Vinet, Alexandre - Die drei Arten des Erwachens

Vinet, Alexandre - Die drei Arten des Erwachens

Ephes. V, 14.
Wache auf, der du schläfest, und stehe auf von den Todten, so wird dich Christus erleuchten.

Ist es euch nicht, als höret ihr jenen durchdringenden Noth- und Rettungsruf, welchen an den im Schnee des St. Bernhard eingeschlafenen Wanderer einer jener ehrwürdigen Mönche richtet, die die christliche Liebe wie Schildwachen auf jene wüsten Berggipfel hinstellte? Seht ihr nicht, ausgestreckt auf einem weißen Leichentuche, und wie in die Bande eines unüberwindlichen Schlafes gefesselt, jenen Unglücklichen, der lange dem Einfluß einer erstarrenden Kälte widerstanden hat und der, übermannt von einem tödtlichen Schlummer, sich auf dieses eisige Bett sinken ließ - auf dieses Bett, oder vielmehr in dieses Grab? Nun denn! dieser Mensch, der so tief eingeschlafen ist, daß man kaum weiß, ob er noch lebt, dieser Mensch ist, den Worten des heil. Paulus gemäß, das Bild aller Menschen. Einem jeden von ihnen, ohne Unterschied, ruft eine andere Schildwache, ein anderer Bewohner eines andern St. Bernhard der heil. Paulus in meinem Texte zu: „Wache auf, der du schläfst!“ denn alle Menschen sind eingeschlafen. Und was für eines Schlafes? Ihr könnt es aus den Worten selbst des Apostels abnehmen; denn, nachdem er gesagt hat: „Wache auf, der du schläfst“, fügt er hinzu: „Und stehe auf von den Todten“. Dieser Schlaf ist also tief, wie der des Todes; dieser Schlaf ist ein Tod.

Und doch, meine Brüder, wenn man die Augen auf jenes zahllose Gewimmel der menschlichen Gesellschaft wirft, besonders in einem jener großen Sammelpunkte, wo jedes Dasein durch seine Bewegung vervielfacht scheint; wenn man jene tausende und tausende keuchender Wesen in den Bahnen des Reichthums, der Ehre und des Vergnügens sich drücken, sich stoßen, sich auf die Füße treten sieht; wenn die Nacht, die Krankheit oder die Sattheit kaum vermögen, dieses stürmische Rennen aufzuhalten oder zu mäßigen: wie sollte man erwarten, den Menschen jenen Wanderern vergleichen zu sehen, welche mitten im Schnee und Frost ein unwiderstehlicher Schlaf überfällt, und scheint es nicht, als sollte man dieses Bild für jene unempfindlichen Wesen aufbehalten, welche weder das Vergnügen, noch selbst die Gefahr in Bewegung zu setzen vermag, und deren ganzes Leben, wenn der Stachel des Bedürfnisses sich nicht fühlbar machte, nur eine lange und schwere Schlafsucht wäre?.

Gleichwohl, meine Brüder, ruft die Wahrheit in meinem Texte nicht bloß den letztern, sondern allen Menschen, und dem unruhigsten wie dem ruhigsten, zu: „Wache auf, der du schläfst!“ Nur gleicht der Schlaf, aus dem es sich uns zu ziehen handelt, nicht jedem Schlafe; der Mensch ist nicht bloß ein eingeschlafenes Wesen, er ist ein Schlafwandler, das heißt, ein Wesen, das aufrecht und mit offenen Augen schläft, das schlafend geht, das handelnd schläft. Der Schein kann nur einen ersten Blick täuschen; man hat bald erkannt, daß diese offenen Augen, welche sehen, was nicht ist, nicht sehen, was ist und was wir sehen; daß dieses Wesen, welches nahe bei uns scheint, sehr weit von uns ist; daß es gewissermaßen abwesend ist; daß seine Handlungen wie seine Schritte nicht von der Wirklichkeit, sondern von bloßem Scheine bestimmt werden; mit Einem Worte, daß dieser Mensch das Ansehen hat zu handeln, aber daß er nicht handelt; daß er nicht wacht, sondern träumt.

Darin unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Schlafe der geistige Schlaf, dem jeder Mensch hingegeben ist und in welchen Paulus ihn versunken denkt, wenn er ihm in meinem Texte zuruft: „Wache auf, der du schläfst!“ Aber im Uebrigen ist es ein Schlaf, und das Leben mit seinen Aufregungen jeder Art, das ganze Leben ist nur ein Traum.

Worin besteht in der That das Eigenthümliche des Traumes? Es besteht darin, Schatten für Wirklichkeiten und Wirklichkeiten für Schatten zu halten. Der schlafende Mensch lebt in einer eingebildeten Welt, in einer Welt von Truggestalten, denen er ein Wesen gibt, indeß er eingeschlafen ist, aber die das Erwachen augenblicklich zerstreut. Demnach, meine Brüder, könnte es noch irgend einen andern Schlaf geben, als denjenigen, welcher unsere Sinne lähmt und unsere Freiheit stillstellt. Man schläft, wenn man des Vermögens beraubt ist, die Schatten von den Wirklichkeiten zu unterscheiden, und wenn man die einen mit den andern verwechselt; man schläft, wenn man mit Rücksicht auf einen Zweck handelt, der nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann; man schläft, wenn man dem, was endlich ist, eine unendliche Liebe widmet; man schläft, wenn man die Kräfte einer unsterblichen Seele an dasjenige kettet, was sterblich ist; man schläft, wenn man das Geschöpf statt des Schöpfers, gelobet in Ewigkeit, anbetet; man schläft, wenn man ohne Gott lebt und, mit nothwendiger Folgerichtigkeit, sich selber zu seinem eigenen Gotte macht. Auf diesem Fuße, meine Brüder wie Viele schlafen ganz wachend!

Wollt ihr etwa sagen, ich gehe zu weit, die Gegenstände, an die der Mensch sich hänge, seien wirklich, wenn schon beschränkt, und indem er sein Herz an sie hingebe, täusche er sich, träume aber nicht. O! saget nur, er täusche sich, und ich bin schon zufrieden; saget, diese Täuschung sei unermeßlich, saget, diese Täuschung sei eine Thorheit, ich verlange nichts weiter; aber wenn ihr nicht begreifet, daß in diesem Zustande der Mensch schläft, so bin ich auch nicht sicher, ob ihr begreifet, daß in diesem Zustande der Mensch sich täuscht. Und darum bestehe ich darauf, und glaube allerdings auf einem Begriffe und nicht auf einem bloßen Worte zu bestehen. Ja, meine Brüder, der Mensch, dessen Wünsche diese Welt gefangen hält und begrenzt, ist ein Mensch, welcher schläft. Diese Welt ist in der That nur ein Schatten - der Schatten des allmächtigen Gottes. Wie der Schatten die Gegenwart des Körpers anzeigt, und doch nur ein Schatten ist, so offenbart euch diese Welt die Gegenwart Gottes als der einzigen Wirklichkeit; sie verweist euere Gedanken auf Gott; das ist alles, was sie thun kann; und wenn sie es nicht thut, so hat sie nichts gethan. Von da an ist diese Welt ohne Sinn; sie ist etwas ganz und gar Ueberflüssiges; euer eigenes Das sein selbst ist ein Räthsel, und euere wichtigsten Handlungen sind nur Luftstreiche. Es gibt nur zwei wirkliche Dinge: Gott an sich selbst und der Gedanke Gottes im Menschen. In dem Maße, als dieser Gedanke sich entfernt, entfernt sich auch die Wirklichkeit. Der Mensch ohne Gott ist kein Mensch mehr; ja er ist gar nichts mehr, es sei denn, er mache sich selbst zum Gott. Farben und Formen, Raum und Zeit, unser Lieben und unser Denken, unsere Leiden und unsere Freuden - das Alles sind Hirngespinste, Trugbilder, leere Worte. Das beschäftigtste Leben ist nur ein verlängertes Schlafwandeln. Die Menschen, die man praktische nennt, sind Träumer, und diejenigen, welche sie selber wahrscheinlich Träumer nennen, sind die wahrhaft praktischen; denn nur das ist praktisch, was von Gott kommt und was zu Gott zurückkehrt. Das glänzendste und geräuschvollste Leben macht keine Ausnahme: das eines Napoleon, von der weltlichen Seite genommen, war nur ein riesenmäßiger Traum, und die Begeisterung seiner Bewunderer, wie das Erstaunen seiner Gegner, ist nur der Traum eines Traumes.

