Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Vierzehnte Predigt. Jesu Stellung zum Gesetz.

Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Vierzehnte Predigt. Jesu Stellung zum Gesetz.

Text: Matth. V., V. 17. 18.
Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht kommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleineste Buchstabe, noch ein Titel vom Gesetze, bis daß es Alles geschehe.

Wollen wir Jesu rechte Jünger werden und bleiben und Rechenschaft ablegen von dem Grunde der Hoffnung, die in uns ist: so müssen wir vor Allem Jesu Lehre selbst kennen lernen, ihren Inhalt, ihren Vortrag, ihren Geist, ihren Zweck, ihre Wirkung. Es kommt dabei auf eine dreifache Rücksicht an, auf die Stellung des Herrn zu Seiner Vergangenheit, zu Seiner Gegenwart und Zukunft, oder mit andern Worten: auf die Stellung Jesu zu dem alttestamentlichen Gesetz, zu den herrschenden Sekten Seiner Zeit und zu dem Werke der Erlösung, das Er für die Menschheit begründen wollte. Damit ist uns ein reicher Stoff für unsere nächsten Betrachtungen vorgezeichnet. Jesu Stellung zum Gesetz bespricht Er selbst im ersten Theil der Bergpredigt, aus der unser Text entnommen ist. Das Gesetz war aber ein dreifaches: ein sittliches, ein bürgerliches, und ein kirchliches Gesetz. Von allen diesen drei Gesetzen behauptet Er nun, Er sei nicht gekommen, sie aufzulösen, sondern sie zu erfüllen. In welchem Sinne Er das sagen konnte, müssen wir nun näher erwägen. Der Gegenstand ist wichtig; denn was von Christo gilt, gilt auch von uns; Seine Stellung zum Gesetz ist zugleich unsere Stellung, zum Gesetz bis auf die gegenwärtige Stunde.

I.

Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sagt der Herr, so wie es eure Schriftgelehrten und Pharisäer thun, ich bin nicht gekommen, aufzulösen, dem Gesetz seine verpflichtende Kraft zu nehmen, mich oder euch von den Forderungen desselben zu entbinden, sondern zu erfüllen, und zwar sowohl selbst durch Lehre und That, als auch durch Verständniß, Lust und Kraft zu seiner Erfüllung zu gewähren. Denn ich sage euch: wahrlich, bis daß Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Titel vom Gesetze, bis daß es Alles geschehe. Das Gesetz ist ein ewiges, unvergängliches; darum bindet es auch ewig. Es ist die Offenbarung alles dessen, was Gott nach Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit vom Menschen fordern muß; dies kann aber so wenig zurückgenommen oder aufgehoben werden, als Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit selbst. Es ist gegeben mit der ausdrücklichen Androhung: „Verflucht ist, wer nicht hält alle Worte des Gesetzes, daß er danach thue!“ und mit der bestimmten Ermahnung: „Laß das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, auf daß du haltest und thuest allerdinge nach dem, was darin geschrieben steht.“ (5 Mose 27,26. Josua 1,8.) Wahrlich, unser Volk würde nicht so tief entartet und gesunken sein, die Zuchthäuser und Gefängnisse wären leerer, die Verbrechen, Diebstähle, Meineide, Ehebrüche, Fleischessünden, Empörungen und Auflehnungen gegen die von Gott gegebene Obrigkeit seltener, das Glück in den Häusern und Herzen größer und die Zufriedenheit mit Gottes Wegen allgemeiner, wenn mehr Achtung vor dem Gesetze vorhanden wäre, sowohl bei den unteren, als bei den höheren Ständen, denn hier hat der Krebsschaden zuerst durch Nichtachtung der zehn Gebote, durch Entheiligung des Sonntags, durch Unglauben und Sittenlosigkeit begonnen; wenn man das göttliche Gesetz nicht als ein vergangenes und untergegangenes, als ein aufgelöstes und aufgehobenes, als ein nur für das Alte Testament und für die große rohe Masse zur Zügelung ihrer Leidenschaften gegebenes zu betrachten sich gewöhnt, wenn man die Freiheit des Christenthums nicht gemißdeutet und gemißbraucht hätte als eine Freiheit nicht nur vom Fluche und Zwange, sondern auch vom Gehorsam des Gesetzes. Aber klar und fest steht Christi Wort, daß Er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen; und Er hat Wort gehalten und hat erfüllt und erfüllt fortwährend in den Seinigen das Gesetz und die Propheten.

