Tholuck, August - 1. Mose 3, 1-10 - „Der Ursprung der Sünde.“
Oeffnen wir die ersten Seiten des Buches der heiligen Schrift, so scheint es, daß wir gleichsam in unsere Kinderwelt zurückgeführt werden. Nicht nur führt uns ihr Inhalt in die Zeit der Kindheit des Menschengeschlechts zurück, sondern auch durch die ganze Form und Einkleidung ihrer Erzählungen versetzt sie uns in unsere Kindesjahre, wie ja denn auch alle jene Erzählungen des ersten Buchs Mosis zu allen Zeiten gerade zur Kinderwelt eine so verwandte und vertrauliche Sprache geredet haben, und mit solcher Liebe von ihr aufgefaßt, und im Herzen gehalten worden sind. Das Kindliche, was darin liegt, besteht doch aber eben nur in der Einkleidung; denn gehen wir auf die Gedanken ein, welche in diesen Erzählungen niedergelegt sind, so schließt sich uns eine Tiefe auf, durch welche der höchsten Aufgabe des menschlichen Denkens Genüge geleistet zu seyn scheint, und zwar gilt dieses namentlich von der Erzählung des Sündenfalles der ersten Aeltern. Auch bis auf die neueste Zeit herab hat die Weltweisheit in dieser Erzählung tiefe Aufschlüsse über das Wesen und die Geschichte der Sünde gefunden. Es erweist sich diese einfache Kindererzählung als eine ewige Geschichte, indem sie auf die mannichfaltigste Weise uns den Ursprung und die Folgen der Sünde anschaulich macht, wie sie zu allen Zeiten sich kund geben. Als eine solche ewige Geschichte wollen wir sie denn in unserer heutigen und in folgenden Stunden der Andacht betrachten; wir wollen betrachten den Ursprung und die Folgen aller Sünden im Bilde des Sündenfalles der Urältern. So vernehmet denn in Ehrfurcht jenen Abschnitt der heiligen Schrift, in dem diese ewige Geschichte niedergelegt ist, die wir aufgezeichnet finden 1 Mos. 3, 1-10. „Und die Schlange war listiger, denn alle Thiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allerlei Bäumen im Garten? Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir wissen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baums mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret es auch nicht an, daß ihr nicht sterbet. Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mit Nichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgethan, und werdet seyn wie Gott, und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib schauete an, daß von dem Baum gut zu essen wäre, und lieblich anzusehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und nahm von der Frucht, und aß, und gab ihrem Manne auch davon, und er aß. Da wurden ihrer beider Augen aufgethan, und wurden gewahr, daß sie nackend waren; und flochten Feigenblätter zusammen, und machten sich Schürzen. Und sie höreten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der Tag kühle geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesichte Gottes des Herrn, unter die Bäume im Garten. Und Gott der Herr rief Adam, und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörete deine Stimme im Garten, und fürchtete mich, denn ich bin nackend; darum versteckte ich mich.“
Es belehrt uns dieser Abschnitt über den Ursprung der Sünde, indem er denselben nachweist 1) in dem Zweifel an Gottes Gebot, 2) in der Verblendung über das Wesen der Sünde. Er lehrt uns ferner die natürlichen Folgen der Sünde: 1) der eigene Fall begehrt den Fall der Andern; 2) jedwede Gabe wird nunmehr zum Fallstrick, 3) jedwede Stimme Gottes wird zur Rachestimme, 4) von Furcht getrieben fleucht der Mensch vor Gott.
Den Ursprung der Sünde wollen wir nach Anleitung jenes Abschnittes in unserer heutigen Andacht erwägen, und erkennen denselben zuerst in dem Zweifel an Gottes Ge. bot, und zweitens: in der Verblendung über das Wesen der Sünde.
„Sollte wohl Gott gesagt haben?“ so beginnt die Stimme der versuchenden Schlange, und in diesem Zweifel an Gottes Gebot nimmt die Sünde zuerst ihren Ursprung. Die Sünde, meine Freunde, ist das, was zerreißt, was sondert; sie zerreißt zuerst das Band des Menschen mit sich selbst, das Band seiner geistigen Kräfte, welche überall in Einheit winken sollen; sie zerreißt das Band mit Gott, sie zerreißt das Band mit seinen Brüdern. Ich sage, sie zerreißt zuerst das Band, welches die geistigen Kräfte des Menschen zusammenhält! denn sie hebt damit an, den Willen von der Erkenntniß loszureißen. Steht das, was wir sollen, steht unsere Pflicht in großen, deutlichen Buchstaben als göttliches Gebot vor unseren Augen, und so lange es so vor unseren Augen steht, ist es unmöglich, daß der Mensch im Angesicht dieses Gebots die Sünde begehe. Windet sich nun die Schlange der Lust herauf aus den innern Tiefen der Seele, verlangt sie danach, überzugehen in die That; so ist das Erste, was sie thun muß, den heiligen Buchstaben Gottes mit einem Nebel zu umziehen. Es muß das Band zerrissen werden, das den Willen an die Erkenntniß knüpft, Gottes Gebot muß zweifelhaft gemacht werden, und so ist denn der erste Same aller Sünde die Schlangenfrage: „Sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ Und wie schlau es nun die Versucherin ansängt, die Wurzelfasern zu zerreißen, mit denen der heilige Baum der Erkenntniß des göttlichen Willens tief in den Boden der menschlichen Brust gepflanzt ist! Sie wird es nimmermehr wagen, gleich am Anfang das ganze göttliche Gesetz anzutasten, und etwa zweifelhaft zu machen, ob auch Gott ein Gesetz gegeben habe; auch das einzelne Gebot Gottes wird sie nicht schlechthin wankend machen. Sie wird nicht sagen: „Sollte Gott wohl überhaupt zu den Menschen, seinen Knechten, geredet, und ihnen ein Gebot gegeben haben?!“ Sie wird zu dem Selbstmörder, der im Begriff steht, den Mordstahl in seine Brust zu stoßen, auch nicht sagen: „Sollte Gott überhaupt gesagt haben: Du sollst nicht tödten?!“ O nein! „Sollte er auch dir es gesagt haben?!“ wird die schlaue Schlange sprechen, „dir, dem er mit eigner Hand alle Pforten in diesem Leben verschlossen hat? Sollte er auch für diese Stunde der Prüfung es gesagt haben, wo entweder die Verzweiflung der Gewissensangst von innen dich schüttelt, oder der Hunger, die Blöße und baare Noth von außen unwiderstehlich auf dich einstürmt? Er mag es gesagt haben für alle anderen Menschen, für alle anderen Tage des Lebens; nur nicht für dich, dem alle anderen Pforten verschlossen sind, nur nicht für diesen Tag, über dem der letzte Sonnenstrahl verlischt.“ Das ist die Schlangenstimme! Erkennt ihr sie wieder, die ihr sie in eurer Kammer einst vernommen habt, als der baare Mangel von allen Seiten euch anstarrte, eure Kinder nach Brot riefen, und ihr hattet keines? oder als die Verzweiflung über ein rettungslos verwüstetes Leben euch schüttelte? So fängt die Schlangenstimme an, aber was am Ende liegt, ist uns nicht verborgen. Du bist schwach, und fällst heute, und in jedem Falle von heute liegt der Same zum Falle von morgen verborgen. Erst, legt sich der Nebel der Täuschung um die einzelnen Buchstaben des Gesetzes Gottes, bald um ganze Zeilen, bald wird es ganz und gar dem Auge verhüllt. Macht nur den Anfang damit, ein einziges klar und deutlich erkanntes göttliches Gebot euch aus dem Sinne reden zu lassen, macht nur den Anfang damit, in dem einen und dem andern Falle über die deutliche Stimme der Pflicht zu grübeln, um sie euch hinwegzudisputiren, und ihr werdet inne werden, was auf dieser Schlangentäuschung für ein Fluch liegt; wie der Mensch dabei den offnen Sinn für das Rechte und Heilige immer mehr verliert, und am Ende ganz aufhört, ein vom Himmel gegebenes Gesetz zur Leuchte seiner Füße zu machen.
