zu tun hat, so wird er an seiner Behandlung nichts Befremdliches finden. Das kann er freilich in seinem natürlichen Denken nicht begreifen, aber wenn er alles recht erwogen hat, muss er jene Anfechtung bekämpfen.

Nun aber haben wir auf das zu achten, was Hiob über die Erschaffung des Menschen sagt und zugleich über die Gnade Gottes, durch die er erhalten wird. Hast du mich nicht mit Haut und Fleisch bekleidet? Des Menschen vornehmstes Teil ist also nicht seine augenfällige Gestalt, sondern das, was in dieser wohnt. Es muss ein Gast in unserm Leibe wohnen. Wer ist dieser Gast? Es ist die Seele. Das vornehmste Teil des Menschen ist also der Geist, den Gott in ihn hinein gegeben hat. Der menschliche Leib ist so kunstvoll zusammengesetzt, dass wir ihn nur mit sprachlosem Staunen betrachten können – wie ist es erst mit dem, was an Würde hoch über ihm steht! An die überragende Würde der Seele denkt Hiob auch bei den Worten: Leben und Gnade hast du mir gegeben, und dein Aufsehen hat meinen Geist bewahrt. So wundervoll auch das Kunstwerk des menschlichen Leibes ist – es wäre doch nichts ohne die Kraft, die ihm eingegossen ist. Wenn wir nichts als die Bewegung hätten, so wäre das schon sehr viel. Schon das natürliche Leben in der Schöpfung gibt uns ein herrliches Zeugnis der Kraft und Weisheit Gottes; aber vielmehr noch liegt ein solches Zeugnis im Leben des Menschen vor. Darum sagt Hiob ausdrücklich, Gott habe ihm Leben und Gnade gegeben. Damit spricht er aus, das Leben der Menschen sei mit Verstand und Vernunft begabt. Darum wird auch Joh 1, 4 gesagt: „Das Leben war das Licht der Menschen.“ Zuvor lehrt Johannes, durch das Wort Gottes seien alle Dinge gemacht und die ewige Weisheit in Gott sei der Brunnquell des Lebens und der Kraft. Dann aber weist er darauf hin, dass die Menschen nicht nur ein Leben haben, das durch Essen und Trinken erhalten wird; nein, es ist in ihnen durch dieses Wort auch ein Licht, das in ihnen leuchtet. Mit diesem Wort „Licht“ meint er das Ebenbild Gottes, das uns eingedrückt ist, indem wir Verstand und Vernunft haben, Gut und Böse unterscheiden können, indem wir geboren sind, um irgendeine Ordnung und Obrigkeit zu haben, und jeder sein Gewissen hat, das ihm Zeugnis gibt, dies sei gut, jenes böse. Darin besteht der Vorzug des Menschen: er hat ihn nicht nur lebendig gemacht, er hat auch seine Seele erleuchtet, so dass er ein Urteils- und Unterscheidungsvermögen hat, ja sogar das ewige Leben zu fassen vermag. Betrachten wir ernsthaft, was Gott uns gegeben hat, so haben wir Grund genug, ihn zu preisen, ohne dass wir es nötig hätten, über uns selbst hinaus zu sehen. Darum sagt auch der hl. Paulus in seiner schönen Predigt zu Athen (Apg 17, 27.28): „Dass sie den Herrn suchen sollten, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns; denn in ihm leben, weben und sind wir.“ Sind wir blind, so lasst uns nur mit den Händen tasten wie ein armer Blinder! Wenn er auch nicht das Geringste sieht, so tastet er sich doch mit den Händen weiter. Trotz unserer Blindheit können wir also die Werke Gottes fühlen und „tasten“, wie Paulus sagt, weil Gott uns Vernunft und Verstand gegeben hat; darum sind wir auch unentschuldbar, wenn wir diese Gnade nicht hoch schätzen.

