Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 27
Daß die Eigenliebe vom höchsten Gut am meisten abzieht.
1. Sohn! du mußt Alles für Alles geben und nichts mehr dir selbst sein. Wisse, daß die Eigenliebe dir mehr schadet, als irgend etwas in der Welt.
Nach dem Maß deiner Liebe und Neigung fesselt dich mehr oder weniger jede Sache.
Ist deine Liebe rein, einfältig und wohlgeordnet, so wird dich nichts zum Sklaven machen.
Begehre nicht, was du nicht haben darfst; wolle nicht haben, was dich hindern und der innern Freiheit berauben kann.
Es ist wunderbar, daß du dich mir nicht von ganzem Herzen ergibst mit Allem, was du begehren und haben kannst!
2. Warum lässest du dich von eitlem Kummer verzehren? Warum von überflüssigen Sorgen ermüden?
Ueberlaß dich meinem Wohlgefallen, so wirst du keinen Schaden erleiden.
Wenn du aber dieses oder jenes suchst und bald da, bald dort sein willst, um deines Vortheils willen und um mehr Annehmlichkeit für dich zu haben; so wirst du nie zur Ruhe kommen, noch frei sein von Bekümmerniß; denn an jedem Dinge wird sich ein Mangel und an jedem Orte ein Widersacher finden.
3. Darum nützet es dir nichts, daß du viel erwirbst und dein äußeres Gut vermehrst, sondern vielmehr, daß du alles dieß verschmähst und sammt der Wurzel aus dem Herzen reißest.
Und das gilt nicht blos von Gold und Reichthum, sondern auch von der Ehr- und Ruhmsucht, welche Dinge alle mit der Welt vergehen.
Wenig schützt der Ort, wenn der Geist der Inbrunst fehlt; auch wird der Friede, den du äußerlich suchst, nicht lange bestehen, wenn dem Herzen der wahre Grund abgeht, das heißt, wenn du nicht in mir feststehest. Du kannst dich ändern, aber nicht verbessern.
Denn sobald eine Gelegenheit kommt und von dir ergriffen wird, so findest du wieder, was du geflohen hast und noch mehr.
Gebet um Reinigung des Herzens und himmlische Weisheit.
4. Befestige mich, o Gott! durch die Gnade des heiligen Geistes.
Gib mir Kraft, stark zu werden am inwendigen Menschen und mein Herz aller unnützen Sorge und Angst zu entledigen, mich auch nicht von wechselndem Verlangen nach irgend einer Sache, sie sei kostbar oder gering, hinreißen zu lassen, sondern alle Dinge als vergänglich anzusehen und mich selbst als einen solchen, der zugleich mit ihnen vergehen wird.
Denn nichts ist bleibend unter der Sonne, sondern alles Eitelkeit und Bekümmerniß des Geistes.
5. Gib mir, o Herr, himmlische Weisheit, daß ich lerne, dich über Alles zu suchen und zu finden, dich über Alles zu schätzen und zu lieben und alles Andere nach der Ordnung deiner Weisheit, so wie es ist, zu erkennen.
Gib auch, daß ich klüglich den Schmeichler meide und gelassen den Widersacher ertrage.
Denn das ist große Weisheit, sich nicht bewegen zu lassen von einem jeglichen Wind der Worte, noch das Ohr zu liehen der verführerischen Stimme der Schmeichelei; denn so nur wandelt man sicher auf der betretenen Bahn.