Und eben, weil die Schlangenstimme der blinden Lust dem Menschen so leicht die Gottesstimme hinwegdisputirt, so lange dieselbe nur aus seinem Innern hervortönt, weil sich dann so leicht so manche andere Stimmen des Innern, die nicht aus Gott sind, mit dieser vermischen, so ist das Gesetz Gottes zuerst von dem Finger der Allmacht auf Stein geschrieben worden auf Sinai, und ist hernach in Fleisch und Blut verwandelt erschienen in Christo Jesu! denn - Jesus Christus in seiner ganzen heiligen Persönlichkeit ist das Gewissen der Menschheit. Darum, wollt ihr euch sicher stellen vor jenem Betruge der Sünde, von dem die Heilige Schrift Hebr. 3. spricht, so muß es dahin kommen, daß auch ihr mit dem Psalmisten sagen möget: „Ich betrachte meine Wege, und kehre meine Füße zu deinen Zeugnissen, das Gesetz deines Mundes ist mir lieber, denn viel tausend Stück Gold und Silber, die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig; unterweise mich, so lebe ich.“ Wie haben jene Männer des Alten Bundes Tag und Nacht sich hineingelebt in die Gesetze ihres Gottes, wenn ihr den einen vernehmt, wie er singt: „Wohl dem, der Lust zum Gesetz des Herrn hat, und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht,“ und einen andern: „Deine Rechte sind mein Lied in dem Hause meiner Wallfahrt. Herr, ich denke des Nachts an deinen Namen, und halte dein Gesetz.“ Wohl mögen sie von einem solchen, der auf das göttliche Gesetz immerdar sein Auge richtet, aussprechen, daß er „wie ein Baum gepflanzet an Wasserbüchen ist, die Gottlosen aber wie Spreu, die der Wind zerstreuet;“ wohl mag ein anderer singen: „Ich liebe dein Gesetz, und hasse die Flattergeister;“ denn in der That, wie Spreu sind jene Flattergeister, die kein ewiges und unvergängliches Gotteswort zur Leuchte ihrer Füße haben. O meine Freunde, immer im Gedächtniß zu behalten, was wir sind, und was Gott von uns fordert, es ist so schwer, daß wir nothwendig mit jedem Tage auf's Neue in dem Worte des göttlichen Gesetzes uns zu betrachten haben. Wie außerordentlich treffend es doch ist, wenn dort Jakobus den Menschen, der im göttlichen Gesetze sich bespiegelt hat, mit dem vergleicht, „welcher sein eigenes Antlitz im Spiegel gesehen, und davon geht, und sofort es wieder vergißt.“ Wie Andere aussehen, behalten wir allewege besser, als wie wir selbst aussehen. Ist nun der erste Ursprung der Sünde in jenem: „Sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ zu suchen, so ist auch der erste und nächste Schutz gegen dieselbe, durch die tägliche Betrachtung des Gotteswortes uns jenen tiefen und unläugbaren Eindruck von dem zu verschaffen, was Gott von uns fordert.
Wir haben zweitens den Ursprung der Sünde erkannt in der Verblendung über ihr Wesen. Die Schlangenstimme der Lust verblendet uns über das Wesen der Sünde. Das Gesetz Gottes ist der Ausfluß seiner Liebe, die Stimme der Lust stellt es uns dar als das Wert seiner Mißgunst; die Unschuld ist die wahre Weisheit, die Stimme der Lust stellt sie dar als die Thorheit; die Sünde ist das, was Gott uns unähnlich macht: die Stimme der Lust stellt die Sünde dar als das, wodurch wir Gott ähnlich werden. - Lasset zunächst uns zusehen, wie die Schlange das Gift in die unschuldigen Seelen der ersten Eltern träufelt. Damals knüpfte ein kindliches Band der Liebe den Menschen an seinen Gott, und Gottes Gebot war sein Gut, sein Leben. Die Stimme des Verführers wirft den Hauch des Mißtrauens auf den reinen Spiegel. „Mit Nichten - so ruft sie - werdet ihr des Todes sterben, sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset, werden eure Augen aufgethan!“ O des Jammers, wenn erst die Kindesseele anfängt, dem Vater zu mißtrauen, und seine Liebe für Mißgunst hält, und verflucht, wer Mißtrauen säet zwischen der Kindesseele und deren Vater! Das war die erste Lüge der Schlange. - In seiner Unschuld wußte der Mensch von keinem andern Reiche, als dem des Guten, und diese Unschuld war Weisheit. „Deine Augen sind verschlossen, ruft ihm die Schlange zu, siehe auf das weite, schrankenlose Land, das der Ungehorsam dir öffnet.