Dein Aufsehen bewahrt meinen Geist. Scheinbar hat unsere Seele in sich eine Kraft, die den Leib lebendig erhält und stärkt. Aber das ist nur zum Teil richtig: nicht aus ihrer eigenen Kraft heraus ist unsere Seele unsterblich, und das in ihr enthaltene Leben hat doch nicht in ihr selbst seine Wurzel. Wo ist denn ihr Leben? In Gott! Gott schenkt der menschlichen Seele einige Tropfen und Funken des Lebens, und nur so und nicht anders besitzt sie Kraft. Dass wir diese Kraft aber nicht verlieren und dass wir nicht zusammenbrechen, das verdanken wir dem „Aufsehen“ Gottes. Die Philosophen meinen zwar: Unsere Erschaffung, unsere Gestaltung, unser Dasein verdanken wir Gott, aber wenn er uns erst in Gang gebracht hat, so leitet und regiert ein jeder sich selbst. So verdunkeln sie Gottes Güte und Kraft – zu dieser Bosheit sind die Menschen immer geneigt. Nein, wenn Gott uns in die Welt gesetzt hat, so lässt er uns nicht los und sagt: Nun geht, und sehe ein jeder, wie er weiterkommt! Nein, er bleibt allezeit bei uns. Er hält seine Hand ausgereckt, um uns ständig mit seiner Kraft zu erfüllen, dass wir nicht vergehen. Und das soll uns bewegen, in der Furcht Gottes zu wandeln und ihn gebührend zu loben und zu preisen für seine unendliche Güte. Noch viel mehr aber ist Gott zu loben, weil es ihm gefallen hat, uns zu erneuern durch seine unendliche Güte, weil er sein Ebenbild in uns wiederhergestellt hat und uns gleichsam an seiner Hand leitet, bis wir unsern Lauf vollendet haben.

Nun hat Hiob auch gewusst, dass Gott ihn mit Wohlgefallen überschüttet hat; gleichwohl hat er soviel Angst erlitten, dass er gar nicht mehr weiß, was er tut und sagt. Wie viel mehr wird uns das widerfahren können, wenn wir kein Auge haben für die Güte Gottes und die Gnaden, die er täglich an uns tut! Wenn wir das einsehen, so haben wir daran eine Arznei gegen alle Anfechtungen; dann können wir ihn auch mit aller Freimütigkeit anrufen, wenn wir der Hölle nahe sind. Wenn wir die täglichen Wohltaten Gottes nicht preisen, so wird er uns um unsern Undank strafen, und es bedarf gar keiner großen Trübsal, um uns zu Boden zu schlagen – auch bei einem geringen Ungemach sind wir schon verloren.

Nun fügt Hiob hinzu: Habe ich gesündigt, so legst du mich ins Gefängnis; du wirst nicht leiden, dass ich ungestraft herauskomme. Diese Gefängnisstrafe ist etwas anderes als eine plötzlich verhängte Heimsuchung, die ihm leichter zu ertragen scheint. Weil er nun von Gottes gewaltiger Hand so hart bedrängt war, dass er keine Hoffnung auf Rettung mehr hatte, so wünscht er sich, Gott möge ihn sterben lassen. Er möchte nicht länger so dahin siechen wie ein Verbrecher, der sein Verdammungsurteil schon weiß und sieht, dass er nicht entrinnen kann; und doch ist seine Not täglich neu, und er muss auf die Folter, und es sieht aus, als wollte man ihm täglich aufs neue den Prozess machen. So war es Hiobs Los, und er klagt, Gott verfolge ihn und er möge ihn doch schnell von der Welt wegnehmen. Hiob war ein geduldiger Mann, und doch bricht er immer wieder in laute Klagen aus, als wollte er sich gegen Gott auflehnen. Seine Schwachheit hätte ihn wirklich so weit gebracht, wenn Gott ihn nicht durch die Gnade seines Heiligen Geistes bewahrt hätte. Wie viel Ursache haben wir deshalb, Gott zu bitten, er wolle, wenn er uns wirklich züchtigen und unsere Geduld erproben will, doch so gelind mit uns umgehen, dass wir vor allen Dingen seine Hand erkennen und die Züchtigung uns zunutze machen und uns ja nicht von unserer trüben Stimmung übers Maß hinaus hinreißen lassen! Und wenn Gott wirklich zulässt, dass wir in Verwirrung geraten und unser Fleisch uns hinreißt, so wolle er uns doch zu Hilfe kommen und uns Kraft zum Widerstande schenken, damit wir in unserer Not nicht völlig aus der Fassung kommen! Wenn es uns wirklich dünkt, wir hätten gegen Gott Krieg geführt und dürften nicht wieder zu ihm kommen, so wollen wir doch den Mut nicht sinken lassen. Wir sehen ja, wie es Hiob ergangen ist; darum lasst uns den anrufen, der uns wieder aufrichten kann, wenn wir am Boden liegen.

