Tholuck, August - Das Zeugniß der Kindschaft Gottes, das sicherste Unterpfand des ewigen Lebens.
Wir haben heute eine ernste Mahnung an den Tod; wir feiern das Todtenfest. Wir haben dieselbe in einer Zeit, wo auch die Natur sie an uns ergehen läßt. Der Himmel kleidet sich in Grau, die Düfte und Töne des Lebens sind abgestorben; die Natur hat ihr Leichenkleid angelegt, und in diesem feierlichen Gewande predigt sie dir, gleichwie das Wort Gottes: Mensch, du mußt sterben! - Ei, sagst du, ich gehe nur auf eine kleine Weile in eine stille Kammer, und wenn der liebe Frühling kommt, blühe ich wieder auf. Staubgeborner, was hast du für Stützen für diesen deinen Glauben? Ich weiß, was ihr mir vorführet: Die Sinnbilder, welche die Natur selbst zur Schau ausstellt im Schmetterlinge und im schwellenden Keim, der unter der Schneedecke sich hebt. - Hast du wohl schon einmal an dem Sterbebette einer dir theuern Seele gestanden, wenn das entstellte Gesicht dir unkenntlich geworden ist? wenn das matte Auge in der tiefen Augenhöhle nur leise glimmt? die hagere Hand krampfhaft sich zusammenschließt und die Brust röchelt? Hast du dann keine andere Stütze, als jene Sinnbilder der Natur - o was gilt's, mit dem erlöschenden Pulse des Sterbenden erlischt deine Hoffnung mit. Und wenn du selber daliegen wirst mit dem perlenden Todesschweiß auf deiner Stirn und die Freunde um dich her, die auf den letzten Odemzug warten, Bruder, du wirst einer stärkern Stütze bedürfen, als der Sinnbilder der Natur. Doch nach einer andern Seite sehe ich euren Finger hindeuten: siehe den Herzog des Lebens in der Gruft von Golgatha, wie er aus dem Grabe sich heraufschwingt, wie die Leichentücher fallen, und er in himmlischer Verklärung zum Vater geht! O ein großes Bild, aber ach, daß es uns mehr wäre, als ein Bild! Wie nun aber, wenn selbst in dieser Versammlung sich solche befinden mögen, für welche der, den wir anbeten, als der Fürst des Lebens nicht den Tod, sondern nur eine schwere Ohnmacht überwunden hat - sie sind in der christlichen Kirche aufgewachsen, aber selbst der Jünger der Liebe würde sagen: „Sie gehören nicht zu uns.“ Doch auch wenn ich zu euch mich wende, die ihr es nicht in Zweifel zu ziehen wagt, was unser apostolisches Bekenntniß sagt: „auferstanden am dritten Tage von den Todten;“ - ihr bezweifelt es nicht, aber glaubt ihr es auch? Ist diese Auferstehung aus den Todten euch also fest, daß ihr selbst dafür könntet euer Leben geben in den Tod? Gemeinde Gottes! Mit dem recht lebendigen Glauben glaubt nur an den auferstandenen Christus, wer da auferstanden ist mit ihm zu einem neuen Leben; daß der Vater, wie die Schrift uns sagt, „sein heiliges Kind Jesus“ in Wahrheit hat überwinden lassen die Bande des Todes, glaubt nur, wer selber ein Kind Gottes geworden ist. Darum lasset uns betrachten: Das Zeug n iß der Kindschaft Gottes, das sicherste Unterpfand eines ewigen Lebens. Und zwar leite uns bei dieser Betrachtung das Wort des Apostels, welches wir verzeichnet finden im Briefe an die Römer im 8ten Cap. V. 15 - 17.: „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Derselbige Geist gibt Zeugniß unserm Geiste, daß wir Gottes Kinder sind. Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi.“
Lasset nach diesem Ausspruche uns zuerst erwägen: worin offenbart sich das Zeugniß der Kindschaft Gottes? zweitens: warum ist es ein Unterpfand des ewigen Lebens? - Gottes Geist aber wolle unser Lehrer seyn!
1. Worin offenbart sich die Kindschaft Gottes?
Der Apostel stellt uns einen zwiefachen Geist gegenüber, den knechtischen, der da zittert, und den kindlichen, der da betet. Lasset uns näher betrachten den Geist, der da zittert. Unter dem Schalle des Donners, im Dunkel und Ungewitter empfing einst Israel sein Gesetz. Es bedurfte jener Naturerscheinungen, um die ganze Erhabenheit desselben ein sinnliches Volk fühlen zu lassen. Also furchtbar ist ihr Eindruck, daß der, welcher das Gesetz selber empfangen, steht und ausruft: „Ich bin erschrocken und ich zittere!“ und als sie eingenommen das Land, das der Herr ihnen gegeben, da stehen die Stämme Israels auf dem Berge Garizim zur Rechten und auf Ebal zur Linken, und es tönet der Fluch über jeden Uebertreter des Gesetzes Gottes: „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllet, daß er danach thue, und alles Volk spricht.- Amen!“ Und das Menschenkind, das nun überblickte seine Fehltritte, seine offenbaren und seine verborgenen Sünden von Anfang an, gegenüber diesem heiligen Gesetze, das sollte nicht zittern? Mensch, wer du seist, auch du hast einen Sinai, von dem du das Gesetz deines Gottes empfangen, daß du dich davor beugest mit Zittern. In deinem eignen Herzen ist die heilige Gesetzgebung aufgeschlagen, und nicht wahr, du kennst auch die Stunden, wo mit großem Hall der Posaune im Ungewitter und Dunkel das Gesetz in dir seine Stimme erhoben hat, daß du mußtest in die Kniee fallen und zittern? Und wolltest du sie erdrücken, die Stimme, die laut von dem flammenden Sinai in deinem Innern schallt, sieh, hier im göttlichen Worte steht dasselbe Gebot verzeichnet, und gerade darum ist es dem Menschen von außen her gegeben worden, daß diese Stimme von außen her, die der Mensch nicht auslöschen kann, die in der Tiefe seiner Brust aufrufe. Wie nun, kennst du jenen Zustand, wo der Geist zittert? O wie vielen unter euch mag er noch fremd seyn, und eben darum, weil sie ihn nicht kennen, meinen sie empfangen zu haben jenen seligen Geist der Kindschaft, von dem hier der Apostel spricht. O lasset mich von diesem Irrthum euch vor allen Dingen zurückrufen. O Geliebte, nicht derjenige, dem das Zittern vor der heiligen Stimme Gottes fremd ist, nicht derjenige, welcher weder Schrecken noch Beschämung vor dem Heiligen Israels kennt, nicht derjenige, welcher nicht zittert, ist ein Kind Gottes, sondern derjenige, der da betet. Eine unselige Verkehrung einer heilsamen Wahrheit ist es, daß wir in unserer Zeit von so vielen Seiten her einschärfen hören: das Evangelium ist keine Religion des Gebotes, und daß die andere große Seite dieser Wahrheit verschwiegen wird: es ist aber eine Religion des Gebetes. Du, der du das Zittern des Knechtes nicht kennst, aber auch nicht das Beten des Kindes, du bist nicht ein Kind, du bist auch nicht ein Knecht - ein abtrünniger, entronnener Knecht, ein Empörer bist du.