“ O des Jammers, wenn erst der Mensch seiner Unschuld im Bösen sich zu schämen ansängt, und verflucht, wer der kindlichen Unschuld als Thorheit spottet! - In seiner Unschuld war der Mensch Gott ähnlich, denn er hatte kein Wollen, als das seines Gottes. Wie magst du ihm ähnlich seyn, spricht die Schlange, du bist ja nicht frei! Hat er nicht an seinen Willen dich gebunden, wie den Sklaven an die Kette? - Ein kindliches Band des Gehorsams band des Menschen Willen an den Willen seines Vaters, und er hatte kein Auge für einen andern Willen, als den seines Vaters. „Dein Auge ist gebunden, ruft die Schlangenstimme ihm zu, blicke hinein in jenes Land der fessellosen Freiheit, welches der Ungehorsam dir öffnet!“ Keinen andern Willen hatte der unschuldige Mensch, als den seines Gottes, und in dem Willen seines Gottes lebend, war er ihm ähnlich; die Pulse des göttlichen Lebens regierten allein in ihm. Willst du ewig Knecht bleiben? ruft die Stimme des Versuchers ihm zu, auf, wage es, einen andern Willen zu haben, als dein Schöpfer! Wage es, zu wollen, was du willst, und du wirst frei seyn, wie er, der wollen kann, was er will; du wirst Gott gleich seyn! - Und was vor Allem diese Stimme des Versuchers gefährlich macht, das ist der Keim der Wahrheit, der in der Lüge lag. Es ist wahr, der Mensch in jenem Kindeszustande der Unschuld besaß die wahre Weisheit und die wahre Freiheit noch nicht. Noth war ja sein eigenes Wissen und Wollen in das seines Gottes verschlungen; noch hatte er nicht zu seinem eigenen Gesetze gemacht das, was Gott als das seinige ihm gegeben. Dahin sollte er kommen, wo wir den zweiten Urheber der Menschheit sehen, wenn er spricht: „Das ist meine Speise, daß ich den Willen dessen thue, der mich gesandt hat!“ Sich von Gott unterscheidend, sollte er für Gott sich „ entscheiden; aber die Lüge der Schlange war es, die ihm vorspiegelte, daß, um von Gott sich zu unterscheiden, er sich von ihm scheiden müsse, daß, um einen eigenen Willen zu haben, er einen andern Willen haben müsse, als Gott. So hat ihn die Schlange über das Wesen der Sünde verblendet, und was sie bei dem unschuldigen Menschen damals versucht hat, das übt sie fort und fort bei dem mit der Schuld behafteten. Das Gesetz Gottes, das ein Ausfluß ist seiner Liebe, stellt sie in den Stunden der Versuchung zunächst als das Werk seiner Mißgunst dar. Wir haben wohl Alle die Erfahrung davon gemacht, daß Gottes Gesetz es gut mit uns meint, daß es das Leben uns giebt, - aber auch Alle werden wir die Erfahrung solcher Stunden gemacht haben, wo das Gebot Gottes uns wie ein Feind vorkommen will, der unsere schönste Freude zerstört, der unsere Freiheit in Fesseln schlagen will. Wenn der Widersacher, der unser ganzes Leben vergällte, auch auf die letzte Freude unseres Lebens den Fuß der Vernichtung setzt, und laut der Schrei nach Rache aus dem zertretenen Herzen dringen will, und Gottes Gesetz über uns ruft: Herz, liebe! - wem hat diese Stimme nicht wie die Stimme eines Feindes gedäucht? Wenn langjähriges Streben uns in den Besitz eines ersehnten Gutes brachte, die Gattin, das Kind, den Freund uns geschenkt, in dem nun die Seele ausruhen und die Genüge haben wollte, und gerade in dem Augenblick die himmlische Hand ihn wegriß, und zugleich die Stimme vom Himmel erscholl: Herz, glaube! - wem hat es nicht wie der Hohn eines Feindes gedäucht? Wenn nach langem, vergeblichem Harren auf dem Siechbette der letzte Versuch des Arztes scheitert, und die Stimme vom Himmel ruft: Herz, hoffe! - wem hat es nicht wie eine höhnende Feindesstimme gedäucht? Wenn in glücklicher Stunde der Genuß seine Pforten weit öffnet, und die Flamme der Lust hochauflodert, und vom Himmel die Stimme rief: Herz, entsage! - wem hat es nicht eine Feindesstimme gedäucht? - So weckt bei uns Allen die Lust das Mißtrauen gegen Gott und gegen sein heiliges Gebot, und verblendet uns über das Wesen der Sünde, und das ist ihre erste Lüge.