Zunächst das sittliche Gesetz, oder die zehn Gebote, die uns Allen von Kindesbeinen an bekannt sind. Er hat sie erfüllt durch Wort und That, durch Auslegung und Beobachtung. Was ist die Bergpredigt, namentlich in ihrer ersten Hälfte, anders, als eine Auslegung des Inhalts und Sinnes des Gesetzes in seiner ganzen Tiefe und Fülle? Was ist der Wandel Christi auf Erden anders, als eine fortwährende eigene Beobachtung der Gebote, die Gott den Menschen gegeben hat? Lauter Erfüllung, wohin wir sehen und hören! Und welch eine Erfüllung! Schon jene Auslegung und Deutung des Gesetzes, wie tief und großartig, ganz des Lehrers würdig, der von Gott gekommen war! Wenn Er spricht: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten, wer aber tödtet, der soll des Gerichts schuldig sein; - ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig. Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen! - ich aber sage euch: wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid thun und sollst Gott deinen Eid halten; - ich aber sage euch, daß ihr allerdings nicht schwören sollt, eure Rede sei Ja, ja, Nein, nein, was darüber ist, das ist vom Uebel;“ wenn Er nicht bloß Heiligung der Worte und Thaten, sondern auch Heiligung der Begierden und Lüste, der Gesinnungen und Absichten fordert, wenn Er gar keinen Unterschied zwischen verborgener Lust und offenbarer That gestattet, und Verklärung des ganzen Menschen nach innen und außen nach Gottes Bilde bei Seinen Jüngern anstrebt; wenn Er das Streben nach dem Wohlgefallen des himmlischen Vaters als die höchste, ja einzige Triebfeder unserer Handlungen aufstellt; wenn Er die Bergpredigt mit dem Ausspruch schließt: „Wer diese meine Rede hört und thut sie, den vergleiche ich einem klugen Manne, der sein Haus auf einem Felsen baute,“ - so leuchtet ein, daß die Rede auf dem Berge alle jene Vorschriften des alttestamentlichen Gesetzes, welche das christliche Leben begründen, auf vollendete Weise enthalte, und daß diejenigen sehr schlecht fahren, welche bloß vom Neuen und nichts vom Alten Testamente wissen wollen; denn der Herr fordert im Neuen Testament viel mehr, als im alten, Er ist mit keiner äußern Gerechtigkeit zufrieden, Er verlangt Heiligung der innersten Lüste und Triebe, Regungen und Wallungen, Er verlangt ein Herz rein wie Gold, und klar wie die Sonne, von keiner andern Lust erfüllt, als von der Lust an Gottes Geboten, von lauter göttlichen Trieben bewegt, von lauter himmlischen Begierden in Flammen gesetzt. Und wenn schon das Alte Testament Zorn anrichtete und zur Erkenntniß der Sünde führte, so beugt das neutestamentliche Gesetz erst vollends in den Staub, spricht uns alles und jedes Verdienst ab, erklärt uns für lauter verlorene und verdammte Sünder, die jedes Ruhmes vor Gott mangeln und durch ihre Werke nicht gerecht werden können, und weckt in uns das mächtige, unauslöschliche Bedürfniß nach einem Heiland und Erlöser.

Jesus erfüllte und vollendete aber nicht nur das sittliche Gesetz durch Seine Lehre, Er erfüllte es noch mehr durch Sein heiliges Leben. Er war gleichsam das verkörperte Gesetz, das erhabenste Ideal aller Vollkommenheit, das Urbild, von welchem alle Heiligen und Gerechten nur matte Abbilder und Copien waren. Er konnte sagen: „Deinen Willen, o Gott, thue ich gern, und Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen; ich muß wirken die Werke Dessen, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist, ehe denn die Nacht kommt, da Niemand wirken kann.“ Er konnte Seine Feinde fragen: „Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“ denn Er hat nie eine Sünde gethan, und ist kein Betrug in Seinem Munde erfunden worden. Wollen wir lernen, wie wir Sanftmuth und Demuth, Geduld und Gottvertrauen, Selbstverläugnung und Weltentsagung, Nächstenliebe und Feindesliebe, Wahrhaftigkeit und Treue im Kleinen, ja, Treue bis in den Tod zu üben haben; wollen wir wissen, was vollkommene Heiligkeit in Gedanken und Neigungen, Worten und Werken, im Thun und Leiden, im Verhältniß zu Gott und den Menschen ist: an Seinem Beispiel wird uns das Alles leuchtend und handgreiflich dargestellt. Er ist des Gesetzes Erfüllung, und wir haben für unsere Sünde nun um so weniger Entschuldigung, da wir auf doppelte Weise, durch Wort und Leben, wissen, was Gott der Herr von uns fordert, und uns nicht nur die Notwendigkeit der Beobachtung des göttlichen Willens im Gesetz, sondern auch die Möglichkeit und Wirklichkeit Seiner Beobachtung im Wandel des Sohnes Gottes entgegentritt. So konnte Er demnach von sich sagen, wie kein Anderer vor Ihm und nach Ihm: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ - Wenn Er darauf aber hinzusetzt: „Denn ich sage euch, wahrlich, bis daß Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Titel vom Gesetz, bis daß es Alles geschehe“, so sagt Er damit aus, daß Er das göttliche Gesetz auch in uns erfüllen will. Und thut Er es nicht fortwährend in Seinen wahren Jüngern? Ist Er nicht Beides, Christus für uns und Christus in uns? Christus für uns, der Gott die Gerechtigkeit und den thätigen Gehorsam geleistet hat, welchen wir schuldig geblieben waren, und diesen stellvertretenden Gehorsam für uns ewig geltend macht? und Christus in uns, der Gottes Gesetz in unser Herz schreibt, uns der göttlichen Natur theilhaftig und dadurch fähig und willig macht, die Gebote Gottes nun auch unsrerseits mit Freuden zu üben, so daß wir nicht mehr uns selbst leben, sondern Dem, der für uns gestorben und auferstanden ist, so daß Er in uns lebt und wir in Ihm, daß zwischen einem bekehrten und unbekehrten Menschen ein himmelweiter Unterschied ist, nicht bloß ein Unterschied des Verhältnisses, in dem Gott zu den Menschen, sondern auch des Verhältnisses, in dem der Mensch zu Gott steht. Nun ist Christus der Weinstock, und die Gläubigen sind Seine Reben, und ihre Geduld, Demuth, Treue, Liebe sind die Trauben, zu denen Er den Saft gibt. Nun ist Er das Haupt und die Gläubigen sind die Glieder, und alle ihre Leistungen und Bewegungen die Offenbarungen des belebenden Geistes, der von Ihm über sie ausströmt. Das steinerne Gesetz Gottes ist in ihnen fleischern geworden. Jedem: „Du sollst!“ der zehn Gebote tritt ein: „Ich will!“ freudig entgegen. Die Sünde, die von Gott trennt und Christum getödtet hat, ist ihr Erzfeind, und von ihr los zu werden, von allen Sünden los zu werden und dem Heilande mit jedem Athemzuge bis zum letzten zu dienen, ist ihr Herzenswunsch, ihr täglich Gebet, ihr Streben Tag und Nacht, ihre letzte und höchste Belohnung. Alle Thränen, die sie über ihre Sünden und Schwachheiten vergießen, alle Seufzer, die über ihre Entfernung von Gott zum Himmel emporsteigen, alle Klagen über ihr tiefes, bleibendes Verderben einerseits, und andrerseits alle Erweisungen der Liebe und Geduld, der Sanftmuth und Demuth und Selbstverläugnung, alle Früchte des Geistes, die in ihnen zur Reife kommen, alle heiligen Worte und Thaten, durch die sie den Namen des Herrn verherrlichen, alle Tugenden der göttlichen Natur, die in ihnen Kraft gewinnen, sind die Zeichen des göttlichen Lebens, das Christus in ihnen entzündet hat. Freilich gibt's auch im Christenleben keine vollendete Heiligung hienieden, sie bleiben Sünder ihr Leben lang, sie müssen bis zum letzten Athemzuge bekennen: „Wir fehlen Alle mannichfaltig!“ sie haben alle Tage Gott um Vergebung und um neue Kraft zu bitten, alle Tage zu wachen und zu beten, wenn sie nicht in Versuchung fallen und untergehen wollen; ja, sie müssen auf ihrem Sterbebette noch seufzen: „Und hätt' ich durch des Herren Kraft noch so viel Gutes auf Erden geschafft, gewönne den Sieg dem Bösen ab, und sündigte nicht bis in das Grab, so will ich, wenn ich zu Ihm komm', doch nicht denken an gut und fromm, nur dies: Hier kommt ein Sünder her, der gern um's Lösegeld selig war'“; - dennoch wissen sie, daß sie in Christi Gemeinschaft mehr haben, als die Welt, und möchten um keinen Preis tauschen mit dem unbekehrten Menschen, denn Christus ist ihr Vorbild, ihre Gerechtigkeit, ihr Leben, ihr Alles in Allem; und sie sprechen es dem Apostel Johannes nach: „Wir wissen, daß wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht; sondern wer von Gott geboren ist, der bewahret sich und der Arge wird ihn nicht antasten.“ (l. Joh. 5, 18.)

II.

Somit ist klar, daß Christus das sittliche Gesetz nicht aufgelöset, sondern erfüllt hat. Wie verhält es sich nun aber mit den beiden andern Gesetzen des Alten Testaments, dem bürgerlichen oder Polizeigesetz, und dem kirchlichen oder Ceremonialgesetz? Hat Er die auch erfüllt? Und wie und in welchem Sinne können wir sagen, daß Er sie erfüllt habe?

Das bürgerliche Gesetz Mosis enthält diejenigen Verordnungen, welche sich auf das Verhältniß der Israeliten zu der Obrigkeit, zu den andern Völkern, zu den Armen, Witwen und Waisen, zu Krieg und Frieden beziehen, und darunter theils solche, die einen allgemeinen bleibenden Charakter haben, theils solche, die ausschließlich das Land Canaan in seiner eigenthümlichen Lage und die zwölf Stämme und die Bedürfnisse und Umstände des damaligen Volks und der damaligen Zeit betreffen. Letztere natürlich waren zum Theil schon zu Christi Zeit bei der ganz veränderten Lage der Juden und ihres Landes aufgehoben, und erreichten ihren Schlußpunkt mit der Zerstörung Jerusalems und der Zerstreuung der Juden über die ganze Erde. Erstere hingegen, die sich gründen auf die allgemeinen Gründe der Gerechtigkeit, der Billigkeit, des Glücks und des Wohlstandes, behalten auch noch heute ihre Gültigkeit und werden sie behalten bis zur Vollendung dieser sichtbaren Weltordnung. Diese Gesetze hat Christus ebenfalls erfüllt. Jesus ist kein Freiheitsapostel gewesen, wie sie zu unseren Tagen aufgetreten sind, die dem Volke die Rechte der Obrigkeit beilegen und von seinen Pflichten des Gehorsams und der Treue es freisprechen; Jesus ist kein Demokrat, kein Republikaner, kein Liberaler, kein Radikaler, kein Kommunist und Socialist gewesen, wie oft der Geist dieser Zeit Seine Aussprüche auch in dem Sinne schmählich und unwürdig verdreht hat; Er hat statt des alten Gottesstaats in Israel keinen neuern Staat der natürlichen Menschenrechte errichten wollen; Er hat den Pharisäern wie den Herodianern, den Demokraten wie den Reactionairen in's Gesicht gesagt, gleichviel, ob's ihnen recht war oder nicht, als die einzige göttliche und darum ewig gültige Wahrheit: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist!“ worin Beides zugleich liegt: einmal, daß, wer wahrhaft Gott gibt, was Gottes ist, auch allezeit dem Kaiser geben werde, was des Kaisers ist, d. h., daß ein wahrhaft frommer Mensch auch allezeit der Obrigkeit Gehorsam und Achtung beweisen werde, und nichts so sehr die Staaten befestigt und beglückt, als die Gottesfurcht; und sodann: daß, wer dem Kaiser geben will, was des Kaisers ist, es auf die Dauer nur kann, wenn er auch Gott das Seine gibt, und wahrer Patriotismus und ächte Vaterlandsliebe zuletzt zur Gottesliebe und zum Suchen des ewigen Vaterlandes führt und nur in ihr Bestand und Weihe findet. Jesus war immer und allewege ein treuer Bürger und Unterthan; Er hatte Sein Vaterland und Volk lieb, Er suchte Jerusalems Bestes, Er weinte über die gottlose Stadt, als sie nicht bedachte, was zu ihrem Frieden dient, Er wollte zunächst nur gesandt sein zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel; dennoch entrichtete Er der römischen Obrigkeit den vorgeschriebenen Schoß; überging mit Stillschweigen die gräulichen Laster, welche am damaligen Hofe zu Jerusalem in Schwange gingen; ließ sich in keine Untersuchung ein, ob Herodes des Königsnamens würdig sei; brachte nicht die großen, weltbekannten Fehler des Kaisers Tiberius zur Sprache; widersprach und widerstrebte niemals den Verfügungen der Landesbehörde, - hätte Er das einmal gethan, wie würden Seine blutdürstigen Feinde das gegen Ihn ausgebeutet haben! - Er sprach: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist!“ Wohl warf Er in Gethsemane die ausgesandte Mannschaft zu Boden durch Sein Machtwort: „Ich bin's!“ aber nur, um ihr Gewissen zu schärfen und ihnen zu zeigen, daß Er Macht habe, Sein Leben zu lassen, und Macht habe, es wiederzunehmen. Gleich darauf hieß Er sie aufstehen, ließ sich von ihnen greifen und binden, vor Hannas, Kaiphas, Herodes und Pilatus führen, ließ sich bespeien, geißeln und verspotten, erklärte dem Landpfleger: „Du hättest keine Gewalt über mich, wäre sie Dir nicht von oben herab gegeben!“ ließ sich verhöhnen und mißhandeln und zuletzt zu Tode martern am Kreuz. Er war der vollkommenste Mensch, der vollkommenste Genosse Seines Volks, der vollkommenste Sohn Seines Vaterlandes, der treueste Beobachter des jüdischen