Das Zeugniß der Kindschaft ist also das Gebet, und zwar nicht jedwedes Gebet, sondern was da beten kann aus der Tiefe der Seele: Lieber Vater! - Lasset näher uns erwägen, wie dieses Gebet in der menschlichen Seele entsteht, und wie es sich äußert. Es ist jenes von Ewigkeit her verschwiegene Geheimniß, wie der Apostel es nennt, welches, wo es mühseligen und beladenen Herzen gepredigt wird, solches Gebet erzeugt. Es ist der gnädige Rathschluß Gottes, da sein Ebenbild in der Menschheit nicht mehr wiederleuchtet, alle, die da glauben an den heiligen Sohn seiner Liebe, nicht mehr anzusehen, wie sie selber sind, sondern anzusehen in seinem geliebten Sohne und sie zu versetzen in das Reich dieses Sohnes seiner Liebe (Eph. i, 6. Col, 1, 13.).
Ein Geheimniß nennt der Apostel diesen Rathschluß, nicht als ob er jetzt noch verborgen bliebe den gläubigen Seelen, sondern weil keine menschliche Vernunft ihn geahnet hat, ehe denn er in der Fülle der Zeit wahr wurde. Aber ein Geheimniß bleibt er nichtsdestoweniger, so lange du selbst noch nicht die Kräfte der zukünftigen Welt geschmeckt hast, die darin liegen, und schwer ist es, denen, die draußen stehen vor den Thüren, die Wunder der Gnade und Liebe faßlich zu machen, die innerhalb des Heiligthums vorgehen. Gleich wie wenn du über der theuren Person eines geliebten Vaters das verirrte Kind selber vergäßest, und nur das theure Bild des Vaters in seinem Antlitze schauend, um den Verirrten segnend deine Arme schlängest - siehe, so hat der himmlische Vater vergessen, daß du ein verirrtes Kind bist; hast du dich nur dem Sohne seiner Liebe in die Arme geworfen und an sein Herz dich angeklammert, siehe, so schaut er dich nicht mehr mit allen deinen Verirrungen in deinem Elende, wie du selber bist, er will dich lieben im Sohne seiner Liebe und in den Strahlen seines Antlitzes soll deine Finsterniß verschlungen werden. So wie du in dir selber bist, spricht der himmlische Weingärtner, bist du eine dürre, unnütze Ranke, aber siehe, willst du eine Rebe werden an dem Weinstocke, den ich mir gesetzt habe, so sollen die Kräfte seines Lebens auch dich dürres Reis durchdringen; ich will nicht mehr gedenken, was du gewesen bist, du sollst grünen und blühen mit dem Weinstocke Christi und viele Frucht bringen. - Da habt ihr die Geschichte des verlornen Sohnes; es steht geschrieben, daß, als er umkehrte und ihn sein Vater von ferne sah, da ist ihm derselbige entgegengekommen und hat seine Arme nach ihm ausgebreitet. Darin finden Einige den Beweis gegen das Wort der Wahrheit, daß der sündige Mensch eines Mittlers bedürfe, um zum Vater zu kommen (l Tim. 2, 5. Joh. 14, 6.); aber, meine Freunde, ist denn nicht eben im Sohne die Liebe des Vaters dem reuigen Sünder entgegengekommen? öffnet sich das liebende Vaterherz nicht eben im Sohne der sündigen Welt? In Christo Jesu fällt dir der Vater um den Hals, führt dich heim zum Freudenmahle. Oder steht nicht geschrieben: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit sich selber?“ So war denn also derselbige, der da versöhnt werden sollte, in dem, der da versöhnte. Groß ist das Geheimniß, ich sage: das Geheimniß von der Einheit des Vaters und des Sohnes. - Dieses aber ist jene Predigt, welche, wenn sie eingeht durch den Glauben in ein mühseliges und beladenes Herz, auch sofort den verwunderten Ruf der Gegenliebe aus dem Herzen lockt, daß man mit Johannes ruft: „Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir sollen seine Kinder heißen!“ Die Liebe Gottes, die uns zuerst geliebt, wird ausgegossen in unsere Herzen, wie der Apostel sagt. Und dies Bewußtseyn der Liebe, die uns zuerst geliebt, es heißt das Pfand, das Siegel, damit die Gläubigen versiegelt sind. Erstaunt über die Gnade, die sie nicht fassen können, stehen sie und sagen abermals mit dem Jünger der Liebe: „Nun sind wir Gottes Kinder, und es ist noch nicht einmal erschienen, was wir seyn werden!“
2. Und wie wird nun solches Zeugniß der Kindschaft sich äußern?
Der Apostel hat es Alles umfaßt, wenn er uns sagt, daß es betend sich äußert, betend: lieber Vater! Lasset uns zuerst recht erfassen, was die Schrift unter dem Gebete versteht. Es ist nicht bloß der im Worte laut werdende Pulsschlag der Seele, der Apostel ermahnt die Christen, „zu beten ohne Unterlaß“ (1 Thess. 5, 17.). Wäre es nur das Gebet, das im Worte laut wird, wie hätte ein Paulus, ja wie ein Christus selber ohne Unterlaß gebetet? Nein, meine Freunde. Es gibt ein Gebet der Gläubigen, welches, wie der Puls in den Adern, nimmer stillsteht, nicht bei Tage, nicht bei Nacht, ob es gleich kein menschliches Ohr vernimmt, und in diesem innerlichen, stillen Gebete, da rufen sie immerdar: „Abba, lieber Vater!“ Sehet, es ist, wie wenn euch irgend ein theurer Mensch gestorben wäre; würdet ihr nicht noch die ganze erste Zeit nach seinem Tode immerfort ihn im Herzen herumtragen, ja pfleget ihr nicht immerfort ein stilles Zwiegespräch mit ihm, was keinem fremden Ohr vernehmlich ist? So verhält es sich mit jenem Gebet ohne Unterlaß, welches der Mensch übt, der das Zeugniß der Kindschaft Gottes in seinem Herzen empfangen. Er kann es nicht vergessen, was für unverdiente Gnade ihm wiederfahren ist, nach außen hin ruft er immerfort: „Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir sollen Gottes Kinder heißen“, und im Innern des Herzens klingt es unaufhörlich: Lieber Vater! Lieber Vater! - So wie aber das stille Selbstgespräch eines Menschen laut wird, wenn ihn lebendiger das Gefühl des Schmerzes oder der Freude ergreift, also auch jenes stille Gespräch mit dem himmlischen Vater. Wird die Seele lebendiger bewegt, da bedarf sie des Wortes. Und so lesen wir auch vom Heilande, daß er in den Augenblicken des tiefsten Schmerzes gerufen hat: Abba, lieber Vater! (Marc. 14, 36.) Und alles, was das Herz des Kindes Gottes seinem Gotte zu sagen hat, das faßt der Apostel alles zusammen in das Eine: Lieber Vater! - Lieber Vater! so ruft das Kindlein, wenn es, seiner Schuld sich bewußt, doch unverdient überschüttet wird von des Vaters Liebe, und sinkt weinend an seinem Knie nieder; lieber Vater! so ruft es, wenn es voll Angst die Hände faltet und sich in seinen Schooß und an sein Herz flüchten möchte; lieber Vater! so ruft es, wenn es viele Freude hat, und es nicht ertragen kann, die Freude für sich allein zu haben und dem geliebten Vater alles mittheilen muß, was es auf dem Herzen hat. -
Nicht wahr, es ist ein seliges Bild, das Bild eines solchen Kindes Gottes? Und wer seufzte nicht in seiner Seele: ach daß ich wäre, wie dieser Eines! Aber, daß ihr nur nicht meinet, Geliebte, es wäre nur ein Bild. Unsere Zeit glaubt nicht, wenn die Schrift von der Tiefe des menschlichen Verderbens und der Größe des menschlichen Elends predigt; aber warum wollt ihr denn auch nicht einmal glauben, wenn sie von der Größe der göttlichen Gnade predigt und von den Wundern der Liebe Gottes an einem armen, sündigen Menschen, welcher Glauben hat? Wahrhaftig! solche durch den Glauben selige Menschen kann Gott schon hier aus denen machen, welche dem Worte seiner Gnade gehorsam werden, er will sie machen und er hat sie gemacht; es sind ein Paulus, ein Johannes, ein Petrus, ein Luther Zeugen, und wer irgend unter euch Sehnsucht darnach hat - Gottes Thürlein steht allezeit offen und sein Brunnen ist allezeit gefüllet. Und, lieber Bruder, wenn du nun gedenkst jenes Stündleins, wo dein gebrochener Blick auf die lange einsame Reisebahn über dir hinausschauen wird, auf der dich keiner deiner Lieben begleiten kann, und von der du doch noch nicht weißt, ob sie dich in eine süße Heimath führen werde, siehe, da ist eben auch das Zeugniß der Kindschaft Gottes das sicherste Unterpfand für die Ewigkeit.
Es ist das sicherste Unterpfand, denn 1) du bist nicht mehr Fleisch, du bist Geist; es ist das sicherste Unterpfand, denn 2) wer dieses Zeugniß hat, der ist bereits vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. - Zu dem Propheten sprach eine Stimme: „Predige!“ Er fragte: was soll ich predigen? und die Stimme sprach: „Alles Fleisch ist Heu und alle seine Herrlichkeit ist wie eine Blume auf dem Felde.“ Freunde, die Schrift spricht sehr gering von dem Menschen. Stolzer Sterblicher, der Name, den das Wort Gottes dir gibt, ist Fleisch! Ich weiß es, wie so manche unter euch nur mit Widerwillen dieses Wort in der heiligen Schrift lesen, aber willst du die Schrift Lügen strafen? Es gibt eine wunderbare Kraft im Reiche der Natur, die alles, was an der Materie Antheil hat, zu einem geheimnißvollen Mittel- und Einheitspunkte führt: es ist der dunkle Zug der Schwerkraft, welcher unwiderstehlich auch den leiblichen Menschen nach dem Mittelpunkte, nach seiner Mutter, der Erde, hinzieht. Aber, Mensch, die Erde ist nicht bloß deine Mutter, der Vater der Geister ist auch dein Vater! Es geht eine andere geheimnißvolle Schwerkraft auch durch das Reich der Geister hin: dies ist die Schwerkraft der Liebe, die alles, was Geist ist, hinzieht zu einem geistigen Mittel- und Ruhepunkte, zu seinem Ursprunge, zu dem Vater der Geister. Und gleichwie der Stein, in die Luft geworfen, nicht zur Ruhe kommt, bis daß auf der Erde er angelangt ist, also kann alles, was Geist ist und heißt, nicht zur Ruhe kommen, bis daß es ruhet im Mittelpunkte der Geisterwelt, in Gott. Ihr alle, die ihr hier versammelt seid, ihr künftigen Priester und Verwalter des Geheimnisses des Evangeliums - seid ihr Geist? Nun, seid ihr es, so frage ich euch: kennet ihr auch jene Schwerkraft des Geistes? Drängt sie auch euch unaufhörlich hin zu dem Mittelpunkte der Geisterwelt? Könnet ihr auch keine Ruhe finden, bis daß ihr sie gefunden habt in Gott? Und ist dies nicht so, zieht der dunkle Zug der Erde sammt eurem leiblichen Menschen auch euren Geist zur Erde nieder, nun so murret auch nicht, wenn die Schrift euch Fleisch nennt, ihr seid Fleisch. - Doch, Sterblicher, so tief im Evangelium deine Erniedrigung geschildert wird, so hoch deine Erhebung! Gemeinde der Christen, hebe dich höher und bete an: Ihr sollt theilhaftig werden der göttlichen Natur durch Christum Jesum. Also verkündigt das Wort der Schrift. Und die ganze Erlösungsanstalt des Evangeliums, was ist sie anders, als eine Vergöttlichung der menschlichen Natur nach dem Ebenbilde Jesu Christi? Hineingesenkt wird von dem Herzog des Lebens in das Fleisch der lebendig machende Geist, und Jesus Christus spricht: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Er hat es verheißen seinen Gläubigen: „Ich und der Vater, wir werden zu euch kommen und Wohnung bei euch machen.“ Und der Sterbliche, und die gebrechliche Hütte, in welcher der Vater Wohnung gemacht hat sammt dem Sohne, die sollte für immer der Verwesung Preis gegeben werden? O jenes wunderbare Zeugniß im gläubigen Herzen, Siehe das Alte ist vergangen, es ist Alles neu worden, denn du bist geliebet im Sohne seiner Liebe - wer anders kann dieses Zeugniß in der Menschenbrust ablegen, als Gottes Geist? Dasselbe Gewissen, das dich verdammt, kann dich nicht lossprechen: es ist der Geist des Vaters und des Sohnes, der solches Zeugniß in dir ablegt. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit - die Freiheit, welche auch die Pforte des Todes sprengt und ruft: „Tod, wo ist dein Stachel?“ Da habet ihr den Schlüssel zu jener geheimnißvollen Rede des Erlösers, Joh. ö., wenn er sagt: „ Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, daß die Todten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben.“ Ja, sie ist schon da, sie ist da, die Auferstehung von den Todten, denn wo der Geist Christi ist, da ist auch der Same des unvergänglichen Lebens.
„Euer Leib, sagt der Apostel, ist zwar noch todt um der Sünde willen, der Geist aber ist das Leben um der Gerechtigkeit willen. So nun der Geist deß, der Jesum von den Todten auferwecket hat, in euch wohnet, so wird auch derselbige, der Christum von den Todten auferwecket hat, eure sterblichen Leiber lebendig machen, um deßwillen, daß sein Geist in euch wohnet.“ Der Geist, den der Herr den Seinen schenkt, ist derselbe, durch welchen er den Tod überwunden hat, und derselbe überwindet ihn auch in uns und wird auch die gebrechliche Hütte neu schaffen in Herrlichkeit nach dem Leibe seiner Herrlichkeit. Darum steht denn nun auch erhaben wie kein Sterblicher der Heiland da und ruft: „Wer an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben, er ist durch den Tod zum Leben hindurchgedrungen!“ Ist es dir wohl schon so ergangen, Geliebter, daß du alle Freuden ausgekostet hast und hast keine gefunden, von der du sagen konntest, die würde mich auf Ewigkeiten sättigen? Mit Recht ist es dir so ergangen! Nur eine Gattung von Freuden gibt es, wo die Seele es inne wird: der Freude würde ich nimmer müde. Es ist dies die Freude und der Friede, den das Zeugniß der Kindschaft Gottes bringt. O ihr, die ihr noch ferne seid, glaubt es, es gibt, ja es gibt wahrhaftig im Leben des gläubigen Christen nicht bloß Minuten und Stunden, es gibt Tage und Monate und Jahre, die er sich könnte ausgedehnt denken in alle Ewigkeit und er würde nie müde werden; wo ein Reichthum und eine Fülle, ein Leben und eine Stille, eine Thätigkeit und eine tiefe Ruhe, und eine Festigkeit seinen ganzen Geist erfüllt, wovon Niemand weiß, denn der es erfahren hat. Und die Stimme der Christen bezeuget laut: „Wir haben geschmecket das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt.“ In dem, was sie bereits hier genießen, schmecken sie die zukünftige Welt. Und nun werdet ihr auch begreifen, warum in unserm Texte die Kinder Gottes auch die Erben Gottes heißen, und warum der Geist, der ihnen mitgetheilt wird, ein Unterpfand heißt des zukünftigen Erbes? Der Apostel sagt bald nachher von den Gläubigen, daß sie „die Erstlinge des Geistes“ empfangen haben - auf die Erstlinge der Erndte folgt eine volle Erndte. In diesen Erstlingen aber werden die Christen sich bewußt, welche volle Erndte ihnen aufbewahrt wird im Himmel, wenn sie schauen werden in Herrlichkeit, was sie hier glaubten in Schwachheit. So lange ihr nun aber durch euren Glauben noch nicht dahin gekommen seid, die Kräfte der zukünftigen Welt mitten in der Gebrechlichkeit und Sterblichkeit des irdischen Lebens zu schmecken, Christen, so lange ihr noch keine seligen Menschen geworden seid durch euren Glauben - sagt mir, wie ihr es euch erklärt, wenn euer Erlöser von den Gläubigen sagt, daß er durch den Tod bereits hindurchgedrungen und ins Leben übergegangen sei? Sagt mir, durchschauert euch nicht bei diesem Worte eine heilige Ahnung, daß der Erlöser mit dem Worte „Glaube“ doch noch einen ganz andern Begriff verbunden haben müsse, als jenen dürftigen, armen, den ihr bisher allein gekannt habt? So Viele ihrer aber unter uns sind in dieser versammelten christlichen Gemeinde, die ihr sagen könnet: ja wir haben erfahren die Kräfte der zukünftigen Welt, seitdem wir geglaubt haben; wir haben empfangen jene Erstlinge des Geistes, auf welche dereinst die ganze Erndte folgen soll; wir sind versiegelt worden durch den heiligen Geist der Verheißung als ein Angeld für unser Erbe im Himmel - für euch ist kein Zweifel mehr vorhanden, ob es auch einen Himmel gebe. O ihr Seligen, für euch ist auch kein Zweifel mehr, ob es für euch einen Himmel gebe. Wenn sie kommen wird für euch, die Stunde, wo eure Lieben mit Thränen an eurem Lager stehen werden, o ihr Seligen, da werdet ihr keines Trostes von Andern bedürfen, mächtig und klar wird er herausquellen aus der Tiefe eurer eigenen Brust, fest wird das Auge aufblicken und heiter, und euer letztes Wort wird seyn: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!“
Und nun sagt mir, ihr, die ihr dieses sicherste Unterpfand der Ewigkeit nicht kennet und empfangen habet, habt ihr es nicht, wie werdet ihr dann bestehen im letzten Kampfe? Luther sagt: „Wer von Christi Gnad' nichts weiß, führt diesen Reim:
„Ich lebe und weiß nicht wie lang,
Ich sterbe und weiß nicht wann,
Ich fahr' und weiß nicht wohin -
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.“
Ihr dagegen, die ihr nach Gottes Gnade meinet von euch bekennen zu können: Ich weiß, an wen ich glaube! warum wollet ihr noch traurig seyn und euch fürchten? Wer solches Unterpfand hat, sagt Luther abermal, der spricht:
„Ich leb' und weiß wohl wie lang,
Ich sterb' und weiß wohl, wie und wann,
(nämlich alle Tage und alle Stunden für die Welt)
Ich fahr' und weiß Gottlob wohin.
Mich wundert, daß ich noch traurig bin.
Und so sei dieses mein heutiges Wort an dem Feste der Todten mit diesen zweien Fragen an euch beendigt. Euch, die ihr kein Unterpfand in eurer Brust tragt und Keinen habt, der euch vertreten wird im letzten Gericht, frage ich: Freunde, wie möget ihr so fröhlich seyn? Euch aber, ihr Begnadigten, denen Gott die Erstlinge seines Geistes geschenkt durch Christum Jesum zu einem Unterpfande des ewigen Lebens und die ihr gläubig sprechen könnet: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ - euch frage ich: Wie möget ihr noch so oft so traurig seyn?
Gottes Geist aber wolle je reichlicher und reichlicher in uns alle herabströmen, und in ihm und durch ihn das selige Zeugniß der Kindschaft in Christo Jesu!