Calvin, Jean - Zeugnis für Sebastian Castellio.

Nr. 109 (C. R. – 531)

Calvin, Jean - Zeugnis für Sebastian Castellio.

Von Castellios ketzerischen Ansichten über das Hohelied und die Höllenfahrt Christi.

Sebastian Castellio, bisher Rektor unserer Schule, hat den Rat um Entlassung gebeten und sie erhalten. Er hatte seine Stellung nur unter der Bedingung übernommen, dass es ihm freistehe, sie wieder zu verlassen, wenn er nach einem gewissen Zeitraum sie zu ungünstig und zu schwierig finde. Da er jetzt im Sinn hat, anderswohin zu ziehen, so hat er uns um ein Zeugnis über sein bisheriges Leben gebeten. Das wollten wir ihm nicht verweigern. So bezeugen wir ihm in Kürze, dass er von uns so wohl geachtet wurde, dass wir ihn einstimmig auch zum Pfarramt bestimmt hätten, wenn sich nicht ein Grund dem entgegengestellt hätte. Als er nämlich, wie üblich, geprüft wurde, ob in der ganzen Lehre zwischen ihm und uns Einigkeit herrsche, da gab er zwei Punkte an, in denen er nicht mit uns übereinstimmen könne: dass wir das Hohelied Salomos zu den heiligen Schriften rechneten und dann, dass wir in unserm Katechismus die Niederfahrt Christi zur Hölle deuten als die Höllenqual, die Christus in der höchsten Gewissensnot habe aushalten müssen, als er für uns vor Gottes Richterstuhl trat, unsere Sünde, Strafe und Verdammnis auf sich nahm und durch seinen Tod sühnte. Den zweiten Grund betreffend, leugnete er nicht, dass auch die Lehre, die wir bekennen, fromm und heilig sei. Nur das war strittig, ob man die Stelle [1. Petri 3, 19] so verstehen dürfe. Zuerst suchten wir ihn mit Gründen zu unserer Anschauung zu bringen und widerlegten seine Einwände, so gut wir konnten. Als wir damit aber nicht weiter kamen, versuchten wir eine andere Methode. Wir zeigten ihm, dass das Glaubensbekenntnis nichts anderes wolle und zu keinem andern Zweck abgefasst sei, als dass eine kurze einfache Zusammenfassung des Christentums bestehe, die die gesunde Lehre enthalte und das Volk über die Dinge unterrichte, die am nötigsten seien zur Seligkeit. So müsse er sich eben damit begnügen, dass unsere Darstellung unseres Glaubens nichts als gesunde, fromme Lehre enthalte und sich wohl zur Erbauung der Gemeinde eigne. Auch wir tadelten ja die Kirchen nicht, die [diesen Punkt] anders erklärten. Nur dafür wollten wir sorgen, dass nicht [in unserer Kirche] aus verschiedenen Darstellungen großes Unheil entstände. Er antwortete, er wolle nicht versprechen, was er nicht ohne Widerspruch seines Gewissens halten könne. Der Hauptkampf aber entbrannte um das Hohelied. Er meint nämlich, es sei ein schlüpfriges, unanständiges Gedicht, in dem Salomo seine unzüchtigen Liebesgeschichten beschrieben habe. Von Anfang an gaben wir ihm zu bedenken, er solle doch nicht die dauernde Übereinstimmung der ganzen Kirche [über dieses Buch] so leichthin für nichts achten. Es sei kein Buch zweifelhafter Echtheit, über das nicht einst ein Kampf entbrannt und ausgefochten worden sei. Ja, es seien sogar unter denen, denen wir jetzt sichere Autorität zuschreiben, einige, die nicht von Anfang an ohne Widerspruch in den Kanon aufgenommen worden seien. Das Hohelied aber sei niemals von irgendjemand offen abgelehnt worden. Auch gaben wir ihm zu bedenken, er dürfe für sein persönliches Urteil nicht mehr als billig Anspruch auf Geltung erheben, besonders da er nichts vorbringe, was nicht alle Welt vor seiner Geburt schon gewusst habe. In Beziehung auf den Inhalt seiner Beweisführung erinnerten wir ihn daran, dass die Form des Hohenlieds die eines Hochzeitsliedes sei, nicht unähnlich derjenigen, die auch der 45. Psalm habe. Ja, es sei gar kein Unterschied als der, dass, wenn im Psalm derartiges nur kurz gesagt sei, im Hohenlied dasselbe ausführlicher und sozusagen bis in die Einzelheiten durchgeführt sei. Im Psalm werde nämlich auch Salomos Schönheit und der Schmuck der Braut besungen, so dass sich die Sache ganz entspreche, der Unterschied bloß in der verschiedenen Ausführlichkeit der Bildersprache liege. Da aber das für ihn gar nicht von Gewicht war, berieten wir unter uns, was zu tun sei. Es war nur eine Meinung bei allen, es sei gefährlich und ein böses Beispiel, wenn er unter diesen Umständen zugelassen würde zum Dienst am Wort. Denn erstens wäre es für die Frommen kein geringer Anstoß, wenn sie hörten, wir hätten einen Mann zum Diener am Wort gewählt, der offen gesteht, dass er ein Buch verschmäht und verurteilt, das alle Kirchen in ihrem Kanon heiliger Schriften haben. Den Feinden und Böswilligen aber, die jede Gelegenheit suchen, das Evangelium zu verdächtigen und besonders unsere Kirche zu schmähen, würde damit durch uns Tor und Tür geöffnet. Schließlich wären wir durch diesen Fall auch für die Zukunft verpflichtet, es einem andern nicht als Fehler anzurechnen, wenn er den Prediger oder die Sprüche Salomos oder irgendein anderes Buch des Kanons ablehnte; wenn man nicht etwa darüber streiten wolle, was des heiligen Geistes würdig sei und was nicht. Damit nun nicht jemand irgendeinen anderen Verdacht aufkommen lasse über den Grund, weshalb Sebastian von uns scheidet, so wollen wir das hiermit für einen jeden bezeugt haben. Auf sein Lehramt an der Schule hat er freiwillig verzichtet. Er hat sich darin stets so gehalten, dass wir ihn des heiligen Dienstes am Wort würdig erachtet hätten. Wenn er trotzdem nicht aufgenommen wurde, so lag die Schuld nicht an irgendeinem Makel in seinem Lebenswandel, noch in einer falschen Ansicht über einen Hauptpunkt unseres Glaubens, sondern allein in dem von uns dargelegten Grund.

Die Pfarrer der Kirche zu Genf,

in aller Namen und Auftrag zeichne ich

Johannes Calvin.

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