Und nun kommt das Wichtigste. Hab ich unrecht gehandelt, wehe mir! Bin ich gerecht gewesen, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben, denn ich sehe mich mit Schmach bedeckt und erkenne mein Elend. Hiob meint, wenn er gottlos sei, so verdamme ihn Gottes Gesetz; wenn er aber gerecht sei, so gebe es darüber noch eine Gerechtigkeit Gottes, vor der er zu Schanden werden müsse. Man braucht sich gar nicht darüber zu wundern, dass dies Urteil so selten ist; denn obwohl uns Gott in seinem Gesetz erklärt, dass wir verdammt sind, so findet man doch unter hundert kaum einen, der zu diesem Urteil gelangt. Die Heuchelei hindert uns und verbindet uns die Augen, ja, sie macht uns völlig blind, so dass wir nicht erkennen, was doch klar auf der Hand liegt. Der hl. Paulus legt das Bekenntnis ab, er sei von Kind auf im Gesetz unterwiesen und habe in der Reihe der Gesetzeslehrer in hohem Ansehen gestanden; dennoch habe er die eigentliche Meinung des göttlichen Gesetzes nicht verstanden, sondern habe sich selbst geschmeichelt und sich in seinem Stolz für gerecht gehalten. „Ich lebte“, sagt er Röm 7, 9; das heißt: ich meinte, ich sei vor Gott gerecht, und tat mir auf meine Verdienste viel zu gut. Wie kam das? Es war ihm noch nie der Gedanke gekommen: Gott hat uns sein Gesetz gegeben, damit ein jeder sich darin spiegle und erkenne, es ist lauter Ungerechtigkeit in mir, - und damit wir beschämt werden. Soweit war Paulus noch nicht gekommen. Wenn aber ein Mann wie Paulus, der im Gesetz Gottes unterwiesen und dabei so untadelig war, gleichwohl von Stolz geblendet ist, wie wird´s dann bei uns sein? Und was wir erst aus denen werden, die überhaupt nicht nach Gott und seinem Wort fragen, die voll aller Laster sind und ein leichtfertiges Leben führen, oder auch aus denen, die sich rühmen, ohne zu wissen, warum? So grob macht sich die Heuchelei in den Menschen breit, dass man sich vielmehr wundern muss, wie Gott so geduldig sein und solche Leute solange tragen kann.

Ist uns aber der Verdammungsspruch, den Gott in seinem Gesetz über uns laut werden lässt, schon unbekannt, wie sollen wir dann eine viel erhabenere und befremdlichere Gerechtigkeit begreifen? Es ist uns doch gesagt: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, vom ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften und deinen Nächsten als dich selbst.“ Und jedermann hält das für recht und billig. Denn die Natur selbst lehrt uns, dass wir dazu geschaffen sind, um diese Gemeinschaft zu pflegen, auf die Gott das Menschengeschlecht angelegt hat. Das sollten schon die kleinen Kinder wissen. Vergleichen wir aber unser Leben mit der Vorschrift Gottes in seinem Gesetz, so finden wir, dass jeder an seinem Teil schuldig ist, dass wir weit davon entfernt sind, alles zu erfüllen, was Gott uns vorschreibt, dass wir auch nicht mit einem einzigen Punkt fertig werden, ja, dass wir auch nicht einmal in Gedanken das Gute tun. Paulus sagt – und die Erfahrung bestätigt es nur zu sehr -: „Nicht, dass wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber“ (2. Kor 3, 5). Und wenn die Menschen nie eine Tat begangen hätten, die Verdammnis oder Tadel verdient hätte, so verdammt sie doch schon das eine Wort: Lass dich nicht gelüsten! Und Gott verbietet nicht allein den Willen zum Bösen, nein, er geht noch weiter, er verbietet die böse Lust: schon der Reiz zu irgendeiner schlechten Begierde macht uns zu Übertretern des Gesetzes.

