Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 5
Von der wunderbaren Wirkung der göttlichen Liebe.
1. Ich preise dich, himmlischer Vater, Vater meines Herrn Jesu Christi, daß du mich Armen würdigest, meiner zu gedenken.
O Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes, ich sage dir Dank, daß du mich alles Trostes Unwürdigen doch bisweilen mit deinem Troste erquickest. Ich preise dich ohne Unterlaß, und lobe dich mit deinem eingebornen Sohne sammt dem heiligen Geiste, dem Tröster, von nun an bis in Ewigkeit.
Ei, mein Herr und Gott, du Heiliger, der du mich liebest, wenn du in mein Herz kommst, so wird mein ganzes Innere frohlocken! Du bist mein Ruhm und meines Herzens Wonne, du meine Hoffnung und meine Zuflucht am Tage meiner Trübsal.
2. Aber weil ich noch schwach bin in der Liebe und unvollkommen in der Tugend, so bedarf ich Stärke und Trost von dir; darum suche mich oft heim und unterweise mich in heiliger Zucht.
Mache mich frei von bösen Begierden und heile mein Herz von allen unordentlichen Trieben, damit ich, geheilet und gereinigt im Innern, geschickt werde zur Liebe, stark zum Leiden, standhaft zum Ausharren.
3. Die Liebe ist ein großes Ding und gewiß ein herrliches Gut, das allein leicht macht alles Schwere und mit Gleichmuth duldet Alles, was ungleich ist.
Denn sie trägt das Schwere ohne Beschwerde und macht alles Bittere süß und schmackhaft.
Die edle Liebe zu Jesu treibt zu großen Thaten und weckt das Verlangen nach stets wachsender Vollkommenheit.
Die Liebe strebt aufwärts und läßt sich nicht zurückhalten durch niedere Dinge.
Die Liebe will frei sein und jeder weltlichen Neigung fremd, damit ihr inneres Schauen nicht beschränkt, damit sie durch keinen zeitlichen Vortheil umgarnt oder durch einen Nachtheil zu Boden gedrückt werde.
Nichts ist süßer als die Liebe, nichts stärker, nichts höher, nichts weiter, nichts anmuthiger, nichts völliger noch besser im Himmel und auf Erden. Denn die Liebe ist aus Gott geboren und kann nur in Gott, erhaben über alle geschaffenen Dinge, Ruhe finden.
4. Der Liebende fliegt, läuft und freuet sich; frei ist er und lässet sich nicht halten. Er gibt Alles für Alles und hat Alles in Allem, weil er, über Alles erhaben, in dem Einen Höchsten ruhet, aus welchem alles Gute fließt und hervorgeht.
Nicht sieht er auf die Gaben, sondern über alle Güter erhebt er sich zum Gebet.
Die Liebe kennt oft kein Maß, sondern ihre Brunst übersteigt oft alles Maß.
Die Liebe fühlt keine Last; sie achtet keine Mühe; sie strengt sich über Kräfte an und schützet nicht die Unmöglichkeit vor, weil sie Alles zu können und zu dürfen meint.
Darum ist sie zu Allem tüchtig und vollführt und bringt Vieles zu Stande, während der, welcher keine Liebe hat, ermattet hinsinkt.
5. Die Liebe wachet und selbst schlafend schläft sie nicht.
Ermüdet wird sie nicht lässig, eingeengt nicht beengt, erschreckt nicht erschrocken, sondern gleich einer lebendigen Flamme und brennenden Fackel bricht sie hervor und dringt unaufhaltsam durch.
Wer liebt, weiß, was diese Stimme ruft. Ein lauter Ruf in den Ohren Gottes ist selbst das brennende Verlangen der Seele, die da spricht: Mein Gott, meine Liebe! Du ganz mein und ich ganz dein!
6. Erweitere mich in der Liebe, daß ich lerne mit dem innersten Munde des Herzens schmecken, wie süß es sei, zu lieben und in der Liebe zu zerschmelzen und zu verschwimmen.
Möchte die Liebe mich halten, wenn ich über mich hinausgehe vor übergroßer Inbrunst und Bewunderung.
Möchte ich singen der Liebe Gesang! Möchte ich dir, meinem Geliebten, in die Höhe folgen! In deinem Lob vergehe meine Seele, im Jubel der Liebe!
Lieben möcht‘ ich dich mehr, als mich selbst und mich nur um deinetwillen und Alle in dir, die wahrhaft dich lieben, wie es gebeut der Liebe Gesetz, die aus dir hervorstrahlt.
7. Die Liebe ist rasch und aufrichtig, fromm, anmuthig und lieblich, stark, geduldig, treu, vorsichtig, langmüthig, mannhaft und such nimmer das Ihre.
Denn wo Einer das Seine sucht, da fällt er von der Liebe.
Die Liebe ist umsichtig, demüthig und gerade, nicht weichlich, nicht leichtfertig, nicht auf das Eitle gerichtet; sie ist nüchtern, keusch, beständig, ruhig und bewacht ihre Sinne.
Die Liebe ist unterwürfig und gehorsam den Obern, sich selber gering und verächtlich, Gott ergeben und dankbar, auf ihn allezeit vertrauent und hoffend, auch wenn er sich ihr entzieht, weil sich’s ohne Schmerz nicht in der Liebe lebt.
8. Wer nicht bereit ist, Alles zu dulden und dem Geliebten zu Willen zu stehen, der verdient nicht den Namen eines Liebenden.
Der Liebende muß alles Harte und Bittere um des Geliebten willen gern annehmen und darf sich durch nichts Widerwärtiges von ihm abwendig machen lassen.