Thomas von Kempen - Buch 1 - Kapitel 22

Thomas von Kempen - Buch 1 - Kapitel 22

Von der Betrachtung des menschlichen Elends.

1. Elend bist du, wo du auch sein und wohin du dich auch wenden magst, wofern du dich nicht zu Gott kehrst.

Warum beunruhigst du dich, weil es dir nicht nach Wunsch und Willen geht? Wer ist’s, der Alles nach seinem Willen hat?

Weder ich noch du, noch einer der Sterblichen auf Erden.

Niemand in der Welt ist ganz ohne Trübsal und Klage, er sei König oder Papst.

Wer ist’s, der es besser hat? Sicherlich der, der um Gottes willen etwas zu leiden vermag.

2. Es sagen viele Schwache und Unverständige: Siehe, was für ein gutes Leben hat jener Mensch; wie reich, wie groß, wie mächtig und hoch ist er!

Aber schaue auf die himmlischen Güter und du wirst finden, daß alle jene zeitlichen keine Güter, sondern etwas sehr Ungewisses und mehr eine Last sind, weil man sie niemals ohne Furcht und Sorge besitzen kann.

Das wahre Glück des Menschen besteht nicht darin, daß er zeitliche Güter in Ueberfluß habe, sondern ein mittelmäßiger Theil genügt ihm.

Fürwahr, es ist ein Elend, auf Erden zu leben!

Je geistiger der Mensch sein will, desto bitterer wird ihm das gegenwärtige Leben, weil er die Gebrechen menschlicher Verdorbenheit tiefer empfindet und besser einsieht.

Denn essen, trinken, wachen, schlafen, arbeiten, rasten und den übrigen Bedürfnissen der Natur unterworfen sein, ist in der That ein großes Elend und Kreuz für den Gottseligen, der gern losgebunden und frei von aller Sünde sein möchte.

3. Denn der innere Mensch wird in dieser Welt durch die Bedürfnisse des Leibes sehr beschwert.

Darum fleht der Prophet inbrünstig, daß er von ihnen befreit sein möge, indem er spricht: “Herr, errette mich aus meinen Nöthen!“ (Ps. 24,17.

Wehe aber denen, die ihr Elend nicht erkennen und noch mehr wehe denen, die dieses elende und gebrechliche Leben lieb haben!

Denn einige, ob sie gleich durch Arbeit oder Betteln kaum die Nothdurft haben, hangen so an diesem leben, daß sie sich um das Reich Gottes gar nicht kümmern würden, wenn sie nur immer leben könnten.

4. O der thörichten und ungläubigen Herzen, die so tief in das Irdische versunken sind, daß sie für Nichts, als für das Fleischliche Sinn haben!

Aber die Unglücklichen werden am Ende noch schwer fühlen, wie gering und nicht das war, was sie so heiß liebten.

Die Heiligen Gottes jedoch und alle Freunde Christi achteten nicht auf das, was dem Fleische gefiel oder in dieser Zeit in Blüthe stand, sondern ihr ganzes Hoffen und Trachten war auf die ewigen Güter gerichtet.

Aufwärts ging all ihr Verlangen nach dem Bleibenden und Unsichtbaren, damit sie nicht durch die Liebe zum Sichtbaren herabgezogen würden zu dem, was drunten ist.

Mein Bruder, laß nicht fahren die Hoffnung, daß auch du zum Geistigen fortschreiten werdest; noch hast du Zeit und Stunde.

5. Warum willst du deinen Vorsatz auf morgen verschieben? Auf! Und mache den Anfang sogleich und sprich: Jetzt ist es Zeit zu handeln; jetzt ist es Zeit zu kämpfen; jetzt ist es die gelegenste Zeit, mich zu bessern!

Wenn es dir übel geht und du von Trübsal heimgesucht wirst, dann ist es Zeit, vorwärts zu kommen.

Du mußt durch Feuer und Wasser gehen, bevor du zur Erquickung kommst.

Thust du dir nicht Gewalt an, wirst du der Sünde nicht Meister.

So lange wir diesen gebrechlichen Leib tragen, können wir nicht ohne Sünde sein, noch ohne Verdruß und Schmerz leben.

Wohl hätten wir gern vor allem Elend Ruhe; aber weil wir durch Sünde die Unschuld verloren haben, sind wir auch der wahren Seligkeit verlustig geworden.

Darum müssen wir Geduld haben und auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen, bis dieses Ungemach vorüber gehe und der Tod vom Leben verschlungen werde.

6. Ach wie groß ist die menschliche Gebrechlichkeit, die immer zur Sünde geneigt ist!

Heute beichtest du deine Sünden und morgen thust du wieder, was du gebeichtet hast.

Jetzt nimmst du dir vor, auf der Hut zu sein und in der nächsten Stunde handelst du, als ob du keinen Vorsatz gefaßt hättest.

Mit Recht also sollen wir uns demüthigen und niemals etwas Großes von uns denken, weil wir so gebrechlich und unbeständig sind.

Ach kann durch Nachlässigkeit schnell verloren gehen, was mit vieler Mühe durch Gnade endlich kaum erlangt worden ist!

5. Was wird am Ende noch mit uns werden, wenn wir so früh schon erkalten!

Wehe uns, wenn wir so zur Ruhe hinneigen wollen, als ob bereits Friede und Sicherheit wäre, ungeachtet noch keine Spur wahrer Heiligkeit in unserem Wandel sich zeigt.

Es wäre wohl nothwendig, daß wir uns, wie Neulinge, noch einmal zu besseren Sitten anleiten ließen, ob vielleicht noch Hoffnung wäre für künftige Besserung und größeres Wachsthum im geistigen Leben.

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