Das Gesetz Gottes ist – an uns gemessen – wohl eine vollkommene Regel frommen und heiligen Lebens; so kann auch die Gesetzesgerechtigkeit vollkommen heißen, aber nur an der menschlichen Fähigkeit und am menschlichen Maß gemessen. Mit der Gerechtigkeit Gottes aber deckt sich diese Gerechtigkeit bei weitem nicht, geschweige denn, dass sie ihr gleich wäre. Das lehrt uns schon ein Blick auf die Engel. Die Engel haben kein geschriebenes Gesetz, gleichwohl fügen sie sich zum Gehorsam Gottes. Deshalb sagen wir auch in unserm Gebet: Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel! Im Himmel gibt es kein Widersprechen, nur vollkommenen Gehorsam, im Himmel herrscht Gott. Deshalb bitten wir auch, den Engeln gleichförmig zu werden; das wäre genug, denn dann hätten wir eine Vollkommenheit, wie alle Kreaturen haben sollten. Aber kann man deshalb die Gerechtigkeit der Engel mit der Gottes gleichstellen? Nein, da besteht ein Unterschied wie zwischen Himmel und Erde. Im Vergleich zu den Kreaturen ist die Gerechtigkeit der Engel allerdings vollkommen, und dennoch ist sie nichts, sie ist nur ein Rauch, wenn sie vor der unendlichen Majestät Gottes erscheinen müssen. Das Gesetz ist uns wohl als vollkommene Lebensregel gegeben, und wenn wir es halten könnten, würden wir vor Gott als gerecht und vollkommen gelten; aber deshalb wären wir noch lange nicht völlig gerecht, so dass wir sagen könnten, wir hätten in uns irgendwelche Würdigkeit oder hätten ein Verdienst vor ihm. Warum? Weil er lauter Gnade ist, wenn Gott spricht: „Welcher Mensch meine Satzungen und Rechte tut, der wird dadurch leben“ (Lev 18, 5). Denn Gott könnte alles, was ihm gut dünkt, von uns fordern, und wir könnten nicht einmal sagen, wir wären ihm nicht verpflichtet. Denn wir sind sein, und wenn er will, braucht er nichts von dem, was wir ihm bringen, anzunehmen, wenn wir es auch für vollkommen gerecht und untadelig halten. Gott wird nicht geruhen, es mit freundlichen Augen anzusehen, wenn er nicht will, das heißt, wenn ihn nicht seine lautere Gnade und Freundlichkeit dazu bewegt, es zu tun.

Es gibt also in Gott zweierlei Gerechtigkeit: die eine ist die des Gesetzes, mit der Gott zufrieden ist, weil es ihm so gefällt, die andere eine verborgene Gerechtigkeit, die über das Verständnis der Kreaturen weit hinausgeht. Dementsprechend sagt auch Hiob: Hab ich unrecht gehandelt, wehe mir! Warum? Es steht geschrieben: „Verflucht ist, wer nicht alles tut, was in diesem Buch enthalten ist; verflucht ist, wer Gott nicht anbetet; verflucht ist, wer den Sabbat entheiligt; verflucht, wer Vater und Mutter nicht ehrt; verflucht, wer eines andern Gut raubt und stiehlt; verflucht, wer jemand tötet oder seinem Nächsten Schaden tut – und das ganze Volk soll sagen: Amen!“ Wir müssen also alle bekennen, dass wir Gottes Fluch und Verwerfung verdient haben. Denn wiewohl das Gesetz zur Zeit Hiobs noch nicht aufgeschrieben war, war dies Zeugnis doch schon in die Herzen der Menschen geschrieben.

Nun aber fügt er noch hinzu: Bin ich gerecht gewesen, so darf ich doch mein Haupt nicht erheben, denn ich sehe mich mit Schmach bedeckt und erkenne mein Elend. Hier könnte man die Frage aufwerfen: Wie meint Hiob das, er sei gerecht gewesen, was doch unmöglich ist? Er muss sich doch schlecht kennen, wenn er sich eine Vollkommenheit zuschreiben will, die das Gesetz Gottes wirklich erfülle. Solange die Menschen in ihrer Natur bleiben, kann gar nicht davon die Rede sein, dass sie ihre Pflicht gegen Gott auch nur in einem einzigen Stück erfüllen, nein, es ist lauter Widerspenstigkeit in ihnen, wie Paulus sagt: „Fleischlich gesinnt sein, ist eine Feindschaft wider Gott“ (Röm 8, 7). Folgen wir unserer Natur, so geht´s dem Willen Gottes stracks zuwider, es ist kein Gedanke in uns, der nicht schlecht und verdammungswürdig wäre. Ehe Gott nicht die Hand nach uns ausreckt, kommen wir nie zu ihm. Diese Gnade aber ist uns erst in begrenztem Umfang zuteil geworden; allerdings sehnen wir uns nach ihm, je mehr er uns zu sich zieht und leitet, gleichwohl aber sind wir nicht da, wo wir sein sollten. Guten Willen haben wir wohl, aber er ist schwach; wir hinken, wir tun manchen Fehltritt, wir fallen, wir weichen oft vom rechten Wege ab. So sind die Menschen. Lasst uns an die denken, die es in dieser Gerechtigkeit am weitesten gebracht haben – haben die das Gesetz wirklich erfüllt? Nein, es gibt keinen, der sich nicht als schuldig erwiese, wenn Gott sein Leben prüft. Wie sagt denn Hiob? „Bin ich gerecht gewesen, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben!“ Gewiss, Gott erklärt für gerecht die, die es nicht sind. Hat er uns die Gnade geschenkt, nach seinem Willen zu wandeln, so sind wohl noch Mängel genug an uns, aber er sieht sie nicht an und lässt nicht die verdiente Strenge walten. Haben wir unsere Pflicht nicht in allen Stücken erfüllt, so verwirft er uns doch deshalb nicht, sondern er trägt uns in unserer Schwachheit, ja, er lobt, was nicht gut in uns ist, und nimmt es für gut. So verfährt Gott mit seinen Gläubigen.

Hiob aber spricht von einer Unmöglichkeit: Ich bin nicht so gerecht, dass ich mich vor Gott stellen und sagen könnte: Lass uns abrechnen, prüfe nur mein Leben durch, und es wird sich herausstellen, dass ich unanstößig gewandelt und meine Pflicht vollkommen erfüllt hätte, so würde ich mich doch nicht erdreisten, deshalb mein Haupt zu erheben. Denn ich sehe mich mit Schmach bedeckt und erkenne mein Elend. Hiob hätte sagen müssen: Gut, Gott ist gerecht, und nicht allein sein Gesetz soll mich im Zaum halten, nein, ich weiß: es gibt noch eine viel erhabenere Gerechtigkeit als die, die uns in seinem Willen erkennbar ist und in dem Zeugnis, das er uns über Gut und Böse gibt. Unter diese gebührt es sich uns zu demütigen. So hätte er sagen sollen, aber aus seinen Worten geht hervor, dass er diese höhere Gerechtigkeit nur gezwungen anerkennt. Nein, wir wollen uns üben in der Betrachtung dieser wahren, unbegreiflichen Gerechtigkeit Gottes, ihn in seinen Geheimnissen anbeten und nicht meinen, wir könnten sein innerstes Wesen mit unserm schwachen Verstand erkennen; wir sehen doch, wie klein wir sind!

Was sollen wir denn tun? Um uns zu verdammen, genügt vollständig das Gesetz. Gott will nicht, dass wir anderswohin gehen als zu seinem Gesetz. Wir müssen die Worte ernst nehmen: Habe ich unrecht gehandelt, wehe mir! Dann ist das zweite Wort für uns gar nicht nötig: Bin ich gerecht gewesen, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben. Denn wo ist ein Gerechter? Und wenn wir gerecht, das heißt: nicht völlig gottlos und ruchlos sind, so ist gleichwohl diese ganze Gerechtigkeit in uns nichts als eine gnadenreiche und gütige Annahme auf Seiten Gottes. Wieso? Es ist wahr: Die Gläubigen heißen gerecht, und zwar nicht nur deshalb, weil ihnen Gott die Sünden vergibt und sie zu Gnaden annimmt, sondern auch weil ihr Leben ihm angenehm ist. Aber diese Bezeichnung wird ihnen doch nur deshalb beigelegt, weil sie Gott in seiner gnadenreichen Güte angenommen und Gott ihnen ihre Sünden nicht zugerechnet hat. Wenn wir sagen, die Menschen werden durch den Glauben gerechtfertigt, so geschieht das doch nur deshalb, weil Gott ihnen ihre Sünden verzeiht und sie im Namen unseres Herrn Jesus Christus freispricht. So ist es auch zu verstehen, dass wir in unsern Werken gerecht sind – nämlich: Gott nimmt uns in Gnaden an! Denn unsere Werke verdienen nichts anderes, als dass Gott sie verwirft. Dabei meine ich nicht die Werke, die die Menschen aus ihrer eigenen Kraft verrichten; denn da ist nichts als lauter Unart und Widerspenstigkeit. Nein, auch wenn einer sich von Gottes Geist regieren lässt und durch des Geistes Gnade in guten Werken wandelt, so sind gleichwohl alle seine guten Werke unvollkommen, und Gott kann sie verwerfen; von Verdienst und Würdigkeit kann man da gar nicht reden, wie es die Papisten tun; denn da gibt´s nur Befleckung. Ja, aber Gott nimmt sie doch an! Freilich, aber wie ein Vater annimmt, was sein Kind tut, auch wenn es nichts wert ist. Was wir an Gerechtigkeit besitzen, verdient nicht, bei Gott als gerecht zu gelten; denn es steht geschrieben: „Verflucht sei, wer nicht erfüllet alle die Worte dieses Gesetzes, dass er darnach tue!“ (Deut 27, 26). Wenn wir also auch die im Gesetz gesteckten Grenzen nicht überschreiten, so müssen wir dennoch den Kopf hängen lassen. Das ist aber noch gar nichts angesichts der für uns unbegreiflichen Gerechtigkeit Gottes! Gott ist uns nichts schuldig. Aber er hat doch gesagt: „Welcher Mensch meine Satzungen und Rechte tut, der wird dadurch leben“ (Lev 18, 5)? Jawohl, aber das hat er nur aus lauter Güte verheißen. So sagt auch unser Herr Jesus Christus: „Welcher ist unter euch, der einen Knecht hat, der ihm pflügt und das Vieh weidet – wenn er heimkommt vom Felde, dass er ihm sage: Geh alsbald hin und setze dich zu Tische?“ (Luk 17, 7). Nein, es ist die Aufgabe des Knechtes, seinen Herrn zu bedienen, nicht umgekehrt; der Herr ist dem Knecht zu nichts verpflichtet. So sagte er denn auch weiter: „Also auch ihr: wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte.“ Christus meint nicht, es könne sich jemals ein sterblicher Mensch finden, der alle getan hätte, was Gott befiehlt, sondern er setzt nur den Fall, es wäre so. Lasst uns auch einmal den Fall setzen, es habe jemand das Gesetz gehalten, so müsste dieser Mensch doch Gott in aller Demut anbeten und sprechen: Herr, ich will mich gleichwohl unter deine Hand beugen; denn ich weiß ganz gut: Alles, was ich getan habe, kommt von dir; von mir kann nicht ein Tröpflein Gutes kommen. Und wenn du mich auch annimmst, so kommt das nicht von meiner Würdigkeit oder meinem Verdienst, sondern allein von deiner lauteren Güte!

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/c/calvin/calvin-hiob/22.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain