Hagenbach, Karl Rudolf - VIII. Das beständige Wachsthum des Herrn.

Hagenbach, Karl Rudolf - VIII. Das beständige Wachsthum des Herrn.

(Vor dem Feste Johannes des Täufers.)

Text: Joh. 3, 30.
Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.

Die eben vorgelesenen Textesworte sind Worte des Täufers Johannes, dessen Fest in einem großen Theil der Christenheit morgen gefeiert wird. Es ist keineswegs zufällig, daß das Johannisfest in eben die Zeit fällt, in welcher die Tage, nachdem sie ihren Höhenpunkt erreicht haben, wieder abzunehmen beginnen, so wie umgekehrt das heilige Weihnachtfest in die Zeit fällt, wo die so sehr verkürzten Tage wieder allmählig zunehmen und wachsen. Die alte Kirche1), die in solchen Dingen ein feines Gefühl hatte, wollte durch die Anordnung dieser Feste und durch die Stellung, die sie ihnen im Jahreskreise anwies, eine tiefe Wahrheit sinnbildlich aussprechen, sie wollte an eben das Wort erinnern, das der Täufer in unserm Texte spricht: „er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ Ebenda, als der Täufer auf seinem Höhenpunkte, auf dem höchsten Gipfel seines Ansehens und seiner Wirksamkeit stand, wie jetzt die Sonne in ihrem höchsten Glanze strahlt, eben da wurde er es inne, daß er wieder abnehmen und den dagegen müsse über sich empor wachsen lassen, dem er nicht würdig sey, die Schuhriemen aufzulösen.

Und wie nun? meine Freunde, sollten nicht auch wir in eben der Zeit, da die äußere Natur prangend in der Fülle ihrer Jugendkraft vor unsern Blicken sich aufthut, eine ähnliche Betrachtung anstellen, wie Johannes, dessen Bild wir uns in diesen Tagen wenigstens ins Andenken rufen, wenn wir auch kein kirchliches Fest ihm weihen? Oder ruft nicht auch uns schon eben diese äußere Natur zu: ich muß abnehmen, damit Anderes wachse und gedeihe? Abnehmen des Einen, Wachsthum des Andern, Verblühen und wieder Aufblühen, Untergang an dem einen, neues Leben und neue Schöpfung an dem andern Orth, das ist ja der ewige Kreislauf der Natur. Die Blüthe verwelkt und fällt ab, damit die Frucht zur Reife gelange, und die Frucht fällt ab und stirbt, damit aus ihrem Samen wieder neue Geschlechter emporwachsen. Neue Pflanzungen erheben sich beständig auf untergegangenen Schöpfungen, und wo noch kurz zuvor die Sichel mähte, da geht schon bald wieder der Pflug, um für neue Saaten neue Furchen zu ziehen.

Aber nicht nur in der äußern Natur sehen wir diesen ewigen Wechsel von Werden und Vergehen. Auch in den menschlichen Verhältnissen begegnet er uns wieder. Ganze Geschlechter, ganze Völkerstämme und Völkermassen gehen unter um andern Platz zu machen, und was im Großen geschieht, wiederholt sich im Kleinen. Siehe an, die Mutter, deren Jugendblüthe von Jahr zu Jahr dahin welkt, deren Kräfte schwinden, deren Blick ermattet, deren weltliche Freuden immer weniger werden und sie ist doch vergnügt und zufrieden mit ihrem Schicksal, denn sie blickt auf ihre Kinder, denen alle ihre Mühe und ihre Sorge gilt, denen sie Ruhe und Gesundheit opfert mit dem Gedanken, sie müssen wachsen, ich aber muß abnehmen. Siehe den rüstigen Mann in der Fülle seiner Kraft. Noch steht er schaffend und wirkend im thätigen Leben da, noch gilt seine Stimme im Rathe der Alten, noch fühlt er, daß er etwas leisten kann und leistet es gerne. Aber doch merkt ers an dem Einen oder Andern, daß ihn bereits das jüngere Geschlecht an Kenntnissen und Fertigkeiten überflügelt; er merkt es, daß er hie und da zurückbleibt auf der Bahn, die unaufhaltsam vorwärts treibt und daß ihm der Athem kurz wird im Wettlauf mit den Jünglingen. Aber er erkennt das allgemeine Gesetz der göttlichen Weltordnung und als ein Weiser ordnet er sich diesem Gesetze unter: ich muß abnehmen, spricht er, und die, welche ich mit erziehen half und heranbilden, sie müssen wachsen.

Ich habe bisher menschlich mit euch gesprochen, m. L., und von dem Standpunkte einer bloßen natürlichen Betrachtung aus. Aber es giebt noch einen höhern Standpunkt, auf den das Wort Gottes uns versetzt und von dem aus wir jetzt unsern Text zu betrachten haben,

Was ich nämlich bisher sagte von dem Ab- und Zunehmen, von dem Schwinden und Wachsen, das bezieht sich nur auf das Irdische und auf den natürlichen Kreislauf der Dinge, nach dessen Gesetzen auch das Wachsende wieder abnehmen muß und keines je im beständigen Wachsthum begriffen ist. Aber wie nun? Sollte auch Johannes der Täufer die Worte: „er muß wachsen, ich aber muß abnehmen“ etwa nur in dem Sinne gesprochen haben, daß er meinte, auch Jesus auf den er hinwies, werde nur wachsen, bis er das natürliche Maaß seiner Kräfte erreicht habe, und dann werde auch er wieder abnehmen, um einem Andern Platz zu machen, der auch ihm wieder über das Haupt wachse? Der Sinn dieser Welt freilich, der keinen Höhern will über sich aufkommen lassen, der möchte wohl gerne sich überreden, daß auch Christus diesem Wechsel und Wandel der Dinge unterworfen sey und möchte wohl in stolzer Verblendung sich mit der Hoffnung, es könne wohl auch noch ein Größerer kommen, als er, und unser vorangeschrittenes Zeitalter dürfe wohl bald diesen Triumph erleben. Aber sie täuschen sich, die also rechnen, und auf jeden Fall thun sie den Worten des Täufers Gewalt an, wenn sie sie auf ihren Sinn ziehen wollen; denn höret, wie Johannes weiter spricht, unmittelbar nach unsern Textesworten: (Vers 31) Der von oben her kommt, sagt er, ist über Alle; wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über Alle. Und so wissen wir es denn deutlich, wie es gemeint ist damit, daß er müsse wachsen und wir abnehmen. Wachsen muß er beständig und fortwährend, wenn alles Uebrige nur wächst, um wieder abzunehmen. Mitten in dem ewigen Kreislauf der Dinge steht Er, der Gewaltige, als die unbesiegte Sonne, als der, der zwar keines Wachsthumes bedürftig für sich, dennoch immer im Wachsen begriffen ist nach außen; er als die ewige Quelle, die sich fort und fort in den Strom der Geschichte ergießt, er, als die ewige Bedingung alles ächten Fortschrittes und alles ächten Wachsthums. Und das ist es, was wir jetzt miteinander betrachten wollen, indem wir von dem beständigen Wachsthum des Herrn reden, wie es sich kund giebt, einmal äußerlich in der Geschichte der Menschheit, und dann innerlich in unsern Herzen.

Der aber, von dem alles Wachsthum und alles Gedeihen kommt, im Innern wie im Aeußern, er, der Gott und Herr über alle, von welchem und in welchem und zu welchem alle Dinge sind, verleihe uns auch zu dieser Betrachtung seinen Segen. Amen.

I.

Als Johannes, (ehe er noch ins Gefängniß gelegt worden,) zu Aenon taufte, nahe bei Salim, und viele hinkamen und sich taufen ließen, da erhob sich unter den Jüngern des Täufers und unter den Juden eine Frage wegen dieser Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister! der bei dir war jenseits des Jordans, von dem du zeugtest, siehe, der tauft und Jedermann kommt zu ihm. Da antwortete Johannes und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel. Ihr selbst seyd meine Zeugen, daß ich gesagt habe: ich sey nicht Christus, sondern vor ihm hergesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam, der Freund aber stehet und höret ihm zu und freuet sich hoch über des Bräutigams Stimme. Dieselbige meine Freude ist nun erfüllt. Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.

Johannes stand an der Grenze des alten und neuen Bundes als ein gewaltiger Prophet, von dem Christus selbst bezeugte, er sey der Größte unter den vom Weibe Gebornen und doch sey der Kleinste im Himmelreich größer, als er. Was also Johannes von seiner Person aussagte, das mußte, da er doch der größte war in der alten Ordnung der Dinge, in noch vollerem Maaße gelten von allen, was bisher zu dieser Ordnung gehört hatte. Die ganze große Heilsanstalt des alten Bundes, gegründet auf das Gesetz und die Propheten, hatte mit dem Erscheinen Christi ihre Endschaft erreicht. Sie mußte abnehmen und untergehen, damit er wachse. Und so geschah es auch. So gewaltig auch die Schriftgelehrten und Pharisäer gegen die neue Ordnung der Dinge sich stemmten, so grausam und leidenschaftlich auch die Anhänger des Judenthums die junge Gemeinde verfolgten, die auf dem Grabe des Gekreuzigten und Auferstandenen sich erbaute; dennoch ging der Spruch des Täufers an dem alten Volke Gottes und an seinen Anstalten in Erfüllung. Was Johannes für seine Person eingesehen, daß er freiwillig und freudig zurücktrat, um Christo Bahn zu machen, das mußten die Harthörigen und Widerspenstigen zu ihrem eigenen Schaden gezwungen erfahren. Ihre Stätte wurde wüste gemacht und die heilige Stadt mit dem Tempel zerstört durch Feindes Gewalt, und das Volk zerstreut in alle Winkel der Erde, während die Botschaft des Heils, die sie verschmäht hatten, den Heiden gebracht wurde. Aber auch hier auf dem Boden des Heidenthums, auf dem einst die schönsten Werke menschlicher Kunst und Weisheit gediehen waren, mitten in einer Zeit, in der die Herrschaft des gewaltigen Roms ihre Gränzen fast über den ganzen damals bekannten Erdkreis ausgebreitet hatte, auch hier fand das Wort des Täufers seine Anwendung. Oder wer kann es austilgen aus den Büchern der Geschichte, daß der Untergang der altrömischen Macht und die Ausbreitung des Christenthums auf dem Erdboden in der engsten und genauesten Verbindung miteinander standen? Dort ein Abnehmen weltlicher Größe, hier ein Wachsen göttlicher Dinge, dort Untergang im eigenen Verderben, hier Aufgang aus der Höhe. Wohl strengte auch hier die alte Welt, die mit dem alten Menschen durch Lüste in Irrthum sich verderbt hatte, ihre letzten Kräfte an, das Wachsthum des Herrn zu hemmen und den Baum zu beschneiden, der seine Aeste immer weiter ausbreitete über das Erdreich; wohl floß das Blut vieler edeln Zeugen; aber auch dieses Blut ward ein Same der Kirche und die, welche fielen unter dem Schlachtbeil, unter dem einst der Täufer selbst gefallen war, sie konnten mit ihm sprechen: wir müssen abnehmen, er muß wachsen; über unsere Leichen gehet seine Siegesbahn und aus unserer Asche schwingt sich auf in verjüngter Gestalt der Glaube, der die Welt überwindet. - Und als endlich das Christenthum äußerlich befestigt da stand und als Weltreligion sich auch über die Völker ausbreitete, an denen einst die römische Uebermacht zu Schanden geworden war, auch da fand es noch so vieles zu überwinden von dem alten Sauerteige, der sich fortwährend mischen wollte mit der neuen Schöpfung des Geistes, und bald hier das Juden- bald dort das Heidenthum wieder einführen wollte in die christliche Welt. Aber auch da wieder mußte das Unkraut, so üppig es emporschoß, sich verlieren vor dem kräftigen und gesunden Wachsthum der evangelisch-apostolischen Lehre. Was menschlich war, ging immer wieder unter, so groß und blendend es auch in die Augen fiel, und nur das Himmlische, das aus Gott Geborne, das aus dem Geiste Christi stammte, das machte sich Bahn durch alle Schwierigkeiten und legte Zeugniß ab von dem, der ist über Alle. Es ist noch nicht so lange her, daß wir das Andenken an die Reformation in unsern Kirchen gefeiert haben2) und ihr habt es da vernommen, wie alles was menschlicher Irrthum und menschliche Anmaßung dem Werke Gottes entgegen stellte, gebrochen wurde an der siegreichen Macht des Evangeliums. Aber ihr habt es auch vernommen, wie das Werk der Reformation noch keineswegs vollendet ist und wie die Kirche noch immer begriffen ist im Fortschritt und im Wachsthum. Vernommen habt ihr es aber auch - und habt ihr es beherzigt? - wie dieser Fortschritt, wenn er ein wahrer Fortschritt und nicht ein Rückschritt seyn soll, einzig nur dadurch bedingt sey, daß Christus selber herrsche in der Gemeinde und sein Wort siege über Menschenwort, und wie von keinem andern Wachsthum je die Rede seyn könne, als daß wir mehr und mehr heranwachsen an ihn, der das Haupt ist, damit wir als der eine Leib, sammt den Gliedern, gelangen mögen zum vollkommenen Mannesalter Christi. Und wenn wir denn auch jetzt wieder in diesen Tagen es vernehmen werden3), wie das Wort Gottes noch fortwährend sich Bahn bricht zu denen, die noch sitzen im Finsterniß und Schatten des Todes, und wenn auch wir in dieser Kirche theilnehmen werden an der Festfreude über die Verbreitung der Bibel und des Christenthums, o so muß sich uns auch hier wieder das Wort des Täufers aufdringen in seiner schönen und edeln Bedeutung: „er muß wachsen, ich muß abnehmen.“ Die Werkzeuge, durch die dieses alles geschieht, sie sind es ja nicht, deren Wachsthum, deren Ehre und Vortheil dabei in Betracht kommt; sie gehen unter und reiben sich auf in der glühenden Mittagshitze der Arbeit und des Kampfes und Andere treten in die Reihen, wenn der Tod sie lichtet; - aber er, der Herr, der die Gaben und Kräfte vertheilt, er bleibt derselbe heute, gestern und in Ewigkeit; er wächst und wächst fort bei allem Wechsel der Kräfte, der Persönlichkeiten, der Formen, der Ansicht, der Meinungen und Bestrebungen. - Darum seyen wir auch nicht zu ängstlich, wenn hie und da Erscheinungen kommen wollen, die den Fortbestand des Reiches Gottes zu bedrohen, ja seinen Untergang herbeizuführen sich anstellen, oder wenn verschiedene Glaubensweisen und Lehrarten in der Kirche sich geltend machen und einander bekämpfen. Solches ist geschehen von Anbeginn/ so lange die Kirche steht und die Kirche stehet noch. Menschliches Denken, menschliches Meinen, menschliches Dichten und Trachten ist immer wieder untergegangen, wenn es auch auf die eine oder andere Weise, auf kürzere oder längere Zeit die Oberhand gewonnen. Was Gutes daran war und Probehaltiges, das wurde mit aufgenommen und mit verarbeitet in den gesunden Lebenstrieb, der das Wachsthum alles Guten und Wahren befördert; was aber unhaltbar war und todt in sich selber, das fiel auch von selber ab, nachdem es eine Zeit lang geblüht hatte. Und so wird es gehen bis aus Ende der Tage. Was von der Erde ist, das ist von der Erde, das zeugt von der Erde, das wird auch wieder von der Erde verschlungen und kehrt zum Staube zurück, aus dem es genommen ist. Der aber vom Himmel gekommen, der ist über Alle; er muß wachsen und sein Werk mit ihm von Aufgang bis zum Niedergang, und die Tage seines Wachsthums nehmen kein Ende.

II.

Das alles aber, meine Freunde, können wir nun annehmen und glauben, können uns dessen freuen und getrösten als einer äußern einmal geschehenen Thatsache, ohne daß wir doch noch recht in das Geheimniß unserer Textesworte eingedrungen sind. Wie einer, der gedankenlos zwar die äußere Schöpfung um sich her grünen und blühen und wachsen sieht und sich auch wohl dieses Wachsthums freut, ohne jedoch zu fragen nach dem innern Schöpfertriebe, der alle diese Blüthen hervortreibt und alle diese Säfte und Kräfte durchdringt und belebt, so können wir auch gedankenlos anstaunen die Schöpfungen im Reiche Gottes um uns her, ohne daß wir uns innerlich des Triebes bewußt werden, aus dem dieß alles hervorgeht. Darum ist es nothwendig, daß wir nun auch den Blick nach innen wenden in das eigene Herz und uns fragen, wie es sich da verhalte mit dem Worte des Täufers: „er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ O betrachten wir einmal dieses Herz mit seinen Trieben, mit seinen Neigungen, seinen Wünschen, seinen Hoffnungen und Beängstigungen, und wir werden finden, es ist da auch mannigfacher Trieb zum Wachsthum, ein Drängen, ein Treiben, ein Sehnen nach irgend einem Etwas, das wir in möglichster Vollkommenheit erreichen und uns aneignen, in das wir uns hineinleben möchten mit unserm ganzen Wesen. Aber wie Wenige sind sich selbst klar geworden über dieses Etwas; wie wenige wissen bei all diesem Treiben, was sie wollen. Wachsen, groß werden, gedeihen auf irgend eine Weise, ja, das wollen wir freilich Alle, von der ersten Kindheit an und es ist so natürlich, daß wir es wollen. Sollten wir denn allein bei dem regen Leben der ganzen Schöpfung um uns her, ohne Trieb und ohne Verlangen seyn? O nein! Gott selbst hat diesen Trieb nach Bewegung, nach Fortschritt, den Trieb nach Glückseligkeit, den er dem Wurm nicht versagt hat, auch in des Menschen Brust gelegt. Ihn tödten zu wollen, wäre Unverstand, ja Undank gegen Gott. Aber das Ziel zu kennen, wonach wir streben, die Kraft zu kennen, durch die das Streben uns gelingt, die Gefahren und die Hindernisse zu kennen, die uns dabei drohen, das ist die Aufgabe, die unser würdig ist.

Daß der Trieb nach bloß irdischem Genusse nach irdischer Macht und irdischem Besitz, wenn er sich ungehindert seinem Wachstum überläßt, uns nicht die rechte Befriedigung zu verschaffen vermöge, sondern ausarte in einen schrecklichen Mißwachs, vor dem uns selber grauet, darüber sind wohl Alle einverstanden, die nur einigermaßen über ihre Bestimmung nachgedacht und auch nur von ferne das Leben von seiner ernstern Seite beobachtet haben. Wo ihr einen dieser Triebe in einem Kindesherzen in wildem, frechem Wuchse aufschießen sehet, da erschrecket ihr selbst und sucht ihn sogleich in seine Schranken zurückzuweisen, wenn ihr nicht ganz sorglos und verblendet seyd, und wo sich vollends euch im eigenen Herzen ein solcher Trieb in rascher Entwicklung ankündigt, also daß er zur alles verzehrenden Leidenschaft in euch zu werden droht, da gehet ihr auch wohl in Euch mit dem Vorsatz, ihn nicht allzumächtig werden zu lassen; denn ihr berechnet die traurigen Folgen, die es haben könnte, wenn ihr dem Hang zur Wollust, zur Eitelkeit, zur Verschwendung, zum Geize, wenn ihr den Aufwallungen des Zornes und den Regungen des Ehrgeizes freien Lauf lassen wolltet. Und ihr thut wohl daran. Aber eines bedenket doch wohl, wie ihr damit nur für den Augenblick wehret, ohne dem Uebel im Grunde zu steuern. Tief in der Wurzel eueres Herzens bleibt ja doch derselbe verkehrte Trieb, und wenn ihr an einem Orte glaubet, das Wachsthum des Bösen gehindert und erstickt zu haben, so schießen an einem andern Orte tausend neue und stärkere Zweige jener bittern Wurzel auf, die im Finstern fortwuchert und aus dem üppigen Boden des Herzens immer wieder neue Nahrung zieht.

Und gesetzt auch, es gelänge euch, diese bittere Wurzel in euch abzutödten und dagegen eine zahme, selbsterwählte, selbstgemachte Tugend an ihrer Stelle aufzuziehn als euer eigenes Werk, als den Stolz und die Befriedigung eures Herzens; gesetzt ihr würdet auch eine Zeitlang ihres gedeihlichen Wachsthums euch freuen und auch Andere würden Euch darob preisen und bewundern als geschickte Gärtner, o es kommt gewiß die Stunde, wo diese stolze Zierpflanze eurer eignen Gerechtigkeit Schaden leidet, wo sie einmal herausgetreten aus dem Treibhause der angelernten Sitte, den Stürmen des Lebens erliegt, die unaufhaltsam auf sie andringen, wo ihre Wurzel versengt, weil sie keinen tiefern Boden findet, wo ihre Blätter welken, weil kein Thau von oben sie tränkt, wo ihr Halm zerknickt, weil kein Stab ihn hält und stützt- Alle Pflanzen, sagt Christus die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die werden ausgereutet (Math, 15, 12) und eine jegliche Rebe, die nicht am Weinstock bleibt, die verdorret (Joh. 15,6). Und so werden wir denn auch hier wieder bei der Beobachtung unsres eignen Herzens auf die Worte des Täufers zurückgetrieben: „Er muß wachsen, wir müssen abnehmen; er in uns leben, wir ihm absterben; er in uns herrschen, wir uns leiten und treiben lassen von ihm.

Es ist dieß freilich ein Geheimniß, meine Freunde, das Vielen verborgen bleibt, weil sie es nur von außen fassen und nicht von innen, nur nach dem Buchstaben und nicht nach dem Geiste. Es scheint ihnen sonderbar zu verlangen, daß der Mensch sich selbst aufgebe, um eine andere fremde Persönlichkeit, und wäre es auch eine göttliche, zu gewinnen, und diese hinfort in sich wirken zu lassen; denn dadurch meinen sie, wurde ja unsre Freiheit verloren gehen und wir würden zum todten Werkzeug fremden Wirkens herabsinken. Aber eben darin liegt der Irrthum, daß wir den, der in uns wachsen und herrschen soll, als einen Andern, als einen Fremden betrachten, während er doch als der Unsrige kommen will in sein Eigenthum, daß er in uns lebe und wir in ihm. Nein, wahrlich nicht als eine fremde dunkle Macht, nicht als eine unheimliche Zaubergestalt, sollen wir Christum in uns aufnehmen und ihn in uns wachsen lassen, wie man etwa eine ausländische Pflanze, in ein ihr fremdes Erdreich versetzt; sondern wachsen soll er in uns frei und fröhlich, und in jedem auf eigenthümliche Weise, also daß mit seinem Wachsthum sich in einem Jeden von uns nur um so herrlicher entfalte die rechte Blüthe der Menschheit, wie sie gerade in ihm und in keinem andern sich entfalten soll. Eine Gestalt will er in uns gewinnen, damit wir gestaltet werden zum Ebenbilde Gottes, in welchem wir erst uns selbst wieder erkennen und wieder gewinnen, in welchem wir die verlorene ursprüngliche Würde und Freiheit wieder finden. In dem Maaß als er in uns wächst, wachsen wir daneben auch in ihm und wachsen heran an ihn, gleich wie das einzelne Schoß wächst und grünt und treibt mit dem Weinstock zugleich, der es trägt und nährt, und wie der Boden, auf dem die Pflanze steht, von der Natur derselben an sich nimmt und durch sie veredelt wird, so auch unsere Herzen.

Wenn daher von einem Abnehmen von unserer Seite die Rede ist, o so kann es in dieser Verbindung nur verstanden werden von dem Abnehmen dessen, was mit dem Wachsthum des göttlichen Lebens in uns sich nicht verträgt, es kann nur die Rede seyn von dem Abnehmen des äußern Scheinlebens, damit um so besser das ächte innere Leben in uns blühe und gedeihe; denn auch hier gilt das Wort: wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erst recht gewinnen. (Matth. 16, 25.)

Aber wenn es so gemeint ist, höre ich fragen, warum werden uns denn auch solche Opfer zugemuthet, die mit den sündlichen Neigungen und Trieben in keiner weitern Berührung stehen? warum sollen wir auch das aufgeben und dahinten lassen, was zu unserm bessern Wesen mit gehört, warum auch das für Schaden achten, aus dem wir bisher den edelsten Gewinn für Geist und Herz zogen? Daß die, in welchen Christus wachsen soll, kreuzigen sollen das Fleisch sammt den Lüsten und Begierden, das scheint euch eine billige Forderung; aber unbillig scheint es euch, auch das mit aus Kreuz zu heften, was bisher eueres Lebens edelster Schmuck, eueres Herzens stiller Wunsch und harmloser Genuß war? Und doch geschieht es so oft, daß wir ja auch die edlern Lebens-Verhältnisse, an die Gott uns geknüpft hat, sich wieder auflösen, daß wir unsre schönste Wirksamkeit getrübt, uns durch Krankheit und Leiden in unserm Berufe gehemmt, ja daß wir durch den Tod uns von denen geschieden sehen, die sogar uns förderlich hätten seyn können in der Wirkung unseres Heils? Warum sollen wir denn auch nach dieser edlern Seite unseres Wesens hin abnehmen und Verlust erleiden, damit er wachse? Die ihr also fraget, gestattet mir wieder eine Frage: Habt ihr noch nie gesehen, wie der Gärtner, wenn er den Wachsthum eines edeln Baumes fördern will, nicht nur die schon faulen, dürren und verdorbenen Theile wegschneidet, sondern tiefer auch in das gesunde Leben des Baumes eingreift und auch das grüne Holz verwundet, damit der edlere Trieb sich wieder sammle nach einer Richtung hin? So weiß auch der, der den Lebensbaum in uns pflanzet und pfleget gar wohl was uns in dieser Hinsicht nützt oder schadet. Wie leicht können auch die bessern und reinern Freuden, die edlern Genüsse des Lebens, die Freude an unserer Wirksamkeit und der Herzensgenuß im Umgange mit unsern Lieben, wie leicht können auch sie uns zur Versuchung und zum Fallstrick werden und uns abziehen von dem ungetheilten Wachsthum nach oben? Wie leicht kann mitten im Besitz aller dieser Güter eine feinere Selbstsucht, eine falsche Sicherheit unserer Herzen sich bemächtigen, die uns um den höhern Segen bringt, den Gott eben durch solche Prüfungen uns bereiten will. Gesetzt aber auch, wir wüßten wirklich im Glück uns immer oben zu erhalten auf der rechten Höhe der christlichen Gesinnung, werden wir nicht erst dieser Gesinnung uns bewußt durch die Probe, die wir bestehen? Oder woran sollen wir es denn merken, daß wir wirklich zugenommen haben im Glauben und in der Liebe, in der Geduld und in der Demuth, als daran, daß wir auch das Schwerste zu tragen wissen, das Gott zur unverhofften Stunde uns auferlegt? An was sollen wir erkennen, daß Christus wirklich in uns wachse, als daran, daß wir ohne Murren und in kindlicher Ergebung das abnehmen sehen, was, nachdem es seine Bestimmung an uns erreicht und uns eine Zeitlang erquickt und gestärkt hat, nun auch wieder von uns genommen wird, damit wir uns allein an der Gnade genügen lassen, die nimmer von uns weicht, ja die in den Schwachen mächtig ist. Ja, das ist die Vollendung unseres Wesens, zu der uns Gott erziehen will, daß wir auch das Liebste und Theuerste hingeben können, wenn er es verlangt, daß wir es können schwinden und sich von uns ablösen sehen, wie ein Glied von unserm Leibe, zwar mit einem wehmüthigen Blick, aber doch immer mit jener ergebenen und gefaßten Stimmung des Herzens, mit der wir sprechen: er muß wachsen, dieß alles aber muß abnehmen und ich damit. Zu dieser Vollendung hatte es Paulus gebracht, als er von sich sagen konnte: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir. (Gal. 2, 24.) Ich vermag alles durch den, der mich mächtig machet, Christus. (Phil. 4,13.) Und ob auch der äußere Mensch verweset, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. (2. Cor. 4, 6.) An diese Vollendung reichte schon der Sänger des alten Bundes, wenn er in die Worte ausbrach: Herr wenn ich nur dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch o Gott! meines Herzens Trost und mein Theil. (Psalm 73, 25.) Und hat nicht er, der Herr selbst, in den Tagen seines Fleisches durch freiwillige Hingebung in den Willen des Vaters uns gezeigt, wie auch er, der doch über Alle ist, bereit war abzunehmen, sich seiner Herrlichkeit zu entäußern, zu dienen und gehorsam zu seyn und ein Opfer zu werden für Alle, damit wir durch seine Erniedrigung groß und durch seine Armuth reich würden, damit wir in ihm wachsen könnten und er in uns? Nun, so möge denn auch er uns zu dieser Vollendung verhelfen durch seine Gnade.

M. A. Wenn wir jetzt in dieser Jahreszeit alles, um uns her grünen und wachsen sehen, das schon jetzt wieder mit des Grases Blume vor unsern Augen hinfällt und verdorret, wenn die langen Tage bald wieder in lange Nächte sich wandeln, ein Sinnbild des Wechsels unserer Schicksale; ja, wenn es nicht nur bei diesen Sinnbildern bleibt, wenn auch in der rechten fühlbaren Wirklichkeit unser Leben verblühet und die Nacht der Leiden hereinbricht auf die heitern Tage des Glückes, wenn das Maaß unserer Kräfte schwindet, wenn Krankheit und Alter die jugendlichen Säfte verzehren und auftrocknen, wenn so manche Bande sich lösen, wenn der Tod so manche Beute mit sich fortführt, und endlich selbst bei uns anklopft zur Stunde, die uns bereitet ist, was können wir da anders sagen als: stehe du uns bei, o Herr mit deines Geistes Kraft, auf daß wir mitten unter all' diesem Wechsel und Wandel, mitten in dem Abnehmen aller irdischen Herrlichkeit uns deines Sieges freuen und deines unendlichen Wachsthums froh werden. Amen.

1)
Nach der Erklärung Augustins
2)
Das Reformationsfest wird in Basel jeweilen am Sonntag Trinitatis gefeiert.
3)
An den Bibel- und Missionsfesten, die in derselben Woche, in derselben Kirche zu St. Leonhard abgehalten wurden.
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