Und wollen wir Christen sein, wir sind es nur, wenn wir in Seine Fußtapfen treten. Keiner rühme sich seiner Frömmigkeit und Gottseligkeit, der nicht in der Obrigkeit die Ordnung Gottes ehrt und sie befolgt, um des Herrn willen. Keiner rühme sich aber auch seiner Vaterlandsliebe, seines Preußenthums, seines Patriotismus, der sie außer Verbindung setzt mit dem Worte Gottes und der Kirche. Wer Gott und die Kirche nicht wahrhaft liebt, liebt auch sein Volk und Vaterland nicht, wie viel er auch damit prahle und ruhmrede; denn er liebt es nicht um ewiger Gründe, um Gottes willen, sondern um sein selbst willen, d. h. wandelbar und vergänglich. Unzertrennlich zusammen gehören die beiden Gebote: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist!

III.

Noch ein Gesetz war im Gesetz Mosis enthalten: das kirchliche oder Ceremonialgesetz. Auch von diesem konnte Jesus sagen, daß Er nicht gekommen sei, es aufzulösen, sondern zu erfüllen; denn Er selbst hat es erfüllt durch Sein Wort und Seine That; durch Sein Wort, indem Er das tiefste und vollste Verständniß desselben aufschloß und vermittelte, besonders in den Tagen nach Seiner Auferstehung (Luc. 24,27. Joh. 16,17.); durch Seine That, indem Er, was das Ceremonialgesetz abbildete durch seine Opfer, Priester, Feste, Waschungen, oder weissagte durch seine prophetischen Verheißungen vom fernen Zukünftigen, in Seiner Person durch die That und Wirklichkeit darstellte. Was im Tempel geschah, war nur Schatten und Vorbild des Zukünftigen; in Christo erschien das Wesen der Güter, Die Opfer des alten Bundes hatte Gott niemals um ihrer selbst willen gefordert, als ob Ihm an dem Blut der Opferthiere etwas gelegen gewesen wäre, sondern theils um des zerknirschten und zerschlagenen Herzens willen, das dadurch seine Sündhaftigkeit und Todeswürdigkeit bezeugte, theils um des verheißenen vollgültigen Opfers willen, das der Sohn Gottes dereinst in Seiner Person darbringen sollte für die Sünde der Welt. Als Er es daher dargebracht und durch Seinen Tod die Versöhnung mit Gott gestiftet und mit Einem Opfer in Ewigkeit vollendet hatte, die geheiligt waren, und für die Sünderwelt ein allgenugsames Verdienst und mit demselben Vergebung, Leben und Seligkeit erworben hatte, als an die Stelle der Verheißung die verheißene Sache selbst getreten war, - da hieß es: „Christus ist des Gesetzes Ende, d. h. Vollendung und Ziel, wer an Ihn glaubt, der ist gerecht; so halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben; das Gesetz ist durch Mosen gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden; ihr habt Christum verloren, die ihr noch durch das Gesetz gerecht werden wollet, und seid von der Gnade gefallen.“ Das Gesetz war aufgehoben dadurch, daß es sich in Christo erfüllte. Das bloß Vorbildliche, mithin Vergängliche, oder der Buchstabe des Gesetzes, war nun klar unterschieden und geschieden von dem Bleibenden in demselben oder von dem Geiste des Gesetzes. Die trennende Scheidewand zwischen Juden und Heiden war gefallen, und das Gesetz der Liebe gegen alle Menschen hatte eine neue, freiere, seligere Gestalt angenommen. Christus war, nachdem Er vollendet worden, Allen, die Ihm gehorsam worden, eine Ursach der ewigen Seligkeit geworden. Wie der gegebene Riß zu einem Gebände seine Bedeutung verloren hat, sobald das letztere vollendet ist, so hatte das Ceremonialgesetz seine vorbildliche, zeitliche Bedeutung verloren durch den Tod und die Auferstehung des Sohnes Gottes. Christus hatte es erfüllt. Christus halte von seinem Fluch uns erlöset, indem Er ward ein Fluch für uns. Christus war unser ewiger und alleiniger Hoherpriester, unser ewiges und vollgültiges Opfer, unser Bürge und Fürsprecher, unser einiger Mittler zwischen Gott und den Menschen, unsere Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, unser Weg, unsere Wahrheit, unsere Auferstehung und unser Leben geworden. So ist das Ceremonialgesetz in Ihm aufgehoben und erfüllt zugleich; aufgehoben der Schatten, erfüllt das Wesen; aufgehoben das Vorbildliche, erfüllt das Bleibende; aufgehoben das Menschliche, erfüllt das Göttliche; aufgehoben die äußere, sichtbare Schale, erfüllt der innere, geistige, unsichtbare Kern.

Und in diesem Sinne soll es auch noch immer an uns und durch uns und in uns erfüllt werden, daß wir nicht mehr uns selbst leben, sondern Dem, der für uns gestorben und auferstanden ist; daß wir Christi Opfer, einmal für uns dargebracht, als ewig gültig durch den Glauben annehmen und uns aneignen, und als den einzigen Grund unserer Seligkeit Tag für Tag immer von neuem ergreifen; daß wir aus Liebe und Dankbarkeit je länger je mehr werden das auserwählte Geschlecht, das königliche Priesterthum, das Volk des Eigenthums, das heilige Volk, daß wir verkündigen die Tugenden Dessen, der uns berufen hat von der Finsterniß zu Seinem wunderbaren Licht, und unsere Leiber Gott begeben zu einem Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, und es dem Apostel nachsprechen: „Ich bin durch's Gesetz, d. h. durch Christum, dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe.“ (Gal. 2, 19.) Das ist um so mehr unsere Pflicht und wird um so mehr uns auch Bedürfniß sein, da Christus nicht nur das Gesetz erfüllt hat, sondern auch die Propheten, nicht nur die Forderungen der göttlichen Gebote, sondern auch die göttlichen Verheißungen an uns erfüllen will, die Er uns selbst gegeben hat, und wir denselben unbedingt trauen können. Wer will uns nun noch schaden? Was soll uns nun noch bange machen? Heil uns, ja, Heil Allen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische leben, sondern nach dem Geiste. Wer will uns nun noch verdammen? Gott ist hier, der uns gerecht spricht. Wer will beschuldigen? Christus ist hier, der für uns gestorben, ja vielmehr, der auch auferwecket ist und sitzet zur Rechten Gottes und vertritt uns. So wir Gott versöhnet sind durch den Tod Seines Sohnes, da wir noch Feinde waren, vielmehr werden wir selig werden durch Sein Leben, nachdem wir nun versöhnet sind. Amen.

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