Und die Weisheit der Unschuld stellt sich uns Allen als Thorheit dar in der Stunde der Versuchung. Wohl giebt es eine Seligkeit der Gottesfürchtigen, einen Frieden, der höher ist, als alle Vernunft, und wer dahin gekommen ist, den zu erfahren, weiß es, daß die Unschuld keine Thorheit ist. Aber nicht sobald erfährt man ihn, und nicht in allen Stunden wird er ungetrübt erfahren. Wo dieser Friede ist, da giebt er dem Menschen das Siegel, daß die Unschuld und Frömmigkeit die wahre Weisheit ist. Da kann der, welcher um seiner Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit willen sich zu den Armen und Verachteten der Erde rechnen lassen muß, wahrhaft frohlocken dem Uebermuthe der Weltkinder gegenüber, er weiß: „Hier ist das Land des Wesens und der Wahrheit!“ Aber wenn die Stunden kommen, wo dieses innere Siegel sich verdunkelt, o ob sie sich nicht da zuweilen auch bei dem Knechte Gottes heraufwindet aus den Tiefen der Brust, die Schlangenstimme, die den Menschen anredet: „Thor, und um jener seligen Ewigkeit willen, die nicht in deiner Macht ist, willst du die vergnügliche Zeit aufopfern, die in deiner Macht steht?“ O Jüngling, der du aus deines Vaters Hause auszogst mit dem frommen Spruche zum Geleite: „Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich wandeln? wenn er sich hält nach deinen Worten!“ - wenn du in die Kreise hineingetreten bist, wo die Stimme erscholl: „Unsere Zeit ist, wie ein Schatten dahinfährt, und wenn wir weg sind, ist kein Wiederkehren; wohl her nun, und lasset uns wohlleben, weil es da ist, und der Creatur fleißig brauchen, weil wir jung sind!“ - und das Wort Gottes dich die einsame enge Straße ziehen hieß, - ob die Schlangenstimme sich nicht auch in deinem Herzen manchmal heraufgewunden hat, und hat den Weg heiliger Unschuld den Weg der Thorheit genannt? Und ihr alten Kämpfer Gottes, die ihr, das Wort eures Herrn im Auge, nicht rechts und nicht links gesehen habt auf eurem schmalen Pfade, ob nicht auch in eurem Leben die Stunden gekommen sind, wo, wenn der Trost des Heiligen Geistes von euch genommen wurde, und gegenüber den fröhlichen Weltkindern euer Pfad euch doch gar zu verlassen und freudenleer vorkam, ihr mit dem Propheten ausgerufen habt: „Ich dachte, ich arbeitete vergeblich, und verschwendete meine Kräfte umsonst.“ - Wer noch nicht einen Ernst gemacht hat mit dem Ausspruche des Herrn von dem schmalen Wege und der engen Pforte, wo man auch das Liebste Preis geben muß, was wider Gott ist, - der wird, was ich sage, nicht verstehen. Wer aber weiß, was es heißt, wenn die Schrift von einem Kämpfen bis auf's Blut spricht, der wird wohl einstimmen, wenn ich ausspreche, daß es auch im Leben des Frömmsten noch Stunden giebt, wo die Schlange ihn bereden will, daß alle Unschuld Thorheit sei, und die Weisheit auf dem Wege der Sünde liege, und das ist die zweite Lüge der Schlange.
Es kommen endlich auch bei uns Allen die Stunden, wo sie uns bereden will, daß erst die Sünde uns Gott ähnlich mache, weil da die wahre Freiheit sei, und das ist ihre dritte Lüge. Ja, es können die Stunden kommen, wo dem Menschen die ganze Gottesfurcht und das Leben nach Gottes Geboten wie eine unwürdige Knechtschaft erscheint. Das Leben ohne Gottes Gesetz hat nämlich allerdings einen Schein der Freiheit und der Frische. Habt ihr nicht manchmal ergraute Sündenknechte, die ein langes Leben ohne Gott in der Welt leben, euch entgegentreten sehen mit dem Anschein einer inneren Genüge und Frische, die zwar von den Kindern der Welt oft bewundert wird, einen zartfühlenden Menschen aber sofort mit Entsetzen erfüllt? Auch der Apostel Paulus weiß hievon. Er sagt im 7ten Kapitel an die Römer: „Einst lebte ich ohne Gesetz, als aber das Gebot kam, ward die Sünde lebendig, und ich starb,“ womit er sagen will, daß er die rechte Kraft und Lebensfrische verlor. Und andrerseits, wie mancher Fromme steht da wie ein geknicktes und verkommenes Bäumlein, „ohne Gestalt noch Schöne.“ Seht, da setzt nun die Schlange ihren Zahn ein. Kann das der Zustand der Freiheit, der Gottähnlichkeit seyn, wo dem Menschen die Frische, der fröhliche Muth geraubt wird? - so spricht sie. Ist jener Zustand nicht vielmehr da, wo ohne alles Gesetz der Mensch wollen kann, was er will, gleichwie der Wille göttlicher Allmacht von keinem Gesetze beschränkt wird? Aber, Freunde, wie sehr auch jene Freiheit ohne Gesetz ein Leben scheinen mag, gerade sie ist der Tod. Was ist Verwesung anders, als der Zustand, wo alle Glieder des Leibes sich voneinander loslösen? Eine solche Verwesung ist das Leben ohne Gesetz Gottes, ohne Einheit, ohne Band der Kräfte. Stellet es euch lebhaft in seiner Vollendung vor: ein Denken ohne ein ewiges Gesetz der Wahrheit und des Zusammenhanges, und ein Wollen ohne eine alles beherrschende Richtschnur, es ist das Leben des sich auflösenden Leichnams. Nein, Freunde, das Leben ohne Gesetz ist die wahre Freiheit nicht, ist auch nicht die Aehnlichkeit mit Gott, denn hat nicht auch Gott ein ewiges Gesetz seines Wilkens, das Gesetz der Weisheit und Liebe, das er freilich nicht von außen, von Anderen empfangen, sondern sich selbst gegeben hat? Sollen wir also ihm ähnlich, sollen wir wahrhaft frei seyn, so muß auch unser Wollen ein ewiges Gesetz haben, das Gesetz der Weisheit und der Liebe. Wie aber der Höchste dieses Gesetz nicht von außen empfangen hat, wie er es nicht erfüllt als ein fremdes - denn sonst wäre er nicht frei - sondern als das Gesetz, das er sich selbst gesetzt hat, als sein wahres Wesen, so soll es auch mit dem durch den Sohn Gottes frei gemachten Christen dahin kommen, daß jenes göttliche Gesetz seines Wollens ihm nicht mehr ein fremdes sei, daß er sein wahres, eigenstes Wesen darin erkenne, und dann wird er frei seyn, wie der Sohn Gottes, der einerseits sagte: „Der Sohn kann nichts von ihm selber thun, denn was er stehet den Vater thun, denn was derselbige thut, das thut gleich auch der Sohn“ (Joh. 5, 19.), aber andrerseits auch sagt: „Daß ich meines Vaters Willen thue, ist meine Speise,“ d. h. das ist die Erfüllung meines eigensten Begehrens. Wo der Wille Gottes vom Menschen vollbracht wird als Gottes Wille, aber noch nicht als sein eigener, da lebt der Mensch unter dem Ge. sehe Gottes, und das macht siech, das bricht die Kräfte; wo er aber vollbracht wird zugleich als sein eigenes Gesetz, da lebt er mit dem Gesetze Gottes, und da ist Leben und Seligkeit.
Anfangen müssen wir nun aber überall mit dem Gehorsam unter das Gesetz Gottes, müssen uns fürchten vor dem Gesetzgeber und siech werden, damit wir das, eigene Leben verlieren. So wird uns das Gesetz Gottes ein „Zuchtmeister auf Christum,“ es erzieht uns, bis wir uns zum Erlöser hinflüchten, in dessen Gemeinschaft lernen wir dann auch gemeinschaftliche Sache machen mit dem Gesetze Gottes, in dessen Gemeinschaft leben wir mit dem Gesetze Gottes, es wird unsere tägliche Speise, und wo das ist, da ist Leben und Seligkeit.
Und so lasset uns denn, meine Brüder, allesammt fliehen den Betrug der Sünde, der das Wort Gottes uns zweifelhaft machen will, und über das Wesen der Sünde uns verblenden. Lasset im Gesetze Gottes uns das Werk seiner Liebe anerkennen, und in dem Gehorsam gegen dieses Gesetz die wahre Weisheit und die wahre Freiheit. Will uns auch dieser Weg manchmal thöricht dünken und eine traurige Knechtschaft, wir wissen doch, was am Ende liegt, Leben und Seligkeit.