Tholuck, August - Das Tröstliche, was in dem Worte des Herrn liegt: Welchen viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen ....
Unsere letzte Betrachtung an dem Fest, welches der Erinnerung unserer Toten gewidmet war, hat uns gezeigt, dass ein offenbares Leben mit Gott in der Ewigkeit nur dann stattfinden kann, wenn es sich anschließt an ein in Gott verborgenes Leben in der Zeit. Ob sie Alle, über welche ihr als Entschlafene weint, hier in der Zeit den Anfang gemacht hatten eines mit Christo in Gott verborgenen Lebens, darüber konnte der Verkündiger des Evangeliums euch keine Gewissheit geben; und doch denke ich mir, ist Mancher unter euch, welcher, wenn er in dieser Hinsicht auf die Entschlafenen mit Zweifel hinzublicken Ursache hat, zu dem Prediger des göttlichen Wortes aufschaut, und ihn fragt: Hast du denn nicht auch einen Trost für mich? Kannst du keine von den unzähligen Tränen trocknen oder wenigstens lindern, welche den Hingegangenen geweint werden, über deren Glauben wir keine Gewissheit haben, oder wenn eine, nur eine schmerz- und peinvolle? Die Rücksicht auf euch, Geliebte, die ihr also fragt, ist es, welche mich in der Wahl meines heutigen Textes bestimmt hat, und welche meinen heutigen Vortrag an den zuletzt geschehenen anknüpft. In wie weit das göttliche Wort auch euch einen Trost darbiete, das, meine Lieben, will ich euch aussprechen, und so weit es dem Verkündiger des göttlichen Wortes zusteht, gern eure Tränen lindern. Ich wähle einen Ausspruch aus dem Mund des Herrn, welcher in dieser Hinsicht vornehmlich trostreich ist, der aber auch noch in andern Rücksichten einen eben so erweckenden, als trostreichen Inhalt hat.
Vernehmt in Ehrfurcht des Herrn Wort, welches Lukas 12,48. aufgezeichnet steht: „Welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern.“
Wunder nehmen mag es euch, wenn ich diesen Ausspruch als ein Trostwort euch vorführe. Hat er nicht vielmehr das Ansehen eines Schreckwortes? Spricht er nicht von strengem Maß göttlicher Gerechtigkeit? Ja, Freunde, aber gleichwie das Evangelium der Gnade, zeigt er ein doppeltes Antlitz. Jenes Evangelium, das ein Evangelium des Friedens heißt, heißt es nicht auch ein Geruch des Todes und des Lebens? - ein Fels zum Aufstehen, aber auch zum Fallen? So zeigt ein und dasselbe göttliche Wort oftmals ein verschiedenes Antlitz - trostreich für den Hungrigen, schrecklich für den Satten, schrecklich für den Reichen und Hohen, trostreich für den Armen und Niedrigen. Mit schrecklicher und niederbeugender Gewalt tritt unser Spruch auf gegen Alles, was hoch und groß ist unter den Menschen. Er zeigt ihnen, dass also hoch die Gaben sind, die sie empfangen haben, seien es geistliche oder leibliche, also hoch wird auch ihr Gericht sein. Mit dem Maß, damit man ihnen zugemessen hat ihre Gaben, wird man ihnen zumessen ihre Gerichte. Wenn ich im Licht dieses Ausspruchs: „Welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, und welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern,“ auf alle Könige und Großen der Erde, auf alle in Amt und Würden hochgestellte Menschen blicke, wie bin ich froh, dass ich kein Großer und Hoher bin, denn - an jeden himmelhohen Felsen grenzt ein tiefer Abgrund. In dieses Antlitz unseres Spruches wollen wir aber heute nicht sehen, lasst uns dasjenige betrachten, welches sanfter Tröstung voll die Natanaelsseelen d.i. die Aufrichtigen anblickt, unter denen, die da glauben, wie unter denen, die da nicht glauben. Ist es wahr, dass, „welchem viel gegeben ist, bei dem man auch viel suchen wird, und welchem viel befohlen ist, von dem man auch viel fordern wird,“ so ist es ja auch wahr, dass „welchem wenig gegeben ist, bei dem wird man wenig suchen, und welchem wenig befohlen ist, von dem wird man wenig fordern.“ Von dieser Seite aus wollen wir heute den Ausspruch betrachten, und zwar zu einem zwiefachen Troste. 1) zu einem Troste für die Natanaelsseelen, die im Glauben stehen; 2) zu einem Troste in Betreff der Natanaelsseelen, die den Glauben nicht kennen.
So lasst uns denn also sehen zuerst, was, so gefasst, dieser Spruch des Herrn für Trost darbiete den Natanaelsseelen, welche im Glauben stehen. Oftmals habe ich euch ans Herz gelegt, dass, wie der Mensch alle Morgen sein Antlitz mit reinem Wasser wäscht, also an jedem Morgen auch die Christenseele ihr geistliches Auge sich rein waschen muss, und das geschieht durch einen Blick in das Wort Gottes. Da findet ihr Spiegel mancherlei Art, in denen eure Missgestalt euch kund wird; ihr findet solche Spiegel in allen Geboten Gottes, der da gerufen hat: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.“ Ihr findet solche Spiegel aber auch in den Bildern der Gottesmenschen, welche die Schrift euch vorzeichnet. Ihr findet den reinsten, den fleckenlosesten Spiegel in der Erscheinung des heiligen und unbefleckten Lammes Gottes. Dieses Spiegels will ich aber nicht einmal gedenken, wenn ihr auch nur in denen euch spiegelt, die aus sündlichem Samen gezeugt sind, gleichwie ihr, aber neugeboren, nicht von dem Geblüt, noch von dem Willen des Fleisches, sondern von Gott. Der fromme Christ tritt vor den Spiegel hin, welchen das Leben eines Paulus vor ihm entfaltet. Da tritt dir ein Baum entgegen, dem man es ansieht, dass er durch den Glauben nicht in der sichtbaren Welt wurzelt, sondern in der unsichtbaren. Wie hat für Paulus die unsichtbare Welt Wahrheit gehabt! Gewisser als sein eigenes Leben ist es ihm gewesen, dass es einen Heiland gibt, der gegenwärtig ist bei den Seinen bis an der Welt Ende. Hat Stephanus einmal den Himmel offen gesehen, und des Menschensohn zur Rechten Gottes stehen, so ist für Paulus alle Tage der Himmel offen. Obgleich er sagt: „wir wandeln nicht im Schauen, sondern im Glauben,“ so ist doch auch schon sein Glaube ein Schauen. Er handelt, er wandelt allenthalben vor Gott und Christo und den heiligen Engeln, als gegenwärtigen Zuschauern. Da tritt uns ein Baum entgegen, dessen Stamm die Liebe ist. Wie hat er Christum geliebt! Wehe mir, ruft er, wenn ich das Evangelium nicht verkünde; „Eine Notwendigkeit ist mir auferlegt - die Liebe Christi dringt uns also.“ Wie hat er die Brüder geliebt! Was jeder von uns für sie vielleicht einmal oder keinmal in seinem Leben leidet, das ist sein tägliches Brot gewesen: „Ich habe mehr gearbeitet, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin öfters gefangen, oft in Todesnöten gewesen; von den Juden habe ich fünfmal empfangen vierzig Schläge weniger eins; ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch gelitten; Tag und Nacht habe ich zugebracht in den Tiefen des Meeres; ich habe oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße“ - und warum das Alles? „Die Liebe Christi dringt uns also,“ die Liebe Christi und das Heil der Bruderseelen. Und wenn wir nun die innerlichen Früchte dieses Stammes anschauen, da hängt Gerechtigkeit, da Weisheit, da Sanftmut, da Feuereifer, und wenn wir auf die Früchte sehen in der Welt? „Von Jerusalem an, sagt er uns selbst, umher bis nach Illyrien ist Alles erfüllt mit dem Evangelio Christi.“ In der Stadt, wo Aphrodite, die Göttin fleischlicher Lust, ihren Zepter führte, in Korinth, pflanzt Christus seine Fahne auf; in der Hauptstadt der Welt, wo ein Nero schnaubt, gehen Lämmer Christi zahlreich auf grüner Weide. Die Starken werden schwach, die Schwachen werden stark, das Böse wird mit Gutem überwunden.
Wie wird dir zu Mute, mein Bruder, meine Schwester, wenn du in dem Spiegel dich besiehst? Ein aufrichtiger Mann in der Zeit, wo das Wort Gottes noch dem Volk verschlossen war, ergriff es einst, wie uns berichtet wird, und schlägt die Bergpredigt Christi auf, und liest und ruft: „Ist das Christentum, wo gibt es Christen auf Erden?!“ Ich meine, wenn dieser und jener an eines Paulus Bild sich bespiegelt, so darf's uns nicht wundern, wenn er riefe: „Ist das ein Christ, darf ich mit ihm zusammen den Christennamen tragen?“ Christsein und Christsein - ach, es ist ein großer Unterschied. Zu solcher heilsamen Beschauung, meine Andächtigen, soll nun jedweder Christenmensch auf den Wandel der Glaubenszeugen hinblicken, wie schon der Brief an die Hebräer ruft: „Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, welcher Ende schaut an, und folgt ihrem Glauben nach;“ und wie Paulus ruft: „seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi Nachfolger bin.“ Ob nun aber auch Tausende unter den Christen zu solcher heilsamen Beschämung in jene Spiegel nicht blicken, ob Tausende das Wort Pauli vergessen: „Wer sich selbst richtet, der wird nicht gerichtet“, so gibt es doch auch Natanaelsseelen, welche, eingedenk solcher ernster Worte des Herrn, wie, „dass die Menschen Rechenschaft geben müssen am Jüngsten Gericht selbst von jedem unnützen Wort, das sie geredet haben,“ nicht bloß zu ihrer Beschämung hineinblicken, sondern zur Verzweiflung, und an diese wendet sich meine Rede, um mit dem Trost sie zu erquicken, dass „wem da viel gegeben ist, bei dem man viel suchen wird, wem aber wenig gegeben ist, bei dem man wenig suchen wird.“ -
Während also Tausende unter denen, die da Christen heißen, solcher heilsamen Scham ihr Leben lang aus dem Wege gehen, gibt es auch unter den Gläubigen Natanaelsseelen, in denen solche Betrachtung nicht bloß eine heilsame Scham, sondern Kleinmut und Verzagung hervorruft, und euch nun, ihr nicht bloß beschämten, sondern zerknickten Seelen, will ich aufrichten mit des Herrn Wort, dass, wie bei dem, welchem viel gegeben ist, auch viel wird gesucht werden, bei dem, welchem wenig gegeben ist, auch nur wird gesucht werden, dass er in dem Wenigen treu erfunden werde. Wohl geschieht es nämlich zuvörderst, dass manche gläubige Natanaelsseele, wenn sie ihren beschränkten und großenteils nur vergänglichen Verhältnissen zugewandten Wirkungskreis mit dem erhabenen eines Apostels vergleicht, der es vom Morgen bis zum Abend nur mit Dingen der Ewigkeit zu tun hat, kleinmütig wird, und daran verzagt, ob auch sie als Dienerin Gottes sich betrachten dürfe. Wohl geschieht es, dass manche Natanaelsseelen sanfterer und stillerer Natur, oder geringerer geistiger Begabung, deren geistliches Leben allein nach innen gelebt wird, wenn sie jenem Flammengeist, bei dem jeder Atemzug eine Predigt ist, sich gegenüberstellen, kleinmütig werden, oder verzagen. Wohl geschieht es endlich, dass manche Natanaelsseele, wenn sie in ihrem Leben nach einem solchen Wendepunkt sucht, wie in des Apostels Leben, wo auf einmal mitten aus dunkler Nacht die Sonne aufgeht ohne Morgendämmerung, groß und hell, um nie mehr sich zu verdunkeln, und wenn sie einen solchen Wendepunkt nicht findet, sondern da nur ein mattes Tageslicht gewahrt, das langsam und mühsam aus der Morgendämmerung sich herausgerungen, und noch manchmal von ihr verschlungen zu werden scheint, wohl geschieht es, sage ich, dass eine solche Natanaelsseele, gegenüber dem Mann, der, nachdem einmal die Schuppen von seinen Augen gefallen waren, für immer rufen konnte: „das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu worden“, kleinmütig wird, und verzagen will. Für euch Alle, ihr edlen Seelen, ist nun jenes Wort des Herrn gesprochen. Was zuerst das Amt eines Paulus betrifft, so wisst ihr ja wohl, was der Apostel selbst sagt: „Gleicherweise, als wir in Einem Leib viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäfte haben, also sind wir viele ein Leib in Christo“, und wiederum: „In einem großen Haus - und damit meint er die Kirche Christi - sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene, etliche zu Ehren, etliche zu Unehren,“ das will sagen: etliche zu hohem, geistlichem Beruf, etliche zu beschranktem, irdischem Dienst. Ihr Lieben, wir sind alle Bausteine in der Hand des großen Baumeisters, und wo er uns einfügen will in seinen großen, herrlichen Tempelbau, mit dem Ort müssen wir zufrieden sein, und brauchen darüber uns keine Sorge zu machen, dass wir an keinem andern Ort stehen. Wir lesen nirgends vom Hauptmann Kornelius, dass er aufgehört habe, Hauptmann zu bleiben, oder meint ihr, dass jener Kerkermeister in Philippi nicht nach wie vor Kerkermeister geblieben sei? Bist du nur ein irdenes oder hölzernes Gefäß im großen Haus Gottes - darüber verzage nicht: „Es wird von einem Haushalter nichts gefordert, als dass er treu erfunden werde.“ „Wem viel befohlen ist, von dem wird viel gefordert werden, wem aber wenig befohlen ist, von dem wird nur gefordert werden, dass er im Kleinen treu erfunden werde.“ -, Gleichermaßen verhält es sich nun auch mit den Gaben und Gnaden, gleichermaßen mit der Lebensführung der verschiedenen Glieder der Kirche. Je nachdem das Amt ist, das der Herr einem Jeglichen angewiesen, danach auch die Gaben und Gnaden. Es ist auch da keine gleiche Verteilung. Zu wem von uns hat der Herr gesagt: „Du bist ein auserwähltes Rüstzeug, dass du meinen Namen trägst vor die Könige, die Heiden und die Kinder Israel“? Und bedarf solches Amt nicht ganz anderer Gaben und Gnaden als die unsrigen? Wem von uns ist daher geschehen, wie Paulus sagt, dass er „wäre verzückt worden in den dritten Himmel, und hätte unaussprechliche Worte gehört, welche kein Mensch sagen kann?“ Sind nun Gottes Gaben und Gnaden so verschieden ausgeteilt, wahrlich, so werden es auch seine Gerichte sein, „welchem viel gegeben ist, bei dem wird viel gesucht werden.“ So geht er denn endlich auch seinen eigenen Weg mit einem Jeglichen in der Berufung zu seinem Reich. Nach einem Paulus streckt er plötzlich vom Himmel her die Hände, einen Petrus und Johannes erzieht er langsam zu des Täufers Füßen. Wie sollte nun nicht auch diese Verschiedenheit seiner Führung ein verschiedenes Gericht mit sich bringen? Wahrlich, meine Brüder, wir werden es sehen, wie es uns der Heiland selbst versichert, dass „unser Richter der harte Herr nicht ist, der da schneiden will, wo er nicht gesät hat.“ Ich habe nun aber gesagt, dass solche Tröstung aus dem Spruche für Natanaelsseelen hervorgeht, das sind die Seelen ohne Falsch, die ernstlich darüber nachdenken, und mit Treue und Dankbarkeit sich bewusst werden, welches Amt und welche Gnaden und Gaben ihnen wirklich verliehen sind, um danach mit Treue Haus zu halten. O welch ein blühender Gottesgarten, o welch ein Schauspiel für Engel unsere Gemeinden sein würden, wenn ein Jeglicher vor Gott den kleinen Acker, der ihm verliehen, mit Treue pflegen wollte! Wie manchmal kommt es gerade bei den wenigen redlichen Seelen vor, dass sie heilige Engel werden wollen, ehe sie noch heilige Menschen geworden sind! O wenn z. B. wir, eure Lehrer, und ihr, die Lernenden, nur gerade das wären, was wir als Christi Jünger sein sollen! Dass wir Lehrer der Wissenschaft euch ein Vorbild gäben einer echten Frömmigkeit, die in aller Wissenschaft und Gelehrsamkeit nicht den Ruhm vor den Menschen sucht, sondern die Verherrlichung Gottes und der Wahrheit; dass wir euch ein Vorbild gäben treuen, gewissenhaften Fleißes, christlicher Liebe untereinander, hingebender brüderlicher Liebe zu euch, und dass ihr Jünglinge in euren Jünglingsjahren Alle Timothei wäret, die da „fliehen die Lüste der Jugend, aber nachjagen der Gerechtigkeit, der Gottseligkeit, dem Glauben,“ verbunden untereinander nicht bloß durch eine vergängliche Bekanntschaft, sondern durch Freundschaft im Herrn, durch gemeinsames Ringen nach dem Glauben! Nicht ein leeres Schattenbild stelle ich euch auf, einst war es so unter Lehrern und Lernenden, und zwar gerade an dieser Universität. Kaum liegt ein Jahrhundert zwischen jener schönen Zeit der Kirche und der gegenwärtigen.
Doch, ihr geliebten Natanaelsseelen, nicht bloß für euch selbst, die ihr im Glauben steht, habt ihr einen Trost verlangt, sondern auch für die Natanaelsseelen habt ihr ihn verlangt, die den Glauben nicht haben. Wie dort Petrus, nachdem der Herr ihm sein eigenes Schicksal enthüllt hat, fragt: „Aber, Herr, was soll dieser?“ so ist es allerdings, nachdem man selbst den Glauben erhalten, eine der ersten Fragen im Hinblick auf die ganze Welt, die im Argen liegt: Aber, Herr, was soll diese? - „Es ist in keinem Anderen Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen sie sollen selig werden -“ das steht fest im Wort Gottes, das steht fest in jedem Herzen, welches in diesem Namen die Seligkeit gefunden hat. Aber wehe, wenn nun das Auge hinabblicken muss an den Menschengeschlechtern, welche geboren wurden und gestorben sind, ehe auf Golgatha das Kreuz gepflanzt wurde, auf die Tausende von Millionen, welche seit achtzehn Jahrhunderten starben, ohne von dem Kreuz zu wissen, woran der Herr der Herrlichkeit für sie das Leben gelassen! - ja, während wir hier reden, ist mit jeder Sekunde eine Seele hinübergegangen in die Ewigkeit, sind solche hinübergegangen, die von keinem Heiland wussten! „Ich habe den Glauben gefunden,“ sprichst du, „aber wehe mir, rufst du aus, wenn ich ihn gefunden habe, um dafür auf ewig die zu verlieren, welche Gottes Vorsehung selbst an mein Herz legte, dass ich sie lieben sollte“ - auf ewig! o wie das Wort so schauerlich klingt! Wohl habt ihr ein Recht, zum Predigtstuhl hinaufzublicken, und zu fragen: Hast du keinen Trost? Brüder, deutliche, allseitige Aufschlüsse kann ich euch nicht geben, denn die Offenbarung Gottes hat einen Schleier hängen lassen über Allem, was nicht zum Reich Gottes gehört. Ein Lichtstrahl ist von oben herab in das ewige Erdental gefallen, der beleuchtet den schmalen Pfad, den die Kinder Gottes wandeln sollen, mit hellem Licht, und oben auf dem Ausgang des schmalen Pfades liegt Morgenrot, aber Einen Schritt jenseits des schmalen Pfades zur Rechten oder zur Linken ist Alles in Dunkel gehüllt - dunkel der Pfad, wo alle andern Menschen wandeln, dunkel sein Ausgang. Und es hat das wohl seine weisen Absichten, warum über dieses, wie über so vieles Andere, der Sohn Gottes uns nicht mehr gesagt hat, sondern immer nur von dem schmalen Pfad geredet. Als das Strafgericht Gottes mit Feuer und Schwefel auf Sodom und Gomorrha fiel, da musste Lot nach dem kleinen Zoar eilen und durfte zur Rechten nicht sehen und nicht zur Linken, sondern auf das kleine Zoar allein, das ihn erretten sollte. Auch wenn es bei uns heißt: „Rette deine Seele!“ so soll auf das kleine Zoar allein unser Blick gerichtet sein; wer zur Rechten oder zur Linken sieht, der verliert es aus den Augen und es ereilt ihn das Verderben. „Gedenkt an Lots Weib!“ hat einst der Herr den Seinigen zugerufen. Indes, ist denn, wie bei Petrus, die Frage, die wir hier tun, bloß eine Frage der Neugier? Bei Manchen vielleicht, aber gewiss doch auch bei Manchen nicht. Gewiss ist lautere Liebe, die manchem Herzen die Frage auspresst: Aber, Herr, was soll dieser? Für solche nun, die nicht aus Neugier, sondern aus Liebe fragen, hat auch die Schrift, wenngleich sie nicht Alles sagt, doch genug gesagt. Als der Apostel Paulus in Korinth die Beisteuer sammelt für die arme Christenheit in Jerusalem, da verlangt er von einem Jeglichen, wie er sagt, „nach dem er hat, nicht nachdem er nicht hat“ (2 Kor. 8,12.). Gilt das Gesetz nun im Leiblichen, soll es nicht auch im Geistlichen gelten? Ja es gilt im Geistlichen, denn der Herr sagt vom Gericht: „Wem da viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, und wem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern.“ Steht das nun fest, mag man auch des Glaubens Frucht fordern von dem, welchem der Glaube nicht befohlen war, wie mag man des Heiligen Geistes Wehen bei dem suchen, welchem er nicht gegeben ward? Wie schon der Apostel fragt: „Wie sollen sie anrufen, an den sie nicht glauben, wie sollen sie glauben, von dem sie nichts gehört haben, wie sollen sie hören ohne Prediger?“ Darum denn nun auch vor den Athenern der Apostel verkündigt: „Und zwar hat Gott die Zeit der Unwissenheit übersehen“ und schreibt an die Römer: „Welche ohne Gesetz gesündigt haben, die werden auch ohne Rücksicht auf das Gesetz verloren werden,“ und verkündigt den Juden, dass der Unbeschnittene, der das Gesetz vollbringt, „ihn richten wird, der bei Buchstabe und Beschneidung des Gesetzes Übertreter ist.“ Bedenkt, was in dem Wort liegt! Liegt darin nicht auch, dass über uns, die wir bei Buchstabe und Taufe und Abendmahl des Gesetzes Übertreter sind, ein Heide Richter werden kann? O Brüder - auch nach dem, was die Schrift sagt - hat der, welcher ein Vater heißt aller Menschen, für das Flehen aus eines Heiden Herzen ein Ohr. Habt ihr nicht gelesen, wie dem frommen Heiden Kornelius in einem Gesicht gesagt wird: „Dein Gebet und deine Almosen sind hinaufgekommen in das Gedächtnis vor Gott!“
So findet denn auch eines Heiden Gebet den Weg zu jenem Thron, wo die Bitten aller Christenherzen sich begegnen. Ist es nun aber wahr, dass alles dunkle und umhüllte Streben der Heidenwelt ins Gedächtnis vor Gott kommt, ist es wahr, was der Apostel Röm. 2 sagt: „dass auch dem Heiden, der mit Beharrlichkeit trachtet in guten Werken nach dem ewigen Leben, Preis, Ehre und unvergängliches Wesen zu Teil werden soll;“ ist es aber gleichfalls wahr, dass „in keinem Anderen Heil, und auch kein andrer Name den Menschen gegeben ist, darin sie sollen selig werden, als der Name Christi,“ wie anders mögt ihr sie zusammenbringen diese Aussprüche der Schrift, als durch den Glauben, dass die Predigt vom Heilande der Welt auch jenseits nicht ganz verstummt? Auch hat die Heilige Schrift dies nicht gänzlich verhüllt. Dass der Herr hingegangen ist im Geist, und hat den Geistern gepredigt, die in dem Gefängnis waren, und die nicht geglaubt hatten, hat Petrus (1 Petri 3,19.) uns verkündigt, und ist das der Artikel unseres Glaubens, an dem wir festhalten, indem wir bekennen, dass der Herr hinabgefahren sei zu den Toten. Wiederum schreibt derselbige Apostel im 4. Kap. V. 5. 6. von einem Gericht über die Lebendigen und die Toten, indem er hinzusetzt: „denn dazu ist auch den Toten das Evangelium gepredigt, dass sie nach ihrem menschlichen Wesen am Fleisch gerichtet werden, und im Geist Gott leben.“
Christliche Gemeinde, ist das unser Trost in Bezug auf die Heidenwelt, dass nicht mehr bei ihnen wird gesucht werden, als nach dem ihnen gegeben worden, und nicht mehr von ihnen gefordert werden, als nach dem ihnen befohlen worden, o so fließt ja wohl auch ein Balsamtröpflein daraus auf so Manchen unter uns, der solchen Heimgegangenen nachblicken muss, die ohne den Glauben an den Namen, in welchem allein das Heil gegeben ist, hinübergegangen sind. Freilich mag Einer in unserer Zeit noch mit viel größerem Recht, wie Paulus Röm. 10,18. fragen: „Haben sie denn nicht gehört? Vielmehr ist in alle Lande ausgegangen ihr Schall und in alle Welt ihre Worte?“ Ist nicht der Prediger des Worts seit Erfindung der Druckkunst so viel geworden, dass es an euch nur liegt, wenn das Gotteswort nicht in jedem Haushalt predigt? Indes, meine lieben Freunde, auch dieses gedruckte Gotteswort ist doch nur wie ein Strichregen über die Menschheit gegangen, und lange Zeiten und große Länderstriche haben es nicht besessen. Ob sie es indes auch besäßen, ist denn wirklich das geschriebene Wort eine Predigt, die laut und deutlich genug klingt, um in des Herzens Tiefen zu dringen? Wohl sitzt der Kämmerer aus Mohrenland mit frommem Herzen in seinem Wagen, und liest in seinem Propheten Jesaias: „Er ist wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt, und still wie ein Lamm vor seinem Scherer. In seiner Niedrigkeit ist sein Gericht erhaben, wer wird seines Lebens Länge ausreden? denn sein Leben ist von der Erde hinweggenommen“; und doch muss er fragen: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet solches?“ bis ein Philippus in den Wagen steigt, und es ihm auslegt. Wie Mancher mag's auch unter euch erfahren haben, dass zehn Jahre und zwanzig das teure Gotteswort in seinen Händen sein, und vor seinen Ohren klingen konnte, und so lange kein Philippus kam, war's verschlossen. O wie liegt doch so viel daran, dass dem Wort das Zeugnis gegeben werde aus dem Menschenherzen, das es erfahren hat. Ist dem nun also, o so dürfen wir ja auch gewiss sein, diejenigen, welche aus unserer Mitte, aus der Christenheit hinübergegangen sind vor den Gottesthron, ohne in diesem Leben einen Philippus zu finden - es wird sie kein strengeres Gericht treffen, als die Heidenwelt; was ihnen nicht gegeben worden war, das wird man auch bei ihnen nicht suchen. Nur das wird man bei ihnen suchen, wozu Allen die Kraft dargereicht wird - ein williges Herz. Dass ein williges Herz im Gericht Gottes etwas gilt, vernehmt es aus dem Mund des Heilandes, wenn er über die Städte, wo er die meisten seiner Taten verrichtet hat, über Chorazim und Bethsaida das Wehe ausruft, und spricht: „Es wird Tyrus und Sidon an jenem Tage erträglicher gehen, denn euch; denn wären solche Taten zu Tyro und Sidon geschehen, als bei euch geschehen sind, sie hätten vor Zeiten in Sack und Asche Buße getan.“ Ihr seht, nicht bloß auf das, was Tyrus und Sidon wirklich waren, auf das auch, was sie gewesen wären, hat das göttliche Gericht gerechnet. Ebendarum sagte ich aber auch, dass es die Natanaelsseelen seien, für welche unser Ausspruch so trostreich ist. Von allen solchen Natanaelsseelen mit dem zum Glauben willigen Herzen, welche sich mitten in der Christenheit nach einem Philippus sehnten, und ihn nicht fanden, wird der Fluch des Unglaubens hinweggenommen, und auf euer Haupt gelegt werden, ihr ungetreuen Priester und Lehrer, von denen geschrieben steht: „Ihre Priester verkehren mein Gesetz freventlich und entheiligen mein Heiligtum!“ Wisst ihr nicht, was der Herr von euch fordert: „des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, dass man aus seinem Mund das Gesetz suche; denn er ist ein Engel des Herrn.“ O welche Wolke des Zornes sich erhebt über die Lehrer, welche das Wort der Wahrheit verkehrt haben, und die Seelen zu den durchlöcherten Brunnen geleitet, darinnen kein Wasser ist! Ja, wenn wir es recht bedenken, welche Schuld sie auf sich geladen haben, die den Hungrigen kein Brot geben, und den Durstigen kein Wasser, da es der Herr doch so reichlich in ihre Hände gelegt - wen wird es wundern, wenn ein großer Lehrer der Kirche, Chrysostomus, sagt: „Der Boden der Hölle wird mit den Schädeln treuloser Priester gepflastert sein“? O ihr Jünglinge, die ihr Priester des Herrn werden wollt: „Wer ein Bischofsamt begehrt, begehrt ein köstliches - aber auch ein schwer, schwer verantwortliches Amt.“ Werdet treue, gläubige Hirten, damit nicht der Fluch aller der Natanaelsseelen, d. i. aller Aufrichtigen, die ihr an durchlöcherte Brunnen, statt an frische Quellen geführt habt, auf euer Haupt falle!