Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Von dem seligen Vorrecht, unter die Zahl derer zu gehören, von denen der HErr sagt: Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt (Joh. 15, 16).
In Jesus, der Dein Leben und Frieden sei, sehr werte und herzlich geliebte Schwester!
Ich habe Deinen Brief vom 20. August erhalten. Er war mir wie immer angenehm, und ich lese dieselbe Wahrheit darin, die ich auch in meinem Herzen eingeprägt finde; auch wünsche ich, dass sie je länger je mehr Wahrheit in uns werden möge nach Gottes Wohlgefallen! Denn jede Wahrheit wächst mit uns auf und hat heute einen andern Glanz als gestern, sie ist wie neu. HErr, wir sind Dir übergeben, um mit uns zu tun, was Dir wohlgefällig ist. Wir lieben Dich und geben Dir die Ehre, weil Du gut bist und uns ein wenig von deiner Wahrheit, die Du selbst bist, zu kosten gibst; wir wissen nicht, was morgen sein wird, und begehren auch nichts zu wissen, als Dich allein, der uns heute genügt, und der Du willst, dass wir Dich allein beschauen sollen, Dich ganz in und mit uns schalten Lassend; dieses willst Du, und mache es daher auch zu unserem Wollen und gib uns das kindliche Vertrauen zu Dir, dass es geschehe zu deiner Verherrlichung! Amen.
Vielgeliebte, Du sprichst von dem seligen Vorrecht, unter die Zahl derer zu gehören, von und zu denen der Herr Jesus sprach: Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt. O, wie fühlt mein armes Herz diese große Wahrheit, von der ich ganz und gar nichts zu sagen weiß, die mich aber, auch ohne eigenes Bemühen und ohne daran zu denken, immerwährend so zu sagen, aus mir selbst vertreibt, um nur so ganz nackt und friedsam in Ihm zu leben, indem ich so allein das erste und beständige Warum und den Grund von allem Guten und aller Seligkeit finde, die in Zeit oder Ewigkeit in mir sein mögen. Die treuen und starken Seelen werden dieselbe Wahrheit bezeugen; aber ich weiß nicht, ob sie das von ihr fühlen, was ein armes schwaches Kind davon fühlt, das, seines Elendes und seiner allgemeinen Nichtigkeit bewusst, erfährt und weiß, dass es so zärtlich geliebt und geleitet wird, und das, nichts in sich selbst seiend, alles im HErrn hat und durch Ihn selbst zu dem vorbereitet wird, wozu es sich selbst nicht bereiten kann. Nun, der HErr mache uns immer mehr zu solchen Kindern, aus deren Munde Ihm sein Lob so angenehm ist (Matth. 21, 16)! Und dies wird geschehen, wenn das Gotteskind Jesus in uns lebt, und wir kein Leben noch Vergnügen, keine Stärke noch irgend ein anderes Gut mehr haben, als in Ihm allein. Dass also alles in uns schweige und Ihm Raum lasse, denn nur das Seinige ist rein und in Wahrheit genügend! Amen.
Du klagst mit Recht, dass es so wenig Seelen gibt, die sich nur um die Angelegenheiten des HErrn bekümmern, um Ihm allein zu gefallen. Gott weiß, was ich in dieser Hinsicht oft gelitten habe beim Anblick von Seelen, von denen ich Vollkommeneres erwartet hatte; indessen müssen wir auch hierin Nachsicht üben. Allen ist nicht alles gegeben. In des Vaters Haus sind viele Wohnungen. Manche Seelen, welche fühlen, dass man etwas von ihnen erwartet, wozu sie weder Kraft noch Mut haben, werden missmutig oder ganz abwendig; bei andern muss man, um größerem Übel vorzubeugen, viel Nachsicht gebrauchen und ihren Mut bei allem Gebrechlichen zu erhalten suchen, damit sie etwa auf langen Umwegen dahin gelangen möchten, während andere gerade darauf losgehen. Ja, vielleicht ist manchen ein Umweg nötig und eine unreine Seife, um sie von größerer Unreinigkeit zu säubern. Jetzt, liebe Schwester, muss ich schließen. Ich grüße Dich zärtlich in dem HErrn, unserm guten Gott, der Deine Seele ewig besitzen und nach seinem Herzen bereiten möge! Trage mich dem HErrn vor, wenn es Dir gegeben wird. Ich bleibe Dein
in Liebe verbundener Bruder im HErrn. Mülheim, den 21. September 1745.