Was der Apostel einen Schlaf nennt, das nennt er auch einen Tod; denn er ruft diesem eingeschlafenen Wesen zu: „Stehe auf von den Todten“. Denn mancher Mensch kann mit dem Namen, daß er lebe, wirklich todt sein. Die Welt gibt es zu. Jeder gibt nach seiner Ansicht dem Leben einen Zweck, und in einem Leben, in welchem dieser Zweck verfehlt ist, oder welches ihn nicht verfolgt, anerkennt er das Leben nicht. So leben, sagt man, heißt nicht leben. In der Trägheit leben, hat ein Dichter gesagt, heißt schon todt sein. Ohne Gott leben, sagt das Evangelium, heißt todt sein, weil das Leben ohne Gott keinen Sinn, keine Bedeutung, keinen Nutzen hat. Das Wort todt hat ohne Zweifel in dieser Anwendung einen tiefern, einen schrecklichern Sinn; aber wir halten ihn absichtlich ferne. Er ist wie verschleiert in der Aufforderung des heil. Paulus, und wir werden den Schleier nicht lüften. Das Wenigste, was es bedeuten kann, ist die Beraubung jedes Gefühls, jeder Erkenntniß, jeder Kraft. Ist das, oder ist das nicht der Zustand dessen, der Gott weder liebt, noch erkennt, noch sucht? Und wenn es auf der Erde Menschen in diesem Zustande gibt, kann ihr Schlaf nicht dem Tode verglichen werden?

Wir hoffen von euch verstanden zu sein. Es handelt sich hier nicht darum, die Wirklichkeit der Außenwelt in Zweifel zu ziehen. Als sinnliches Wesen lebt der Mensch nicht unter bloßen Formen und Schatten. Er unterscheidet sich unaufhörlich von der Schöpfung und sagt mit voller Gewißheit jetzt: Das bin ich, jetzt: das bin ich nicht. Wenn jemand nöthig hätte, daß man ihm die Wirklichkeit der Außenwelt bewiese, so wären es wenigstens nicht diejenigen, welche leiden. Diese da wissen leider nur zu wohl, daß sie nicht unter bloßen Scheinwesen umherwandeln und daß sie den Schmerz und den Tod nicht für den Schatten des Schmerzes und für die Form des Todes nehmen. Aber wir haben bei dem Menschen nicht dasjenige im Auge, was ihn mit der Materie, sondern dasjenige, was ihn mit Gott in Verbindung setzt, dasjenige, was göttlich an ihm ist, das, was das Evangelium den Geist nennt. Wenn nun aber das von Gott geschiedene Leben noch ein Leben ist in Beziehung auf den sinnlichen Menschen, ist es auch noch eines in Beziehung auf den geistigen Menschen? Rann der Geist wirklich nennen, was nicht Gott ist, oder was sich nicht auf Gott bezieht, was nicht ewig ist, oder was in keiner Beziehung mit der Ewigkeit steht? Für denjenigen Menschen, der seinem Ursprunge und seiner Natur treu ist, hat die Welt eine Wirklichkeit, weil sie einen Zweck, weil sie einen Sinn hat; für den Menschen, der sich von seinem Ursprung geschieden und seiner Natur entsagt hat, ist die Außenwelt, wie viel er auch von ihr halte und wie tief der Eindruck auch sei, den er von ihr empfängt, nur ein täuschendes Blendwerk; er kann genießen, er kann leiden, wie man im Traume leidet und genießt; er kann handeln, aber obschon seine Handlungen Geräusch machen und also den Gegenstand getroffen zu haben scheinen, so sind es doch nur Luftstreiche; er meint zu leben, sowie man auch in den Träumen zu leben meint; er will nicht glauben, daß er träumt, eben weil er träumt und weil man träumend nicht glaubt, daß man träumt; er müßte erwachen, um zu wissen, daß er schlief, und er wüßte nie, daß er geschlafen hat, wenn er nie erwachte.

Und damit dennoch Einer sagen konnte, der Mensch schlafe, muß Einer erwacht sein, und wenn Viele es gesagt haben, so sind Viele erwacht. Suchen wir hier uns recht klar zu machen. Der Schlaf des Menschen ist der Schlaf eines Kranken: dieser Schlaf ist unruhig, er ist gestört; man erwacht, um wieder einzuschlafen; aber in dieser Zwischenzeit, wie kurz sie auch sein mag, ist man sich des Zustandes, der ihm vorausging, bewußt geworden; man hat sich sagen können, daß man schlief. Wenn sehr Viele einen Schlaf schlafen, den nichts unterbricht, so ist das nicht mit Alen der Fall. Zu allen Zeiten und in allen Ländern hat es Menschen gegeben, die zu ihren Nebenmenschen gesagt haben: „Das Leben ist ein Schlaf;“ und um es sagen zu können, mußten sie doch erwacht sein. Ein halbes Erwachen ich gestehe es ein unvollständiges, augenblickliches Erwachen, aber hinlänglich, um die beiden Zustände zu unterscheiden. Derjenige, welcher sagt: Ich schlafe, schläft wenigstens in diesem Augenblicke nicht; gleichwie der Verrückte, welcher in einem lichten Augenblicke ausruft: Ich bin verrückt, in jenem Augenblicke wenigstens nicht verrückt ist. Noch mehr: unsere Träume selbst setzen voraus, daß wir nicht immer geschlafen haben. Wir würden nicht träumen, wenn wir niemals gewacht hätten: ich will sagen, daß die tausend und tausend Hirngespinnste des natürlichen Menschen nichts Anderes sind, als das unvollkommene Bild oder das verworrene Gepräge der Wirklichkeiten, die uns beschäftigen würden, wenn wir wach wären, der wahren Güter, die uns fesselten, ehe die Sünde uns nach und nach in den Schlummer versenkt hatte.

Wir dürfen uns also nicht verwundern, daß Manche sagen konnten: Ich schlafe. Haben sie wohl recht gewußt, was sie sagten? Daran liegt wenig. Wenn sie es recht gewußt hätten, so wären sie nicht wieder eingeschlafen. In welchen Beziehungen hat ihnen das Leben ein Traum geschienen, und wie es Einer von ihnen sagte, „der Traum eines Schattens?“ Ach, eben darum, weil sie Alles fliehen sahen, was sie kaum erreicht, Alles verschwinden, was sie kaum wahrgenommen hatten. Nicht daß es ihnen einfiele, im materiellen Sinne die Wirklichkeit irgend eines Dinges zu läugnen; aber in einem andern Sinne, in dein Sinne, wonach alle Dinge zu ihrer Natur im Verhältnisse stehen, und die Dinge der Welt den Bedürfnissen der Seele entsprechen sollen, in diesem Sinne war nichts wirklich, denn Alles hatte sie getäuscht. War das Leben ohne einen Zweck noch das Leben? War die Schönheit ohne ein Urbild noch die Schönheit? War die Wahrheit ohne einen Mittelpunkt noch die Wahrheit? War die Tugend ohne einen Gott noch die Tugend? War das Glück ohne die Ewigkeit noch das Glück? Nein, nein, Alles war Hirngespinnst, Alles war grausamer Spott; diese so gut, so verhältnismäßig eingerichtete Welt, war nur der Leichnam einer Welt; und mit der verborgenen Macht, welche sie regierte, verhielt es sich, wie mit jenem treulosen Krieger, der sich verpflichtet hatte, seinem Feinde einen wichtigen Gefangenen zurückzugeben, ihn auch wirklich und unverzüglich zurückgab aber todt.

Es gehört dazu, meine Brüder, entweder die ganze Tiefe unsers Schlafes, oder jene Art Erstarrung, welche er uns zurück läßt, sogar nachdem wir schon erwacht sind, wenn wir es dazu bringen sollen, unsern Geist mit dem Gedanken eines Lebens ohne Gott vertraut zu machen, und wenn wir nicht von dem lebhaftesten Gefühle durchdrungen werden sollen, daß ein Leben ohne Gott kein Leben ist. Wenn wir auf dem Standpunkte der Wahrheit wären, so könnten wir uns dasselbe eben so wenig denken, als einen Baum ohne Wurzeln, einen Körper ohne Haupt, eine Brust ohne Luft; und das Wort Traum schiene uns, auf ein solches Leben angewandt, noch zu schwach; und wir würden irgend einen andern Ausdruck suchen, um die gänzliche Leere, das tiefe Nichts, die sichtbare Finsterniß dieses trügerischen Daseins auszudrücken. Diejenigen, welche zu allen Zeiten, das Bewußtsein der Menschheit aussprechend, wiederholt haben, das Leben sei ein Traum, sahen nicht deutlich, oder sahen nicht, daß Gott in demselben fehlte; aber ohne dieser Lücke einen Namen geben zu können, fühlten sie dieselbe, gleichwie der Blindgeborne, ohne zu wissen, daß er blind ist, weiß, daß er eines Vermögens beraubt ist, welches die Andern besitzen; oder gleichwie ein Kranker, ohne den Sitz seines Uebels unterscheiden zu können, sehr gut weiß, daß er krank ist; jene Menschen fühlten sich vom wahren Gut geschieden, ohne zu wissen, daß das wahrhaft Nothwendige und das wahrhafte Gut Gott ist; deswegen, weil sie die Ursache ihrer Armuth nicht kannten, fühlten sie nicht weniger ihre Armuth, und weil sie über ihr Unglück weniger aufgeklärt waren, waren sie nicht weniger unglücklich.

So gehen, ohne das Räthsel ihres Lebens errathen zu haben, so viele Menschen und so viele Geschlechter von dannen. Liegt denn eigentlich, fragen sie sich, etwas Ernstes auf dem Grunde dieser Geschichte, oder ist sie durch und durch nur ein Spiel? Und da dieses Leben so unbegreiflich, so widerspruchsvoll ist, ist es auch sicher, daß sie gelebt haben? Oder sollten sie auch das nur geträumt haben? Sind sie nicht bis an's Ende und bis auf den Grund getäuscht worden? In der Unmöglichkeit, hierauf zu antworten, wird die Seele gereizt und erbittert; dann übergibt sie sich auf's neue dem Strome und läßt sich durch das Schaukeln des Schiffes in den Schlaf wiegen; sie fängt wieder an zu träumen, das heißt zu leben, wie wenn das Leben nur sich selbst zum Zwecke hätte, und wie wenn träumen leben wäre.

Wir haben nicht nöthig, meine Brüder, hinzuzufügen, daß es keinen wesentlichen Unterschied gibt, noch geben kann zwischen Menschen, welche ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt leben, und daß es unmöglich ist zu sagen, wer am meisten eingeschlafen ist, derjenige, welcher mit der meisten Geschicklichkeit die materielle Welt ausbeutet, oder derjenige, welcher am wenigsten Nutzen aus ihr zu ziehen weiß. Höchstens könnte man sagen, welcher von Beiden am meisten oder am besten geträumt habe; aber wenn man die Sache nach der Wahrheit nimmt, so hat weder der Eine noch der Andere gelebt, weil weder der Eine noch der Andere seiner Bestimmung entsprochen hat, und weil am Ende ihres Schlafes wenn sie je erwachen ihre Vergangenheit, die man so verschieden gefunden hat, für sie dieselbe Vergangenheit sein wird.

Wenn sie erwachen, haben wir gesagt - und sie werden nothwendig erwachen. Es gibt sogar für alle jene Träumer drei verschiedene Erwachen, davon Eines wenigsten unausweichlich ist. Diese drei Erwachen sind: das Erwachen des Todes, das Erwachen der Verzweiflung, das Erwachen des Glaubens.

Das Erwachen des Todes. Diese zwei Worte scheinen sich zu widersprechen. Nach der allgemeinen Ansicht oder dem allgemeinen Vorurtheile ist das Leben ein Wachen und der Tod ein Schlaf. Zu allen Zeiten hat man den Schlaf mit dem Tode verglichen; alle Sprachen haben diese Vorstellung bestätigt; die Bibel selbst, so oft sie die Geschichte eines jener Männer des alten Bundes beschließt, sagt uns, er sei mit seinen Vätern entschlafen. Wenn Hiob in seinem Unglück klagt, daß das Leben ihn noch gefesselt hält, so ruft er aus: „Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleibe an! So hätte ich doch nun Ruhe und schliefe;“ und die schmerzliche Darstellung von dem Märtyrertode des Stephanus in der Apostelgeschichte wird mit diesem merkwürdigen Worte geschlossen: „Er entschlief.“ Denn verglichen mit der Unruhe und mit der Aufregung des Schlafes, der ihm vorausgegangen, scheint der Tod wirklich ein Schlaf; denn äußerlich hat er den Anschein des tiefsten Schlafes; und endlich, wenn die Rede ist von dem Gerechten, der mannhaft gekämpft hat in einem sündigen Fleische, so ist der Tod augenscheinlich der Uebergang von der Arbeit zur Ruhe. Es ist, sagt die Schrift, eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes. Und zwischen der Ruhe und dem Schlafe findet eine so nahe Beziehung statt, daß der Uebergang von einem der Bilder zum andern sehr leicht war. Indessen aber ist der Name Schlaf, angewandt auf den Tod, nur in einem bedingten und gleichsam bildlichen Sinne wahr; dieser Name bezeichnet nur einen Schein, er nennt vom Tode nur das, was wir davon sehen und was wirklich einen Schlafe sehr ähnlich ist; aber er geht der Sache nicht auf den Grund, er nennt nicht die Wirklichkeit. In Wirklichkeit ist der Tod ein Erwachen. Wenn diese Vorstellung nicht in die Sprache übergegangen ist, so kommt es daher, daß die Sprache, das bewundernswürdige Gepräge des Menschen, die unwiderlegbare Angeberin aller seiner Geheimnisse, viel mehr unsere Eindrücke als unsere Gedanken, und folglich oft viel mehr den Schein, als die Wirklichkeit wiedergibt. Wenn übrigens die Vorstellung, welche aus dem Leben einen Traum und aus dem Tode ein Erwachen macht, nicht in die Sprache eingedrungen ist, wenn sie keine Wörter geschaffen hat, so ist sie dennoch bis auf einen gewissen Grad gemein geworden; diejenigen Augen, die das Evangelium nicht ganz geöffnet hat, sind es wenigstens halb; es hat gewisse Urtheile und gewisse Redensarten in den allgemeinen Vorstellungskreis gebracht, von denen diejenigen, welche viele anwenden, sich keine genaue Rechenschaft geben; und es ist eben nicht nöthig gewesen, ein Christ zu sein, um mit einem berühmten Schriftsteller zu sagen: „Der Tod ist das Ende dieses unruhigen Traumes, den man das Leben nennt.“ Aber ist dieses Ende des Traumes ein Erwachen, oder ist es etwa, nach einer schrecklichen Erklärung, ein Schlaf ohne Träume? Das o bejammernswerther Zustand des natürlichen Menschen! - ist die Frage, die sich diejenigen immer noch stellen, welche das Evangelium, gegen ihren Willen, die Hälfte der Wahrheit gelehrt hat, indem es sie lehrte, daß das Leben ein Traum sei! Denn das ist eine so wahrhafte als überraschende Thatsache: in einem gewissen Sinne hat die Stimme des Evangeliums die ganze Erde erweckt, wie die Posaune des Erzengels alle Todten erwecken wird; es hat diejenigen sogar aus dem Schlafe gezogen, die es nicht bekehrt hat; es hat gewisse Blendwerke vernichtet; so daß, mit der alten Welt verglichen, die neue Welt eine erwachte ist.

Wie dem auch sei, es wird dem natürlichen Menschen schwer, sich den Tod niemals als ein Erwachen vorzustellen. Wenn er nicht die Ueberzeugung davon hat, so hat er doch die Ahnung. Der Tod ist übrigens nur für diejenigen ein Erwachen, welche schlafen; aber das heißt also, er sei ein Erwachen für sehr Viele, welche bis zu ihrem Tode schlafen. Wie wird ihr Erwachen sein? Ja, wie wird das Erwachen derjenigen sein, die während ihres ganzen irdischen Daseins nur Traumbildern nachgejagt sind; derjenigen, deren Leben darin bestand, Gott zu vergessen; derjenigen, deren Seele, berufen, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem Geiste und dem Fleische zu wählen, und sich immer wieder für das Sichtbare gegen das Unsichtbare und für das Fleisch gegen den Geist entscheidend, sich zuletzt so enge mit dem Fleische verbunden hat, daß sie selbst dadurch Fleisch geworden ist Wie wird dieses Erwachen sein? Meine Brüder, eine menschliche Sprache ist eben so wenig im Stande, es auszudrücken, als ein Menschenherz, den Gedanken daran zu ertragen. Fraget den unvorsichtigen Reisenden, der, allmälig vom Schlafe übermannt, seine Pferde sich selbst überlassen hat, und der ganz zerschmettert in der Tiefe eines Abgrundes erwacht ist - fraget ihn, wie sein Erwachen gewesen sei. Oder fraget den Hausvater, der, in der Nacht plötzlich die Augen aufschlagend, seine Kinder und sich selbst von allen Seiten von Flammen umgeben steht, fraget ihn, wie sein Erwachen gewesen sei. In ihrer Antwort werdet ihr ein Bild, aber ein allzu schwaches Bild haben von dem Erwachen jenes unglücklichen Dieners, den sein Herr wird schlafend gefunden haben (Luc. 12,36 ff.) Ach! man möchte abermals schlafen, träumen, nicht wissen, und man kann es nicht: der Tod hat den Schlaf, der Tod hat die Träume getödtet.

Dieses Erwachen ist ein Erwachen der Verzweiflung; aber die Verzweiflung, und folglich das Erwachen, kann auch dem Tode vorhergehen. Man kann in der Nacht, wie im Lichte erwachen. Für denjenigen, welcher Gott nicht kennt, ist das Leben allerdings eine Nacht, aber es kann eine schlaflose Nacht sein. Wenn ich diese beiden Vorstellungen, der Verzweiflung und des Erwachens, mit einander verbinde, so geschieht es, weil jedes Erwachen, welches nicht das des Glaubens ist, nothwendig das der Verzweiflung sein muß. Ich nehme übrigens dieses letztere Wort in seinem einfachsten Sinne, und ohne etwas zu der ursprünglichen Bedeutung desselben hinzuzuthun. Man verzweifelt, wenn man aufgehört hat zu hoffen. Was liegt übrigens in diesem Falle daran, ob uns Alles auf einmal gemangelt habe, oder ob, da das Eine uns mangelt, alles Uebrige uns gleichgültig geworden sei. Und endlich ist ja die Verzweiflung nicht immer eine rasende; bisweilen ist sie eine ruhige, sie urtheilt, sie ist der Berechnung fähig. So ist, oder so wird mit der Länge die Verzweiflung jener Menschen, welche, nachdem sie ihr ganzes Leben dem Dienste einer Idee gewidmet hatten, ihr Hirngespinnst verschwinden sahen, kein zweites fanden, und welche, verzichtend, etwas Neuem nachzujagen - was für sie verzichten heißt zu leben - sich hingelegt haben, in schlaffe Gleichgültigkeit versunkene Zuschauer, mit stumpfer Geringschätzung das Schauspiel des menschlichen Lebens zu betrachten wie einen eiteln Wirbel, der sie nicht mehr fortzureißen, und nur noch traurig ihre trostlose Langeweile zu vertreiben vermag. Unter einem ruhigen und fast lachenden Anscheine sind es dennoch Verzweifelte: die Zahl derselben ist größer, als man denkt, und ihre Verzweiflung würde sich in Gotteslästerungen Luft machen, wenn die Welt, an die sie aufgehört haben zu glauben, ihnen nicht noch Stoff gäbe, sich zu zerstreuen.

Welches auch die Form und der Ausdruck der Verzweiflung sei, so viel ist gewiß, daß sie, wie ein gewappneter Räuber, im Hinterhalte auf dem Wege jedes Menschen liegt, ihn belauernd und seine Seele suchend, um mit der Schrift zu reden. Man muß nicht erstaunen, ihr zu begegnen, denn sie ist auf allen Wegen, die Christus nicht bewacht; man muß sich im Gegentheil verwundern, daß so Viele ihr nicht begegnen, da sie doch die natürliche Lage und der wahre Zustand eines jeden Menschen ist. Im Grunde sind wir in ihrer Macht, sie hält uns ein, sie hat alle Pässe inne, und wir halten uns für vollkommen frei in einem Kreise, dessen Ausgänge, ohne daß wir es wissen, alle besetzt sind. Darf es da befremden, wenn man erwacht? Wie oft hat uns nicht ein böser Traum aus dem tiefsten Schlafe aufgeschreckt! Nun aber hat auch das Leben seine bösen Träume.

Ja, was noch merkwürdiger ist! wir haben im stärksten Schlafe eine Ahnung und eine verworrene Furcht, aufgeweckt zu werden. Und darum wage ich, alle Menschen, welche die Gnade nicht des göttlichen Lebens theilhaftig gemacht hat, zu fragen: was würdet ihr denken, was würdet ihr empfinden, wenn ihr euch zum ersten Mal, plötzlich und ohne irgend eine Vermittelung, euch selbst und Gott gegenüber befändet. Verstehet meine Voraussetzung recht: ich verlange nicht, daß euern Fähigkeiten jeder Zweck, jedes Ziel entzogen werde; ihr würdet mir vielleicht mit Recht zur Antwort geben, daß irgend eine Thätigkeit eurer Natur wesentlich sei, und daß ihr nach Unterdrückung jeder Thätigkeit keine Menschen mehr wäret. Nein, ich gebe mit euch die unumgängliche Nothwendigkeit des thätigen Lebens zu, und ich will keine eitle Voraussetzung machen, aus der es unmöglich wäre, etwas zu schließen. Aber die Voraussetzung, auf die ich mich beschränke, die eines Alleinseins mit euerm Gewissen und mit Gott, ist keine eitle, und ihr werdet mir erlauben, euch zu sagen, daß, wenn Gott Gott ist, ihr durchaus, in der Thätigkeit wie in der Ruhe, nicht bloß die Vorstellung Gottes ertragen müßt, sondern daß sie euch willkommen sein muß, daß ihr das Bedürfniß empfinden müßt, sie mit Adem zu verbinden, daß sie euer Leben nicht stören, sondern ergänzen muß; wenn es sich anders verhielte, so wäre Gott für euch nicht, was Er sein soll, oder ihr wäret für Gott nicht, was ihr sein sollt; in beiden Fällen wäre euer Leben verstümmelt, unächt, widersinnig und, unter dem Namen des Lebens - ein aufgeregter und unruhiger Tod. Gleichwie man das Bedürfniß fühlt, die Vorstellung des Lebens mit derjenigen Gottes zu verbinden, um dieser Wahrheit gewissermaßen einen Leib und eine Bewegung zu geben, so muß man das Bedürfniß fühlen, die Vorstellung Gottes mit der des Lebens zu verbinden, gerade so, wie man dasjenige empfindet, einem Worte einen Sinn zu geben; denn Gott ist der Sinn des Lebens, welches ohne Ihn durchaus keinen hat. Und nun frage ich euch: ist es euch natürlich, die Vorstellung Gottes mit der des Lebens zu verbinden? Das ist die ganze Frage; und wenn ich eine Lage vorausgesetzt habe, wo ihr euch aus irgend einer Ursache mit euch selbst allein befindet, so geschah es, weil wir, wenn wir mit uns allein sind, nothwendig der Vorstellung Gottes begegnen, sei es unter der Gestalt dieser Frage: was hat Gott für mich gethan und was habe ich für Gott gethan? oder sei es (denn es müssen alle Fälle erschöpft sein) unter der Gestalt jener andern Frage: ist ein Gott? was ist Gott?

Wenn nun die Begegnung dieser Fragen euch erschreckt, wenn ihr euch mit ihnen in die Tiefe eines Abgrundes hinuntersinken fühlt, wenn ihr gezwungen seid, euch zu sagen: Ich weiß nicht, ob ein Gott ist, oder ob dieser Gott an mich denkt, folglich weiß ich nicht, ob das Leben einen Sinn hat; oder aber: Ich weiß, daß ein Gott ist, das Leben hat also einen Sinn, aber das meinige hat keinen, weil mein Leben ohne Gott ist; in welche Lage wirft euch oder in welcher Lage findet euch die eine oder andere dieser Antworten? und was für einen Namen diesem Zustande geben, wenn nicht den der Verzweiflung?

Nun aber sorgt Gott in jedem Leben für Augenblicke, wo die Seele, gleichsam vom Leibe getrennt und mit sich selbst allein, gezwungen wird, sich diese Fragen wenigstens zu stellen. Aber sie ist nicht ebenso gezwungen, dieselben zu beantworten; und darum schlafen so viele Menschen, nachdem sie die Augen halb aufgeschlagen haben, beinahe sogleich wieder ein und fangen wieder an zu träumen. Was aber diejenigen betrifft, die eine verborgene Hand lange genug diesen Fragen gegenüber zurückhält, um sie ganz zu erwecken; so schlafen sie, einmal erwacht, nicht wieder ein. Ihr Zustand ist mehr oder weniger schmerzhaft; aber es ist kein Schlaf mehr, und wenn sie forthin leben, wie sie bis anhin gelebt haben, so geschieht dies nicht mehr unter der Einwirkung ihrer Träume (denn sie haben aufgehört zu träumen), sondern geleitet durch einen wohlberechneten Entschluß, so und nicht anders leben zu wollen. Sie benehmen sich nicht wie Verzweifelte, und doch leben sie in der Verzweiflung.

Aber gleichwie es für den Leib langwierige Krankheiten und hitzige Krankheiten gibt, so gibt es langwierige Verzweiflungen und hitzige Verzweiflungen. Zwischen ihnen zu wählen, ist nicht ganz in unserer Macht. Unsere Natur, die Umstände, der Wille Gottes entscheiden darüber. Immerhin ist es gewiß, daß wir sehr oft, in den gewöhnlichsten und ruhigsten Stellungen, von der heftigsten Verzweiflung nur wie der Seefahrer von dem Abgrunde, einen Finger breit, getrennt sind. Tausend und tausend Zerstreuungen, die auf einander folgen und aus unserm ganzen Leben Eine lange Zerstreuung machen, unser natürliche Leichtsinn, irgendwelche hartnäckige Leidenschaft schützen uns gegen unser Gewissen. Wir durchschreiten bei Nacht mit dem festesten Schritte einen Pfad, den wir bei Tagesanbruch mit Schaudern betrachten werden; denn dieser Pfad war nur ein schmaler Grat zwischen zwei Abgründen; unsere Verwegenheit selbst hat uns gerettet, und wir sind der Gefahr entgangen, weil wir sie nicht gesehen haben. Aber wenn wir gezwungen sind, sie zu sehen; wenn mitten in unserm weltlichen Dichten und Trachten irgend eine Ursache uns von unserer Täuschung hinwegreißt; wenn die Eitelkeit alles dessen, was wir gewünscht, bewundert, geliebt haben, uns in ihrer ganzen Augenscheinlichkeit überwältigt; wenn der Sinn des Lebens uns entgeht, oder wenn er uns schrecklich erscheint; wenn wir, sowie wir wieder in die Tiefe unsers Gewissens hinabsteigen, daselbst nur die Sünde finden; wenn unsere verwirrte Vernunft uns an Gott zweifeln läßt, oder wenn unsere auf ihre natürliche Einsicht beschränkte Vernunft uns einen rächenden Gott verkündigt: dann ergreift uns in dieser gottleeren oder von Gottes Zorn erfüllten Unermeßlichkeit eine tödtliche Herzensangst, unser Geist wird verwirrt und irre, das weite Weltall ist nur noch ein Gefängniß, dessen eiserne Pforten allen unsern Anstrengungen widerstehen, die Vergangenheit und die Gegenwart jagen uns Entsetzen ein, die Zukunft erregt uns Grauen; und dennoch werfen wir uns, wie um sie zu beschleunigen, eigentlich aber vielmehr, weil wir der Gegenwart um jeden Preis entrinnen wollen, in die Arme des Todes, ohne uns zu fragen, ob dieser vorgebliche Schlaf nicht ein Erwachen, ein vollständigeres Erwachen und folglich eine vollständigere Verzweiflung sein werde. Unser Schlaf beschützte uns, unser Erwachen hat uns ins Verderben gestürzt.

Einige von euch, meine Brüder, haben vor wenigen Jahren die Geschichte einer jungen Schlafwandlerin lesen können, welche in einer finstern Nacht durch ein Fenster des Zimmerchens, das sie unter dem Dache bewohnte, hinausstieg, und, ganz eingeschlafen, lange auf den Dächern im Angesichte einer bebenden und schweigenden Menge umherwandelte, die vergebens über die Mittel, sie zu retten, rathschlagte. Von einem nahen Feste träumend, bereitete sie ihren Staat, lispelte fröhliche Lieder; und immer sichern Trittes die Abdachung durchmessend (denn ihr Schlaf beschützte sie), schritt sie bis an den Rand, wo sie sich setzte und von wo sie sich, ihre Arbeit unterbrechend, von Zeit zu Zeit lächelnd auf die Straße herabneigte; und dann pochten mit Ungestüm tausend Herzen in tausend Busen, als sollten sie sie zersprengen; aber die Stille war nur um so tiefer. Mehrere Male entfernte sie sich von der verhängnißvollen Grenze, mehrere Male kam sie wieder zurück, immer lächelnd und immer eingeschlafen. Aber plötzlich schimmert an einem Fenster ihr gegenüber ein Lichtchen, die Augen der Schlafwandlerin begegnen ihm, sie erwacht, ein herzzerreißender Schrei wird gehört, hierauf ein tödtlicher Fall Ihr Erwachen hatte sie getödtet! Ach! Menschen ohne Glauben und ohne Gott, Menschen, deren Gott diese Welt ist, was seid ihr anders als Schlafwandler, die eingeschlafen am Rande des Abgrundes hingehen, vielleicht auch singend und von Festen träumend, durch euern Schlaf beschützt, aber, wie jene Unglückliche, den Tod bei euch tragend? Ein Lichtchen ziehe euch aus euern Träumereien; das Erwachen überfalle euch am Rande des Daches - und auch ihr wanket, ihr fallet, ihr sterbet. Waren diejenigen, welche nicht fielen, weniger Schlafwandler als ihr, weniger verirrt, weniger dem Tode ausgesetzt? Nein, jeder Weltmensch trägt den Keim zur Verzweiflung in sich, jedes Leben ohne Gott geht mit einem Selbstmorde schwanger.

Dabei ist keine Uebertreibung, es kann keine dabei sein. Was wunderbar ist, ist nicht die Verzweiflung, es ist im Gegentheil der Umstand, daß die Verzweiflung nicht gewöhnlicher ist. Der Mensch ist so sehr für Gott berechnet und eingerichtet; Gott ist so sehr sein natürliches Element und kein lebender Mensch außer aller Verbindung mit Gott ist so sehr außer aller Wahrheit, so sehr mit sich selbst im Widerspruch, kurz, es bleibt so wenig übrig von dem Menschen im Menschen, oder vielmehr er verschwindet so ganz, wenn jene Bedingung seines Daseins fehlt, daß man nicht einmal begreifen könnte, wie er so lange ferne von seinem Urquell fortdauern und eine Art Leben fortleben kann, wenn nicht die niederen Theile seines Wesens durch die Dinge der Welt einen Reiz empfingen, welcher ihn über das erste seiner Bedürfnisse irre führt und ihm, außerhalb des wahrhaften Lebens, ein anderes, weder göttliches noch rein thierisches Leben schafft, das sich für ein menschliches Leben ausgibt. Gleichwohl stirbt das Bedürfniß nach Gott nicht im Menschen; die Stelle Gottes bleibt in ihm ewig unbesetzt; er mag lange seine verschiedenen Leidenschaften zu Göttern erheben, alle diese Götter vermögen nicht, die Unermeßlichkeit seiner Seele zu bevölkern; immer erwartet sie an ihrem verödeten Herde den göttlichen Gast, dessen wahren Namen sie verlernt hat; ja es kommt ein Tag, wo sie in ihrem Unwillen alle ihre Götzen zertrümmert und sich verdammt, für immer von dem Staube derselben, den schmählichen Bruchstücken, die fürderhin keine menschliche Kunst wieder zusammenfügen kann, umgeben zu bleiben. Wenn man einmal so weit ist, meine Brüder, dann ist alles möglich; das Alleräußerste ist viel näher als man glaubt; man kann weder den Andern noch sich selbst für etwas rügen; ein solches Unglück hat kein Ufer, keinen Grund; und wenn man nicht unmittelbar untergeht, so verdankt man seine Rettung Ursachen, über die man nicht zu verfügen hat. Daß Seelen, welche noch unter der Herrschaft des Traumes sind, und deren Mißmuth fortwährend einige armselige Götzen zu zerstreuen suchen, von dieser Verzweiflung nichts begreifen können, das beweist wohl keinesweges, daß diese Verzweiflung nicht wirklich, nicht natürlich, nicht gerecht sei. Und wie sollten sie sie begreifen? Und wie sollten sie auf ihrem Standpunkte dieselbe nicht eine fixe Idee und eine Thorheit nennen? Und wie sollten sie nicht in ihrer Einfalt, um sie zu heilen, eines jener untrüglichen Mittel vorschlagen, die in der That so lange untrüglich sind, als man ihrer nicht bedarf? Und wie könnten diejenigen, welche leiden, ihr Uebel zu verstehen geben, ohne es mitzutheilen? Ein berühmter Mann, den man für hypochondrisch hielt, sagte zu seinen Freunden: „Dieses Uebel ist um so abscheulicher, da es einen die Dinge so sehen läßt, wie sie sind.“ So ist das Uebel jener Verzweifelten, die übrigens, der Welt nach, glücklich, gesund und eines ruhigen Verstandes sind. Sie haben das Unglück, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, ich will sagen so, wie sie in Abwesenheit Christi sind; sie sehen sie so, wie sie sind, das heißt, betrüglich, eitel, spöttisch; man kann sie nicht so sehen ohne Verzweiflung, aber man kann unmöglich seine Verzweiflung erklären, ohne sie mitzutheilen; und es hängt von seinem Menschen, sondern einzig von der Erfahrung ab, zu machen, daß ein Anderer die Dinge so sieht, wie sie sind.

Wenn wir wahr gesprochen haben, meine geliebten Brüder, ist es nicht grausam, diejenigen zu wecken, welche schlafen? und es mit so viel Barschheit thun, wie der heil. Paulus, heißt das nicht doppelt grausam sein? Diejenigen, welche in dem Zimmer eines Kranken sind, dem seine Schmerzen nur während er schläft ein wenig Erholung lassen, hüten sich sorgfältig, einen so kostbaren Schlaf zu unterbrechen. Sie gehen auf den Fußspitzen, sie sprechen nur leise, sie halten ihren Athem zurück. Nun aber bedürfte es nicht so viel, um den viel tiefern und viel kostbarern Schlaf des geistigen Menschen zu verlängern. Was kann also den unseligen Gedanken eingeben, ihn zu stören? Wer denn, wenn nicht der Teufel selbst, hat die Feder jener Schriftsteller gespitzt, welche dem Menschen all sein Elend offenbaren, ohne weder die Macht, noch die Absicht zu haben, es zu heilen, und die ihm jede Art von Glauben an das Leben, an die Menschen und an sich selbst rauben, ohne ihm einen bessern Glauben für denjenigen anzubieten, den er nicht mehr hat? Ich ehre und segne bis in ihre Täuschung hinein diejenigen, welche, auf diese Weise anfangend, sich vornehmen, es besser zu machen, und welche, wie Einer derselben es gesagt hat, indem er von sich selbst sprach, sich vorbereiten, ihre Verwundeten aufzuheben und sie in ihr Hospital aufzunehmen. Denn über alle Träume hinaus, die sie noch vor Kurzem täuschten und jetzt nicht mehr täuschen, haben jene noch einen eigenen Traum; sie meinen an ihrem Gürtel den Schlüssel zu einem Hospital, oder, wenn man will, zu einem Palaste zu tragen, in welchen nur die Verwundeten kommen und von welchem die Gefunden ausgeschlossen sind. Sie werden sich vielleicht enttäuschen und am Ende auch diese letzte Hoffnung neben alle Leichname nach einander in ihrem Busen erstorbener Hoffnungen in alle Winde werfen. Gesegnet seien sie uns gleichwohl. Aber wie könnten wir jene Andern segnen? und wie sollten wir, im Gegentheil, nicht versucht sein, ihnen zu fluchen? Wem wäre nicht dieses Wort der Verfluchung auf den Lippen geschwebt nach einer jener Lektüren, von denen man weggeht wie von einem Lustgelage, mit zerrüttetem Geiste, mit ekelerfültem Herzen, mit verdüsterter Phantasie, hassend, hassenswerth, von Ferne Unheil und Tod athmend; mit Gott, mit dem Menschen, mit dem Leben gefallen; ohne Grundsätze, ohne Richtschnur, ohne Ueberzeugungen - und zu denen man doch wieder zurückkehrt! Nein, nein, jene unmenschlichen Zergliederer sind keine Wundärzte, sondern Henker, und ihr Messer ist ein Dolch. Und sogar dann, wenn, gegen ihre Absicht, etwas Gutes aus ihren Worten hervorgegangen wäre (denn Gott kann denken gut zu machen, was sie gedachten böse zu machen), so vermöchte dieses unverhoffte Ergebniß nicht, sie freizusprechen, und Niemand kann ihnen danken, zum Vortheil ihrer Eigenliebe und mit Gefahr unsers Lebens diesen unglückseligen Scharfblick geübt zu haben.

Und dennoch, meine Brüder, müßte man denjenigen, welcher ohne die Erkenntniß des Vaters, den Jesus Christus geoffenbart hat, den Menschen wie Schiffsgefährten zuriefe: „Wachet auf! dieser Strom, den ihr nicht fühlet, reißt euch in einen Abgrund;“ - denjenigen, welcher, ohne zu wissen, nach welcher Seite hin er Gott suchen soll, diesen geweihten Namen ausspräche und allerwärts die zerstreuten Gedanken seiner unglücklichen Brüder zu diesem Gotte mit verschleiertem Antlitze hinriefe, den, meine Brüder, müßte man schon segnen, sogar dann, wenn der heilige Name, den er ausspricht, keine andere sichtbare und nahe Wirkung hätte, als ihre Seelenangst und ihren Schrecken zu vermehren. Nie hat sich ein Blick, der Gott suchte, und nie eine Stimme, die Ihn anrief, ferne von Ihm im Raume verloren. Aber derjenige, welcher weiß, wo Gott zu finden ist, ist nicht bloß berechtigt, nein, er ist verpflichtet, einen an sich selbst unheilbringenden Schlaf nicht zu achten, einen Schlaf, der nur im Vergleich mit einem Erwachen ohne Licht kostbar ist. Ein solcher Mensch, meine Brüder, darf, ohne sich eines Verbrechens schuldig zu machen (und dieses Verbrechen scheint kaum möglich), nicht zögern, seinem Nächsten aus allen Kräften zuzurufen: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Todten!“

