Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Joh. 11, 1-44

Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Joh. 11, 1-44

In Gott geliebte Gemeinde! Ich trete an einem Todtenfeste in einem Jahre unter euch auf, wo der Tod wieder einmal mächtig an die Thüren der Bürger dieser Stadt geklopft hat. Sie ziehen vor meinen Augen vorüber die Gatten, Eltern, Geschwister und die Schaaren unmündiger Kinder, die der Tod abgefordert hat und - ihr verlangt Trost! Aber ach ihr Leidtragenden, daß ihr nur den besten, den die Kirche euch darzubieten hat, aufzunehmen fähig wäret! So oft im Mittelalter der Herr ein Volk, eine Stadt mit solcher Geißel geschlagen hatte, da sah man das Volk zu Tausenden, wie es die Gassen und Landstraßen durchzog, über sich selbst die Geißel schwingend. Denn das Leid würkte Buße, und aus der Buße kam erst wieder der rechte Trost für das Leid; diese Quelle des Trostes im Leide kennt diese Zeit nicht mehr. Dennoch soll ich auch heute euch mit dem Troste des Wortes trösten. Nun, ich will es thun, so viel der Herr Gnade schenkt. Ich will euch zu trösten suchen mit mancherlei Trost wie das Wort Gottes ihn darreicht, damit wenn nicht der eine, doch der andere ein linderndes Oel für die vom Herrn zerschlagenen Herzen werde, vor allem aber mit dem Troste, der das Salz ist in allem andern Trost und ohne den aller andere Trost wie die Blume ist ohne Wurzel.

Vernehmet unsere Textesworte aus dem 11. Cap. Joh. 1-44.

Joh. 11, 1-44.

Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethania, in dem Flecken Marias und ihrer Schwester Martha, (Maria aber war, die den Herrn gesalbet hatte mit Salben, und feine Füße getrocknet mit ihrem Haar; derselbigen Bruder Lazarus lag krank,) Da sandten seine Schwestern zu ihm, und ließen ihm sagen: Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank. Da Jesus das hörete, sprach er: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehret werde. Jesus aber hatte Martha lieb, und ihre Schwester, und Lazarum. Als er nun hörete, daß er krank war, blieb er zween Tage an dem Ort, da er war. Darnach spricht er zu seinen Jüngern: Laßt uns wieder in Judäam ziehen. Seine Jünger sprachen zu ihm: Meister, jenesmal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen? Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht; denn er stehet das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm. Solches sagte er, und darnach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wird es besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode; sie meineten aber, er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht da gewesen bin, auf daß ihr glaubet; aber laßt uns zu ihm ziehen. Da sprach Thomas, der da genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: Laßt uns mit ziehen, daß wir mit ihm sterben. Da kam Jesus, und fand ihn, daß er schon vier Tage im Grab gelegen war. (Bethania aber war nahe bei Jerusalem, bei fünfzehn Feldweges). Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder, Als Martha nun hörete, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet, und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: Herr, ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin, und rief ihre Schwester Maria heimlich, und sprach: der Meister ist da, und ruft dich. Dieselbige, als sie das hörete, stand sie eilend auf, und kam zu ihm. Denn Jesus war noch nicht in den Flecken gekommen, sondern war noch an dem Ort, da ihm Martha war entgegen gekommen. Die Juden, die bei ihr im Hause waren und trösteten sie, da sie sahen Maria, daß sie eilend aufstand und hinaus ging, folgten sie ihr nach, und sprachen: sie gehet hin zum Grabe, daß sie daselbst weine. Als nun Maria kam, da Jesus war, und sähe ihn, fiel sie zu seinen Füßen, und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sahe weinen, und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmete er im Geist, und betrübte sich selbst. Und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es. Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt. Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgethan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe? Jesus aber ergrimmete abermal in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebet den Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor, und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch Ich weiß, daß du mich allezeit hörest; sondern um des Volkes willen, das umher stehet, sage ich es, daß sie glauben, Du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Summe: Lazare, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern, an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf, und laßt ihn gehen.

Das Sterbebett des Lazarus ein Ruhebett für leidtragende Christenherzen. Das ist es, indem es den rechten Blick uns lehrt auf uns selbst, auf die andern und auf die von uns Geschiedenen oder - daß ich's mit andern Worten sage, indem es uns anleitet zu einem ernstlich forschenden Wozu? zu einem viel umfassenden Warum? und zu einem hoffnungsvollen Wohin?

Zu einem ernstlich forschenden Wozu? giebt unser Text Veranlassung - zu der Frage, welche am seltensten an den Sterbebetten vernommen wird. Warum's ohne Ende und damit Zerstreuung des Blicks in die Endlichkeit, seltner schon ein Wohin? unter dem allerdings die Thränen milder fließen, ein Wozu mit der Vertiefung des Blicks in das eigne Herz fast niemals. Unter Hohen und unter Niedrigen, so oft ich, um den Trost des Evangeliums in ein Trauerhaus zu bringen, mit der Frage gekommen bin, ob sie denn schon gefragt haben, wozu ihnen das Herzeleid zugeschickt worden, habe ich erfahren müssen, daß damit eine Saite angeschlagen wurde, die nicht klang? Dieses Wozu aber, diese Frage nach Zweck und Absicht der ewigen Güte, warum sie die Schmerzensthränen ihrer Kinder lieber sieht als ihre Freudenthränen, ist sie nicht bei jedem Herzeleid dem Menschen so nahe gelegt? Denen die Gott lieben, müssen alle Dinge, also auch Gesundheit und Krankheit, zum Besten dienen. - Sind wir denn aber auch nur darüber uns ganz klar, was jenes schlechthin Beste sei, wozu dem Menschen Alles, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Gegenwärtiges und Zukünftiges, dienen soll? Wenn das nicht das schlechthin Beste ist, was der Herr als den höchsten Gegenstand des Strebens den Menschen vorgehalten hat: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit. so weiß ich nicht, was es ist. Und was nun das höchste Ziel unseres eigenen Strebens seyn soll, soll das nicht auch das Ziel seyn, worauf alle Fäden unseres Lebens, also auch Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, angelegt sind? O gegenüber der Folterbank so manchen Krankenlagers der theuersten seiner Kinder, dem Schwerte, das mit dem Ungerechten auch den Gerechten hinrafft, den Tausenden der Würgengel, welche die Menschheit durchziehen - wenn denen gegenüber der Unglaube dich fragt: Und das alles sollen die Würkungen einer Vaterliebe seyn? was habt ihr für eine Antwort, wenn ihr nicht an eine Vaterhand glaubt, die ihre Kinder züchtigt, daß sie weise werden zur Seligkeit? So wie aber der Zweck erkannt ist, so wie das Auge anfängt, sich mit dem ernstlich forschenden wozu? in das eigene Herz zurück zu wenden, wie sammeln sich auf ein Mal die zerstreuten Blicke, wie legt sich der Sturm des Schmerzes, wie löst sich alles Murren in Wehmuth auf, ja in Loben und Danken, sobald man an den letzten Ausgang denkt. Dahin aber ihr Kreuzträger, die ihr jetzt noch ungestillte Thränen weint, muß es schlechterdings kommen, daß ihr die Unverhältnißmäßigkeit alles Kreuzes und aller Thränen der Endlichkeit gegen die geistlichen Güter erkennt, welche aus dieser Thränensaat geboren werden. Jetzt steht es mit euch doch so, daß irdisches Gut, daß Vater- Mutter. und Kind - Verlieren euch als ein schrecklicheres Unglück erscheint als eine Sünde begehen, aber dahin muß es durchaus kommen, daß wir die Unverhältnißmäßigkeit alles irdischen Verlustes und aller zeitlichen Leiden gegen den ewigen Gewinn der Gerechtigkeit des Reiches Gottes erkennen, dahin muß es kommen, daß, wenn der himmlische Vater auf die Wagschale zur Linken Noth, Krankheit, Tod und den Verlust des Liebsten gelegt hat und auf die rechte die Bewahrung vor der Schuld, wir seine Kniee umfassen und rufen: Vater, die Linke! Aber wir wissen nicht was wir reden, wenn wir das Wort des ernsten Dichters zu dem unsrigen machen:

„Das Leben ist der Güter höchstes nicht
Der Uebel größtes aber ist - die Schuld!“

Dieses ernste, göttliche Wozu? nun, seht es bei den beiden Schwestern in unserm Text. O von der Liebe Jesu waren sie fester überzeugt gewesen, als ihr es von der Liebe eures himmlischen Vaters seid. Jesus aber hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus- bezeugt uns Johannes der Freund ihres Hauses. Auch denen, welche nicht zur Familie gehören, ja den Juden selbst ist es offenbar worden: „Sehet wie hat er ihn so lieb gehabt. sprachen sie nachher. Herr, der, den du lieb hast, ist krank. lassen ihm die Schwestern sagen, sie wollen ihn damit noch mehr zur Eile spornen, aber - als Jesus das gehört hatte, blieb er doch noch zween Tage an dem Orte, wo er war. Bitten und Boten haben ihn nicht erweichen können und - die Krankheit wird eine Krankheit zum Tode! „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben,“ das wissen sie gewiß, und dennoch ist er nicht gekommen und dennoch hat er den Bruder sterben lassen! Sehet ihr, daß auch diese zarten Seelen jene furchtbare Täuschungen erfahren haben, die das angefochtene Menschenherz von seinem Gott zu erleben glaubt, wenn es am Kranken-, wenn es am Sterbebette viel hundert heiße Gebete als eben so viel drängende Boten zum Herrn geschickt hat: Herr, den du lieb hast, der ist krank!“ und der Himmel da droben bleibt verschlossen, als wäre kein Ohr, das da hörte und Ein Tag vergeht und noch ein Tag vergeht und lein Helfer erscheint. Wer zählt die tausend Anklagen, die in solchen Tagen gleich hinter den Gebeten her aus den Krankenstuben zum Himmel steigen, die bittern Vorwürfe, die Glaubensniederlagen selbst bei denen, welche sich nicht mehr als Kinder im Glauben ansehen zu dürfen meinen. Was in dieser Geschichte unsers Textes hinter der Scene vorgefallen ist, wissen wir nicht. Die ängstlichen halb gläubigen und halb ungläubigen Fragen: ob er denn nicht kommt? die verzagenden Blicke, als das Auge des Geliebten schon im Tode zu brechen anfing und die Wangen zu erbleichen, den stummen Schmerz, als nun die Leiche dalag im Todesschmuck und die darüber gebrochenen Herzen, von alledem erfahren wir nichts. Nur gleichsam die Nachzügler des vorübergegangenen Ungewitters erblicken wir in den noch unaufhaltsam rinnenden Thronen der Maria, nur einen Nachklang der innern Anklage vernehmen wir in den klagenden Worten der beiden Schwestern: Herr wärest du dagewesen!“ Und dennoch, wie hat der Glaube und die Liebe sich durch diese Anfechtungen hindurch gekämpft! Ich frage euch Leidtragende - nach solcher Niederlage aller eurer Gebete, wie viele unter euch würden noch fortzubeten vermögen, fortzubeten nicht bloß sondern dankend zu loben, freudig zu hoffen? Seht, Martha kann es, Martha kann noch bitten, kann noch glauben und noch hoffen. „Aber ich weiß doch, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“ Nun, manche wenigstens giebt es auch unter uns, das weiß ich, für welche die Niederlage ihrer Gebete an dem Krankenlager noch nicht die Niederlage ihrer Glaubenskraft überhaupt ist. Aber ob auch Frauen und Mütter unter euch seyn möchten, die in solchen Stunden vermocht haben, was noch vor Kurzem jene edle Frau in unsrer Nähe, die Mutter von sieben Kindern, welche, unmittelbar nachdem der theure Gatte, der edle Mann und wohlbekannte Menschenfreund, in der Blüthe seines Mannesalters in jähem Tode dahingerissen, die sieben Waisen mit dem Hausgesinde um sich versammelte um ein Opfer nicht nur des Glaubens, sondern des Dankes darzubringen - des Dankes für die in Mitten der schmerzlichsten aller Prüfungen erfahrenen Erbarmungen! Ihr aber, die ihr neben den Sterbelagern und Todtenbetten solche Glaubenssiege durchgekämpft - nicht wahr, ihr könnt auch ein Zeugniß ablegen von der Unverhältnißmäßigkeit aller solcher irdischen Verluste, wenn der Gewinn daraus Unerschütterlichkeit des Glaubens, Inbrunst der Liebe und eine selige Gewißheit der Hoffnung ist? Sehet, das ist die Perle, die in dem bittern Kelche auf dem Grunde liegt, trinkt ihn muthig aus und ihr werdet auf dem Grunde sie finden. So gewiß es ist, daß harte Herzen unter harten Schlägen noch härter werden können, so gewiß ist es, daß weiche Herzen unter ihnen noch mehr aufgeschlossen werden. Es ist' ein fürchterlicher Doppelsinn, der in dem Dichterworte liegt:

„Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie in langen Winternächten
Am Krankenbette weinend saß,
Der kennt euch nicht ihr himmlischen Mächte.“

Dasselbe Lied, das aus der einen Brust den Schrei der Empörung gegen die Gottheit hervorruft, entlockt der andern Loblieder der Anbetung. O ich gedenke noch und werde bis an's Ende meines Lebens jenes Schmerzenlagers gedenken, vor das ich einst in England geführt wurde, wo eine fromme Dulderin eine 21jährige Prüfung bestanden und auf die Frage, wie sie dieselbe zu bestehen Vermocht, zur Antwort gab: die ersten fünf Jahr nur mit Murren, die andern mit Ergebung, aber jetzt mit Loben und Preisen - wer fühlt nicht, daß auch nach einem ein und zwanzig jährigen Leiden dies mehr gewonnen als verloren haben heißt! Und wohl wird auch das Schwesternpaar dies empfunden haben, als der Bruder wieder in ihren Armen lag, als sie vom Ende her auf die drei bangen Tage und Nächte mit ihren Kämpfen zurückblickten - o sie haben sie gewiß nicht hinweggewünscht aus ihrem Leben diese drei bangen Tage und Nächte, in denen ihr Glaube tiefere Wurzeln geschlagen hatte als in allen Tagen der Freude vorher!

Dieses Wozu ist dasjenige Warum, aus dem der fruchtbringendste und nachhaltigste Trost an dem Sterbebette quillt. Allein es weist uns unser Text zugleich auf ein noch umfassenderes Warum hin. Wohl ist's natürlich, daß bei den Schicksalsschlägen der betrübten Seele zunächst immer nur die Beziehung vor das thränende Auge tritt, in welcher sie zu uns selbst stehen - weiß doch kein anderer so, wie wir selbst, wie viel wir bei einem solchem Schlage verlieren! Das Warum, welches wir fragen, meint daher eigentlich immer nur: warum das mir? aber der Schlag der dich trifft, erzittern nicht unter demselben tausend andere Fäden mit? Durch wie viel tausend Fäden ist nicht jedes Menschenleben an die Welt und an die Menschheit geknüpft, welche dadurch, daß dieses Menschenleben nicht mehr vorhanden, mit erschüttert werden müssen! Wollt ihr also einmal mit dem unabsehlichen warum? zu fragen anfangen, so macht doch Ernst damit und erkennet, daß in Gottes Augen das Darum, welches er euch antworten könnte, so tausendfach ist, als die Fäden sind, durch die ein Menschenleben an die Welt und an die Menschheit geknüpft ist, daher auch mit allem Sinnen und Nachdenken kein Menschengeist nur den kleinsten Theil von diesen unzähligen Darums herausbringen wird. Hierauf weist auch unsere Geschichte. - Wohl mögen so betrübte Herzen, wie diese Schwesternherzen für keinen andern Faden ein Auge gehabt haben, als für den, wodurch das theure hingeschiedene Leben mit dem ihrigen verknüpft war. Und doch, was spricht der Herr zu den Jüngern, als der Tod gewiß ist: Ich bin froh, daß ich nicht dagewesen bin um euretwillen, daß ihr glaubet!“ Wie hätten die Schwestern in ihrer Betrübniß an den Faden denken können, der dieses Menschenleben und diesen Tod an den Glauben der Jünger knüpfte? Wie wenig hat jener Blindgeborene, von dem der Herr spricht: Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden“ - wie wenig hat er daran gedacht, daß diese seine Blindheit ein Schauplatz der Herrlichkeit Christi werden sollte, an dem noch die spätesten Geschlechter, an dem wir noch unsern Glauben stärken sollten! Als sie aber beide, die Schwestern und der Blindgeborene, am Ende der Wege Gottes gestanden, wie sind auch diese verborgenen Wege der göttlichen Absicht ihrem Auge offenbar geworden zum Lobe und Danke, so daß die Schwestern nicht den Tod des Bruders, der Blinde nicht seine Blindheit aus seinem Leben hätten wegwünschen mögen um alles willen? O Brüder und Schwestern in Christo, stehen wir nun nicht in diesem Leben bei allen Thaten Gottes nur am Anfange seiner Wege und werden wir nicht, wenn wir am Ende stehen und das tausendfältige Darum auf unsere warum? verstehen und durchschauen werden - werden dann nicht auch wir in jenes Lob und in jenen Dank einstimmen und die uns so schmerzhaften jetzt verborgenen Wege Gottes preisen? O Glaube, nur unerschütterlicher Glaube an den himmlischen Vater, der jedes Haar auf unserm Haupte gezählt hat und der Alles in seiner Welt geordnet hat nach Maaß und Ziel!

Und so werden wir nun auch sprechen müssen, wenn wir endlich auf jenes hoffnungsreiche Wohin? den Blick richten, wozu uns ebenfalls unser Text anleitet. O wo das Auge zunächst hinschaut, wenn sie einen Sarg in den Schooß der Erde versenken, da ist's traurig und öde, jeder Ruck der Leinen, daran sie ihn niederlassen, ist ein Ruck am wunden Herzen, und der Stoß mit dem er niederfällt, wenn er unten angekommen, ist ein Stoß an's Herz, unter dem es gar zusammenbricht. Und wenn dann die letzte Hand voll Erde, welche liebende Herzen hinunterwerfen, hohl heraufdröhnt, wie manches gebrochene Herz, welches man nur mit Mühe davon zurückgehalten hat sich nachzustürzen! Wo zunächst das Auge hinblickt, da ist nur ein hoffnungsloses Wohin? Ich wundere mich nicht, wenn der Mensch, der ohne eine Leuchte des göttlichen Worts in die dunkele Tiefe hinabstarrt, zu murren anhebt: „Ja es geht dem Menschen wie dem Vieh, wie dieses stirbt, so stirbt er auch, sie haben alle einerlei Odem. Ihr, denen Tod und Sterben bis jetzt noch fremde Gedanken sind, glaubt's nur: Sterben ist kein Kinderspiel, und, wo alle Sinne nur Untergang und Vernichtung sehen lassen, doch einen Aufgang glauben, ist noch weniger ein Kinderspiel! Diesen unmittelbaren Eindruck von Grab, Sarg, Moder und Todtengeruch zu überwinden, dazu gehört mehr als ein bloßes Phantasiebild von Paradies und Elysium. Dazu gehört die Bürgschaft eines Machtwortes, wie es Jesus am Grabe spricht: Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Wer nun auf einem solchen Gottesworte steht und von dem aus der Abfahrt einer gläubigen Seele zuschaut, was für ein fröhliches wohin ist das!- „Habe ich dir nicht gesagt, wenn du nur glaubtest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ so spricht er neben der Gruft voll Moder und Todtengeruch, denn vier Tage liegt die Leiche schon darin. Sehen wir nun, wie vor dem gläubigen Auge diese Herrlichkeit Gottes sich Stufe für Stufe entfaltet hat. – „Lazare komm heraus!“ ruft der, welcher die Schlüssel der Hölle und des Todes hat und siehe, in der stillen Gruft fängt es sich zu regen an, der Verstorbene kommt heraus - noch gebunden an Händen und Füßen: die Binden fallen und der Auferstandene liegt in den Armen der Schwestern! In der That was anderes ist der Tod gläubiger Christen, als eine fortgehende Entfaltung der Herrlichkeit des Vaters? Dieser Contrast der durch das ganze Christenleben sich hinzieht von innerer Herrlichkeit bei äußerer Knechtsgestalt, er stellt sich auf seinem Gipfelpunkte dar, wo unter den Krämpfen der Todesstunde die äußere Gestalt bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Aber jenes siegreiche Lazare komm heraus! tragen die wenigen schon in sich, die vor unseren Augen noch den Todeskampf im Glauben kämpfen, und damit auch die verborgene Herrlichkeit des Vaters. Noch sind Hände und Füße gebunden und das Angesicht mit dem Schweißtuch der Endlichkeit verhüllt, dennoch ist die Herrlichkeit vorborgen schon da: die Binden und das Schweißtuch werden fallen und wir werden Ihn sehen, wie er ist und uns einander sehen wir wir sind. Und ihr die ihr unter Schweiß und Thränen euch durchgeglaubt habt durch die Endlichkeit und ihre Todesmacht, wie werdet ihr dann rufen: Ja du verborgener und doch offenbarer Gott, wie hast du Alles wohl gemacht!“

O du, der du lebest von Ewigkeit zu Ewigkeit, gieb einen Friedens- und Lebenshauch in die Herzen derer, die noch ungestillte Thränen weinen. Dämpfe dies unruhige, ungläubige, fruchtlose warum? erwecke aber das heilsame wozu? Wo du unser aller Trachten hinweisest, dort muß unser Bestes seyn - das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit! O Herr, wie die Schlafenden sind wir bisher gewandelt und haben das nur Zufallende zum Ziel unseres Trachtens gemacht, hilf, daß wir nach dem rechten Ziele trachten: das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit! Heiliger Gott, gieb Kraft, daß an allen Kranken- und Sterbebetten, durch alle Trauer- und Freudentage hindurch dies einzige Ziel vor unsern Augen stehe: das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit! Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/t/tholuck/ggg-33.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain