Tersteegen, Gerhard - Briefe in Auswahl - Gott ergebene, einfältige Seelen rechnen nichts dem Zufall an, sondern erkennen in allem Gottes Fügung.
In unserm teuren Erlöser Jesus, der unser Leben und alles sei, sehr werter und herzlich geliebter Bruder!
Es war mir sehr lieb, wieder einmal ein Briefchen von Dir zu erhalten. Ich sehe daraus, dass Du in Deinem vorgerückten Alter immer noch mit einigen Schwächen zu kämpfen hast. Ach, mein Bruder! wie nichtig ist doch dieses Leben, und wie vielen abwechselnden Zufällen ist es nicht unterworfen! Indessen ergebene und einfältige Seelen trifft nichts durch Zufall; man lernt immer friedlicher alles von des HErrn Fügung annehmen, wie es kommt; man lebt beengt und doch geräumig in der Gegenwart, ohne sich viel mit trüben Fernsichten in die Zukunft abzugeben, der Führung von Gottes Güte vertrauend, die in allem waltet, und, selbst in den kleinsten natürlichen Ereignissen, das große übernatürliche Heil für uns im Auge hat. Die Anbetung Gottes und die Vereinigung mit Ihm und dem, was Ihm gefällt, bewirkt schon allein, dass wir im Grunde stets unverändert bleiben bei allen stattfindenden körperlichen oder geistigen Veränderungen, denen wir im Zeitlichen beständig ausgesetzt sind. O, der HErr schenke uns doch immer mehr diese Einfalt und Unschuld Jesu Christi, in der wir uns nur als ein dem HErrn wohlvertrautes Gut betrachten, und in allem, was uns betrifft, in unserm Gott ruhen, und kein Heil, Gut oder Stütze anderswo suchen, als nur da wo es zu finden ist, bei unserm Gott, diesem ewigen und vollkommenen Heil, das keinem Wechsel unterliegt. Zwar ist es ausgemacht, dass wir nicht sterben, ohne zu leiden, und nicht, ohne viel zu verlieren, den äußern Menschen ablegen; aber der Weg muss uns so lieblich sein, wie das Ziel, weil Gott für die Zeit nur dies von uns will. Unsre Vollkommenheit und Ruhe besteht nicht in Größe oder Niedrigkeit, sondern darin, da sein zu wollen, wohin uns Gott stellt. In friedlicher Abtötung sich zu fühlen und zu tragen, ist Gott eben so angenehm, als mit Paulus in den dritten Himmel entzückt zu werden, wenn es dem HErrn so beliebt. Wie vielen Bedenklichkeiten, Unruhen und Kummer überhebt es uns, wenn wir uns einfach dem HErrn hingeben und Ihm im Glauben anhängen und verherrlichen. Ich wünsche, dass wir diese Barmherzigkeit täglich kräftiger vom HErrn empfangen zu seiner eignen Verherrlichung in uns.
Ich muss abbrechen, lieber Bruder, Dich im Namen des Herrn Jesu grüßend und Dich im Geist seiner Liebe herzlich umarmend. Der HErr sei mit Deinem Geist, und sei Dir alles in jeder Hinsicht! Er allein kann, will und wird alle unsre Bedürfnisse durch sich selbst befriedigen und uns unter allem Druck vorbereiten durch Jesus Christus für sein ewiges Reich und für seine Herrlichkeit. Amen.
Ich bleibe durch die Gnade
Dein
in dem HErrn verbundener Bruder.
Mülheim, den 11. Oktober 1743.