Wenn diese Stimme gehört wird, dann hat ein drittes Erwachen statt, das Erwachen des Glaubens. Nennen wir es, wenn ihr wollt, das göttliche Erwachen, weil, auf welche Weise es auch bewirkt werde, durch den Menschen oder ohne den Menschen, Gott der Urheber desselben ist, und Gott allein es sein kann. Nennen wir es göttlich, weil es uns mit Gott vereinigt. Dieses Erwachen des Glaubens ist so voll Lieblichkeit und Schönheit, als die beiden andern voll Entsetzen . Man kann sich keine bessere Vorstellung davon machen, als wenn man sich das Erwachen einer Person vergegenwärtigt, welche, mehrere Tage lang in eine von ermüdenden oder traurigen Träumen beunruhigte Schläfrigkeit versunken, allmälig von derselben frei wird, endlich die Augen öffnet, und beim ersten Blick alle die liebevollen Gesichter ihrer Verwandten, ihrer Freunde, ihrer Kinder, und besonders derjenigen um ihr Bett her steht, deren zärtliches Lächeln alle Tage während ihrer Kindheit ihr Erwachen segnete. Noch lieblichere Bilder, ein noch zärtlicheres und huldvolleres Antlitz bieten sich dem ersten Blicke dessen dar, in dem jenes selige Erwachen des Glaubens statt hat; und er selbst wird hinfort nichts Lieblicheres kennen bis an dem Tage, wo er, aus einem andern Schlafe hervorgehend, den feuchten Grabesmoder abschüttelnd, im Himmel erwachen wird zu den Füßen seines himmlischen Freundes, unter Lobgesängen und Palmen, mitten unter denen, die er auf der Erde beweinte, oder die ihn selbst beweinten. Ja, so ist, wenn es im Schauen vollendet wird, das heilige Erwachen des Glaubens, und so würde es vom ersten Augenblicke an sein, wenn es nicht durch unsern Unglauben gestört wäre; denn was gibt es Liebenswürdigeres, Entzückenderes an sich selbst, als der erste Gegenstand, der sich unsern Augen darstellt! Es ist ein Gott, ein versöhnter Gott. Es ist wahr: für diejenigen, welche ihren Zustand nicht kennen, schließt die Botschaft von der Gnade eine Botschaft der Verdammniß in sich; aber die zweite ist von der ersten verschlungen; und wir erfahren, daß wir verloren waren, nur, indem wir erfahren, daß wir gerettet sind. Die eine dieser Wahrheiten ist von der andern durch keinen Zwischenraum getrennt; und die Bitterkeit der einen dient nur dazu, die ganze Süßigkeit der andern zu schmecken. Nicht etwa, meine Brüder, daß ich behaupten wollte, es sei möglich, es sei gut, den Tod nicht zu schmecken; nein, in diesem wie in jedem andern Sinne ist es wahr, daß, wenn das Saatkorn nicht stirbt, es allein bleibt, das heißt, nicht zur Aehre emporsteigt; und wehe dem, der sich so leicht vergibt, als Gott ihm vergibt, sich seine Sünden nicht in dem Maße immer wieder in sein Herz eingräbt, als Gott sie aus seinem Buche tilgt, und sich nicht in dem Maße an dieselben erinnert, als Gott sie vergißt!

Für jenen Menschen ist die Vergebung nicht! Nein, es handelt sich nicht darum, unsere Sünde nicht zu betrachten, sondern darum, sie durch die Barmherzigkeit hindurch zu sehen, welche dieselbe vergibt, unsere Schulden zugleich mit den Gnaden Gottes zu zählen, freudig zu zittern und zitternd uns zu freuen. Oder ist nicht das der Urquell der Freude deß gefallenen Menschen: vom Mittelpunkte der Liebe Gottes selbst aus den Abgrund zu messen, in welchen er gefallen war; und wüßte er recht, was es heißt, diesem Abgrunde entronnen zu sein, wenn er ihn nicht messen könnte? Mit Einem Worte: die Freude, um die es sich handelt, ist die einer Befreiung, die einer Versöhnung, die des verlornen Sohnes, wie er weint in den Armen seines Vaters. Wer möchte sagen, diese Freude sei weniger groß, weil sie unerwarteter war? Wer fühlt nicht im Gegentheil, daß sie um so größer ist, als sie unverhoffter war?

Ach, gewiß haben die Wohlthaten, welche uns unsere Fehler wieder vor Augen stellen, etwas Bitteres! und das ist es, warum so viele Menschen der Anbietung einer freien Gnade so hartnäckig widerstreben; aber wir reden von dem Erwachen des Glaubens, und der Glaube hat diese Bitterkeit überwunden. Einerseits hat er jenen Hochmuth geopfert, der nicht gefehlt haben will; andrerseits hat er das Herz mit einem solchen Verlangen nach Heiligkeit, mit einem solchen Bedürfnisse nach Gott, mit einer solchen Hoffnung, Ihn zu besitzen, erfüllt, daß der Gedanke an diese glorreiche Zukunft die Schmach der Vergangenheit leichter tragen macht. Man glaubt nicht nur an Gott und an die Vergebung: man glaubt an die Heiligkeit, man glaubt an ein neues Leben, man glaubt an sich selbst, weil man an Gott glaubt. Wenn unser ganzes Vertrauen verschwunden ist, so entsteht dieses Vertrauen und wächst unaufhörlich im Herzen, und die in den Träumen geschöpfte Hoffnung macht einer unaussprechlichen, in Gott geborenen und in Gott begründeten Hoffnung Platz.

Und doch schließt dieses Erwachen des Glaubens das Erwachen der Verzweiflung, obgleich dasselbe aufhebend, in sich ein. In der That: dieses Licht von Gott zerstreut tausend Trugbilder; wie es unser ganzes altes Leben verdammt, so verdammt es alle unsere Hoffnungen; es zeigt uns die sinnlose Eitelkeit aller Systeme, auf denen das Weltvertrauen sich aufbaut; besser als die völligste Uebersättigung, die bittersten Täuschungen, die grausamsten Erfahrungen es thun könnten, enttäuscht es uns über das Leben, die Menschheit und uns selbst; aber es bereichert uns, indem es uns beraubt, es beraubt uns, um uns zu bereichern; und es zerstört mit seinem Hauche die Welt unserer Einbildung nur, um hienieden schon eine neue Welt zu schaffen, wo alles Friede, Licht, Harmonie, Unsterblichkeit ist.

Wie der geschickte Arbeiter die Bruchstücke eines unförmigen Gefässes wieder zusammenfügt, sie der Wirkung des Feuers unterwirft, und, indem er das schmelzende Metall oder Glas in eine Form rinnen läßt, uns ein Gefäß von unendlich zierlicherer und reinerer Rundung zurückgibt: also sammelt der Glaube, ein tausendmal geschickterer Arbeiter, die Trümmer jener Welt, welche die Wahrheit so eben unter unsern Füßen gerbrochen hat, und bildet uns aus jenen nämlichen Trümmern, schon in diesem Leben, eine der gegenwärtigen Größe unserer Begriffe und der neuen Heiligkeit unserer Neigungen angemessene Welt. Wenn wir lesen, daß des Menschen Sohn gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren war, so dürfen wir darunter nicht bloß verstehen, daß Er verlorne Menschen gesucht und selig gemacht habe; nein; sondern an den Menschen und in der Welt Alles, was verloren war, unsere verlorne Vergangenheit, unsere verlorne Phantasie, unser verlornes Herz, unsere verlornen Kräfte, unsere verlornen Anlagen, unser verlornes Vermögen - mit einem Worte, Alles, was wir Andern als Gott gaben, denn Alles, was wir Ihm nicht geben, ist eben dadurch schon verloren.

Aber wenn wir dieses Erwachen als eine Gnade Gottes dargestellt haben, so dürfen wir ja nicht vergessen, daß das Nämliche, was verheißen, auch befohlen worden ist. Es ist die Stimme Gottes, die uns erweckt; aber diese Stimme ruft: „Wache auf!“ Man kann ihr das Ohr verschließen und zu seinen Träumen zurückkehren, bis daß die Stimme der Verzweiflung ihrerseits ruft: „Wache auf!“ Das Evangelium ist voll Aufforderungen zum Erwachen, als zu einer freiwilligen Handlung, in dem Sinne wenigstens, daß die Verweigerung dieses Erwachens als eine Willensthat betrachtet wird. Jedermann weiß, daß der Wille beim physischen Erwachen nicht immer unbetheiligt ist, weil wir genau zu der Zeit erwachen, die wir bei uns festgesetzt haben, ehe wir uns dem Schlafe überließen. Dies findet keine Anwendung beim Erwachen des geistigen Menschen, welcher sich nicht vornehmen konnte, zu erwachen, da man, um sich etwas vorzunehmen, wach sein muß, und er es nie gewesen ist. Nichtsdestoweniger bleibt das ausgemacht: die Stimme, die ihm ruft: „Wache auf!“ weckt ihn hinlänglich, damit er von seinem Willen Gebrauch machen und mit demselben zwischen Wachen und Schlafen wählen könne. Es gibt also man kann es sagen zwei auf einander folgende Erwachen, das eine ist ein unfreiwilliges, das andere ein freiwilliges; das eine ein vorläufiges, das andere ein entscheidendes; und vom zweiten sagen wir, es sei befohlen. Dieses freiwillige Erwachen hat sogar mehr als einmal statt, und das christliche Leben ist vielleicht nur eine Folge von Erwachen, die alle in einem ersten Erwachen eingeschlossen sind. Derjenige, welcher sein Ohr der gnadenvollen Botschaft des Evangeliums geliehen hat, leiht sein Ohr seinen Lehren und erwacht, um gerecht zu leben (1 Kor. 15,34); an diejenigen, welche auf diese Weise doppelt erweckt worden sind, wird die Stimme Gottes abermals zu den verschiedenen Zeiten ihres Lebens gerichtet, um den lautern Sinn zu erwecken, den sie schon haben (2 Petr. 3,1); und in dem Maße, als jenes betäubende Etwas, was in dem Luftkreise der Welt verbreitet ist, sie für Augenblicke einzuschläfern droht, so erweckt sie jene nämliche Stimme, unmittelbar oder durch die Freunde der Wahrheit, zur rechten Zeit durch ihre Erinnerungen (2 Petr. 1,13). Wenn ihr alle diese Erweckungen zusammennehmt, wenn ihr sie, um so zu sagen, summiert und das Endergebniß derselben schätzet, so werdet ihr finden, daß der wahre Name der Gnade, die Gott euch erweist, und des Gesetzes, das Er euch auflegt (denn was Gnade ist, ist auch Gesetz, und was Gesetz ist, ist auch Gnade), der Name Auferstehung ist. Und darum fügt der Apostel, nachdem er gesagt hat: „Wache auf, der du schläfst!“ unmittelbar darauf hinzu: „Und stehe auf von den Todten!“ Eine übertriebene, unerhörte Forderung! - aber Derjenige, der uns befiehlt aufzustehen, auferweckt uns selber.

Jeder, der bei der ersten Gnade treu ist, Jeder, der, so viel er dessen fähig ist, erwacht und aufsteht, wird nicht lange auf die Belohnung einer ersten Treue und auf die Bestätigung einer ersten Gnade warten. Er wird die Augen im Lichte und nicht in der Dunkelheit öffnen. „Wache auf“, sagt der Apostel, und stehe auf von den Todten, so wird dich Christus erleuchten.„ Ja, Christus wird dich mit seinem eigenen Glanze erleuchten; denn Er ist das Licht selbst. „Welche ihn ansehen“, sagt der Psalmdichter, „werden ganz erleuchtet.“ Das Erwachen und das Licht sind nicht zwei Dinge, die das Evangelium trennt; das Evangelium weiß nichts von jenem Erwachen in der Finsterniß, welches ist das Erwachen der Verzweiflung. Und wenn es zu einer Seele spricht: „Stehe auf,“ so setzt es wie im Propheten hinzu: „Und werde Licht.“ Es ist überflüssig, zu beweisen, daß das so sein muß; aber daß wäre nicht überflüssig, wenn wir Zeit hätten, zu zeigen, welches sei das Fortschreiten, welches die Ausdehnung, welches der Glanz dieses wiedergebärenden Lichtes. Beschränken wir uns darauf, zu sagen, daß es dem ersten Erwachen, dem ersten Blicke des Menschen, den die Stimme der Gnade aus seinem Schlummer und aus seinen Träumen gezogen hatte, versichert ist. Er empfängt nach einander alle Klarheiten.

Und gleichwie beim Anbruch des Tages zuerst die höchsten Spitzen sich schwach von der Finsterniß ablösen, dann allmälig das Licht tiefer hinabfällt und den Fuß derselben einhüllt; wie dann jenes nämliche, immer lebhafter werdende licht, von einem Gegenstande zum andern strahlend, in die kleinsten Windungen und in die kleinsten Zwischenräume sanft eindringt, so daß sich am Ende alles losmacht, alles deutlich hervortritt, alles erkennbar wird; also wird uns von Wahrheit zu Wahrheit am Ende die ganze Wahrheit bekannt; also, indem das Licht das Licht gebiert, die Erfahrung sich mit der Offenbarung verbindet, die Offenbarung der Erfahrung einen Sinn gibt, umfaßt unsere Erkenntniß der Gegenstände immer mehr, durchdringt sie besser, beurtheilt alle Dinge mit mehr Sicherheit; und wir erfahren, daß der Weg des Glaubens der nämliche ist, wie der Pfad des Gerechten, wo das Licht ohne Aufhören zunimmt bis auf den vollen Tag. Das ist die Verheißung des Apostels an alle diejenigen, welche, wenn sie ihrem Gewissen Gehör gegeben haben, bis auf einen gewissen Punkt erwacht und auferstanden sind von den Todten: Christus wird sie erleuchten! Ja, Christus, und kein Anderer; denn Er allein kennt zugleich alle Geheimnisse Gottes und alle unsere Geheimnisse, was Gott ist und was wir sind, was Er für uns sein will und was wir für Ihn sein müssen, was wir sollen und was wir können, unsere Gefahren und unsere Rettungsmittel, unsere Lebensordnung, die Anwendung jedes unserer Augenblick, die Kunst glücklich zu sein und diejenige zu leiden; endlich, um nichts auszulassen, die Kunst zu wissen und die Kunst nicht zu wissen. Das ist es, was wir von Christo zu erwarten haben, das ist es, was der Glaube je mehr und mehr von Ihm empfangen wird. O seliges Licht des wahrhaft erwachten, wahrhaft auferstandenen Menschen I o einziges Licht unter den Finsternissen der Welt! o Licht, und allzumal Leben, Freude und Stärke des Menschen! erhebe dich über unsern Häuptern, erleuchte unsere mühsamen Pfade, hülle uns von allen Seiten ein; ein einziger Strahl von dir entzückt eine in Trauer versunkene Seele: was wäre es erst mit allen deinen Klarheiten! was wäre erst ein Tag ohne Untergang! O Geist des Lichtes, verweigere uns nicht das Licht; und wenn Du uns aus diesem schweren und verhängnißvollen Schlafe erweckt hast, der das ganze Geschlecht Adams darniederdrückt: dann habe uns nicht vergebens erweckt, weder für uns, noch für die Andern, sondern damit wir das Licht empfangen und damit wir das Licht ausbreiten, so daß sie, wenn sie unsere Werke des Lichtes sehen, mit uns, und wir mit ihnen, unsern Vater im Himmel preisen!

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/v/vinet/vinet_reden/vinet_reden_die_drei_arten_des_erwachens.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain