Stirm, Karl Heinrich - Jesus zwölf Jahre alt im Tempel.
1. Sonntag nach Epiphan.
Zwischen der heiligen Weihnacht, in welcher der englische Lobgesang über Bethlehems Hügeln ertönt, und zwischen der Taufe im Jordan, wo aus dem geöffneten Himmel das Wort erscholl: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ liegt ein langer dreißigjähriger Zeitraum, in welchem der Heiland der Welt in der Stille und Heimlichkeit seinem künftigen Berufe entgegenreift. Wie ist das geschehen? In welcher Weise und durch welche Einflüsse von oben und von außen hat sich die zarte Pflanze in dem Garten von Nazareth allmählich zur Knospe und endlich zur Blume entfaltet? Wohl wissen wir, dass er Gottes Sohn, und sein reiner, heiliger Geist die innerste, tiefste Trieb- und Bildungskraft seines Wesens war. Aber wir wissen auch, dass er, wie unter das Gesetz getan (Gal. 4,4), so auch unter das Gesetz des Wachstums und der Entwicklung gestellt war; und wie er in allem, ausgenommen die Sünde, uns gleich werden sollte, so auch darin, dass die Kräfte seines Geistes nur allmählich und in dem Wechselspiel von Aufnehmen und Einwirken sich entfalten sollten. Wie begierig lauschen wir in der Lebensbetrachtung außerordentlicher Menschen den sparsamen Zügen, welche uns aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt werden, weil wir darin oft ein prophetisches Vorspiel dessen erkennen, was sie später geworden sind. Wer lüftet uns aber den Schleier, der über die Kindheit- und Jugendgeschichte des Erlösers ausgespannt ist?
Der menschliche Vorwitz hat ihn auf verschiedene Weise zu heben versucht. Unverfänglich zwar und an sich nicht unwahrscheinlich ist, was seine leibliche Beschäftigung betrifft, die Sage, dass er in Nazareth das Gewerbe seines Vaters, der ein Arbeiter in Holz (Luther: Zimmermann) war (Matth. 13,55), betrieben habe. Nennen ihn doch die Einwohner Nazareths ausdrücklich, „den Zimmermann“ (Mark. 6,3). Durch Betreibung eines Handwerks, womit auch der Apostel Paulus sich seinen Unterhalt erwarb (Apg. 18,3. 20,33-35. 2 Kor. 11,8 folg.), war er nach damaliger Sitte auch von der höchsten Bildung seines Volks nicht ausgeschlossen. Aber die wundersüchtige Phantasie hat jenen rätselhaften Zeitraum zwischen dem wundervollen Anfang und dem wundervollen öffentlichen Wirken des Erlösers mit allerlei grotesken Fabeln, wie sie in den apokryphischen Evangelien vorliegen, ausgefüllt. So soll der Knabe seinem Lehrer, der ihm das Alphabet beibringen wollte, sofort die geheimnisvolle Bedeutung der einzelnen Buchstaben aufgeschlossen haben, so dass dieser ausrief: Wehe mir! ich vermag nicht die Kraft seines Blicks zu ertragen, noch seine klare Rede. Auf der anderen Seite hat die Wunderscheu, die auch das treibende göttliche Prinzip in Jesu verkennt, seine Weisheit aus allerlei menschlichen Quellen, bald aus den Mysterien Ägyptens oder der orientalisch-griechischen Philosophie, bald aus dem Umgang mit der Sekte der Essener oder aus dem Unterrichte der Rabbinen oder gar der Sadduzäer abzuleiten versucht, während die evangelische Geschichte bezeugt, dass er einen eigentlich gelehrten Unterricht, eine nach unseren Begriffen wissenschaftliche Bildung nicht erhalten hatte (Matth. 13,54 folg. Joh. 7,15 folg.).
Nur einmal wirft die evangelische Geschichtserzählung einen Lichtstrahl in jenen dunkeln Zeitraum, wenn sie von dem ersten Besuche Jesu im Tempel uns berichtet. Eine kostbare Perle diese Erzählung. Und welch' ein glänzendes Zeugnis für die geschichtliche Nüchternheit des Evangelisten Lukas, dass er aus jener verhüllten Zeit, welche der dichtenden Phantasie den vollsten Spielraum bietet, nur diesen einen Zug uns zu erzählen weiß, diesen einen Lichtblick aus den Vorräumen der öffentlichen Geschichte. Aber dieser eine Zug - wie bedeutsam und inhaltsreich ist er. Wie wirft er seine Strahlen rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft, gleich jenen heiligen Gemälden, wo von dem göttlichen Kind in der Mitte alles Licht auf die Umgebungen ausstrahlt. Wie offenbart er uns das verborgene Wachsen und Werden des Kindes bis zu dem Momente, wo das höhere göttliche Bewusstsein in ihm hervorbricht, und lässt uns die künftige Größe und Hoheit des Welteilandes ahnen. Und wie zeigt er uns zugleich das Bedürfnis des lernbegierigen Kindes, durch Unterredung mit den Schriftgelehrten seines Volks tiefer in den Geist des Gesetzes und der prophetischen Schriften eingeführt zu werden. Wie stellt er uns das Bewusstsein seiner höheren göttlichen Bestimmung in der vollkommenen Einheit mit dem Gehorsam gegen diejenigen dar, welche für die Zeit seiner kindlichen Entwicklung die irdischen Repräsentanten seines himmlischen Vaters waren.
Jesus hatte im Kreis der heiligen Familie das zwölfte Jahr erreicht. Es war dies das Alter - etwa dem fünfzehnten Jahr bei uns entsprechend -, welches nach jüdischer Sitte den Übergang aus der Kindheit in das Jünglingsalter bildete, und mit welchem die Verpflichtung zum Halten des Gesetzes und zugleich der selbstständige Anteil an den gottesdienstlichen Gebräuchen verbunden war. Die Knaben hießen von diesem Zeitpunkt an „Söhne des Gesetzes“. Darum nahmen ihn seine Eltern, als sie nach ihrer Gewohnheit auf das Osterfest gingen, wohnt zum ersten Mal mit nach Jerusalem. Wie mag den Knaben schon längst verlangt haben, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und den Ort, da seine Ehre wohnet. Wie mag sein Herz in heiliger Freude aufgegangen sein, als er mit der jubelnden, Psalmen singenden Festkarawane hinaufzog nach Zion, diesem Anziehungs- und Sammelpunkte aller Gläubigen in Israel. Die heilige Stadt war erreicht. Die Festgenossen zerstreuten sich, teils um die Opfer darzubringen und die festlichen Mahlzeiten zu halten, teils um an den Herrlichkeiten und der sinnlichen Pracht der einzigen Stadt ihr Auge zu weiden. Ihn aber zog es vor allen in den Tempel, d. h. in eine der an dem Tempel angebauten Hallen, wo die berühmtesten Gesetzeslehrer ihre Vorträge hielten. Da saß er „mitten unter den Lehrern, dass er ihnen zuhörte und sie fragte.“
Es ist eine häufige Vorstellung, dass der Knabe Jesus im Tempel gelehrt habe, wie wenn mitten unter den Rabbinen eine Lehrkanzel für ihn errichtet worden wäre, Fragen aufzulösen und andere aufzuwerfen. Ein apokryphisches Evangelium lässt ihn bereits den Rabbinen Fragen aufgeben, wie die (Matth. 22,41 folg.): wie er denn Davids Sohn sein könne, während ihn David seinen Herrn nennt. Aber ein lehrendes, demonstrierendes Kind - und als solches müssen wir Jesum, auch wenn er eben wohnt im Begriff war, den kindlichen Verhältnissen zu entwachsen, uns denken - ist eine abenteuerliche Vorstellung, die am wenigsten zu seinem demütigen Sinne passt. Die evangelische Erzählung gibt dazu keinen Anlass. Denn selbst die Verwunderung der Zuhörer galt hauptsächlich dem Verstande, der aus seinen Antworten hervorleuchtete (V. 47). Fragen und Antworten, d. h. die dialogische Form war die gewöhnliche Art des Unterrichts der Schriftgelehrten. So erzählt Josephus in seinem Leben (S. 2) von sich, dass, als er vierzehn Jahr alt war, die Priester der Stadt bei ihm zusammenkamen, um Fragen über das Gesetz ihm vorzulegen. So antwortete denn Jesus auf die vorgelegten Fragen - ohne Zweifel aus dem Schatz der Erkenntnis heraus, den er bereits durch fleißigen und in den Kern der Sache eindringenden Umgang mit dem Gesetze und den Propheten sich gesammelt hatte, und erleuchtet von seinem reinen, lauteren Wahrheitsgefühle. Eben durch die Fragen wurde der verborgene Reichtum seines inneren Lebens zur Entfaltung gebracht und wie durch das Anschlagen des Steins am Stahl die Leuchte seines Geistes hervorgerufen. Aber er wusste auch zu fragen, als ein noch nicht wissender, um an Klarheit und Sicherheit der Erkenntnis zuzunehmen, um von Weisheit zu Weisheit zu wachsen. Und wahrlich - recht zu fragen, am rechten Orte zu suchen, ist keine geringere Kunst, als recht zu antworten. Sagt doch Hamann: „Kindern zu antworten, ist in der Tat ein examen rigorosum.“ Und wiederum: „Wer Schriftgelehrten und Sophisten den Mund stopfen will, muss Fragen zu erfinden wissen.“ Was mag er alles gefragt haben? Und wie mag er durch seine kindlich reinen, auf das Schriftwort gegründeten Fragen die Schriftgelehrten mit ihren Satzungen ins Gedränge gebracht haben!
Doch hier eben drängt sich dem Leser dieser einfachen Geschichte ein gewichtiges Bedenken auf. Wer waren denn diese Schriftgelehrten, zu deren Füßen Jesus als aufmerksamer Zuhörer saß? Sind es nicht dieselben, gegen welche er nachher in seinem öffentlichen Lehramt so harte und bittere Vorwürfe erhob, welchen er Schuld gab, sie verwalteten die ihnen anvertrauten Schlüssel des Himmelreichs so, dass sie nicht nur selbst nicht hineinkommen, sondern auch anderen wehrten hineinzukommen? Sollte er, was er nachher tadelte, damals nicht geahnt haben? Aber seine Erkenntnis von göttlichen Dingen muss damals, da sich alle über seine Einsicht verwunderten, und da er sich, wovon nachher, schon eines besonderen Verhältnisses zu seinem himmlischen Vater bewusst war, bereits eine ziemlich entwickelte gewesen sein. Einen Irrtum aber, der in so wichtigen Dingen nicht ohne Sünde wäre, eine Täuschung über den Wert der Vorträge jener Lehrer dürfen wir bei ihm nicht annehmen. Gewiss hat sich in ihm das Gefühl geregt, dass ihre Erklärungen über den Willen Gottes und die göttlichen Verheißungen nicht aus der Tiefe der Schrift geschöpft seien, dass sie nicht die rechte Speise den hungrigen Seelen darbieten. Gewiss hat er im Umgang mit ihnen mehr gegeben, als empfangen. Aber doch mag er im geschichtlichen Wissen, in allem, dessen Erkenntnis schon mehr eine gelehrte Bildung erforderte, sich von ihnen gefördert gefühlt haben. Was aber die Hauptsache ist - sein künftiger Beruf, wo er mit den Häuptern des Volks so manche Streitreden zu führen hatte, erforderte auch eine genauere Kenntnis ihrer Lehrweise und ihrer Ansichten. Sein späterer strenger Tadel konnte nur dann ein gegründeter sein, wenn er mit ihrer Scheinweisheit, ihren verschrobenen und schriftlosen oder schriftwidrigen Lehren sich genauer bekannt gemacht, wenn er die gewaltige Kluft, welche zwischen ihm und ihnen bestand, sich zum klaren Bewusstsein gebracht hatte. Darum blieb er so lange in ihrer Mitte und darum traf er wohl auch mit seinen Fragen so manche schwache Seite ihres Systems, während er wohl die echten und gesunden Elemente, die in der religiösen Bildung seines Volkes lagen, in sein empfängliches Gemüt aufnahm.
Diese religiöse Unterredung, dieses Interesse an göttlichen Dingen hatten den Knaben so dahingenommen, dass er darüber die Zeit der Abreise vergaß. Die Eltern reisen ohne ihn ab, meinend, er wäre unter den Gefährten, und hoffend, ihn Abends an dem für die Nazarethaner bestimmten Sammelplatze zu finden. Aber vergebens suchen sie ihn unter den Gefreundeten und Bekannten, sie kehren um nach Jerusalem und am dritten Tage finden sie ihn im Tempel.
Man glaubt es mit der Sorgfalt, die man bei den Eltern Jesu voraussetzt, nicht reimen zu können, dass sie das ihnen anvertraute Himmelskind so lange aus den Augen gelassen, ja man rechnet es der Maria als Nachlässigkeit und Pflichtvergessenheit zu, dass sie den höchsten Gottesdienst, die Hut des göttlichen Kindes, verabsäumt habe, um den Zerstreuungen des sinnlichen Jerusalems zu folgen. Allein wer weiß, ob die Eltern ihren Sohn nicht selbst vor allen in den Tempel gewiesen und dabei nur voraussetzten, dass er von selbst mit dem Ende des Festes sich wieder bei der Karawane einfinden werde? Bei der genauen Kenntnis von seiner Besonnenheit und seinem Charakter konnten sie ihn wohl auch etwas freier gehen lassen, ohne sogleich Gefahr zu befürchten. Bedenkt man aber das Festgetümmel bei der Abreise (es versammelten sich am Osterfest über zwei Millionen Menschen in Jerusalem), wobei es schwierig war, dass jede Familie sich sogleich zusammenfand; bedenkt man, dass die Karawanen häufig Truppweise abzogen, so dass die Zusammengehörigen oft erst Abends am gemeinschaftlichen Standort sich vereinigten: so war das Vertrauen der Eltern, ihr Kind Abends bei den Gefreundeten zu finden, ein wohlbegründetes, und wir werden den Vorwurf der Nachlässigkeit und Pflichtvergessenheit zurückhalten müssen.
Natürlich ist aber die erwachende Sorge der Eltern, als sie sich Abends in ihren Erwartungen getäuscht sahen, und ihr eifriges Suchen nach dem Sohne, bis sie ihn im Tempel finden, wo sie ihn freilich zuerst hätten suchen sollen. Natürlich der Vorwurf der Mutter: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Es ist dies der erste Verweis aus der Mutter Munde, aber mit Zartheit nur in die Form einer Frage gekleidet. Bisher hatte der Sohn den Eltern noch keine Schmerzen gemacht, sie hatten, wenn auch manches zu weisen und zu erinnern, doch nichts zu verweisen gefunden. Jetzt will die Mutter ihm sagen: was du diesmal getan hast, verstehe ich zum ersten Mal nicht.
Aber eben diese leise Rüge der Mutter entlockt aus des Knaben innerstem Heiligtum das große Wort, worin zum ersten Mal das Bewusstsein seiner höheren göttlichen Bestimmung die menschliche Hülle durchbricht. „Was ist's, dass ihr mich gesucht habt! wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist!“ Er will sagen: das scheinbare Vergeben von meiner Seite ist kein Ungehorsam, sondern nur der Akt eines höheren Gehorsams. Ich bin nur dem stärkeren Zuge nach oben, der zu meinem Wesen gehört, gefolgt. Meine zeitweilige Ablösung von den irdischen Eltern war nur ein festeres Anschließen an meinen himmlischen Vater, und zwar als ein heiliges Muss. Und dieses Verfahren scheint ihm so natürlich, als verstünde es sich von selbst, als müssten das auch seine Eltern wissen, deren Suchen mit Schmerzen, als könnte er irgendwie in Gefahr sein, darum ganz unnötig sei. So liegt das Beschämende seiner Antwort für die Eltern in der Sache selbst. „In dem, das meines Vaters ist“, damit meinte Jesus freilich zunächst das Haus seines Vaters, den Tempel, die Stätte der Anbetung und Belehrung über göttliche Dinge, der er sich so ganz hingegeben hatte. Aber schon, dass er nicht sagt, „im Hause meines Vaters“, sondern „in dem, das meines Vaters ist“, weist darauf hin, dass unter der Oberfläche dieses Ausdrucks ein tieferer, inhaltsreicherer Kern verborgen ist. Der irdische Tempel ist ihm nur ein Abbild seiner wahren Heimat, die im Himmel ist. Himmlische, göttliche Dinge, die großen Taten und Verheißungen Gottes sind es, worin er sein, d. h. leben und weben, denen er sich ganz hingeben muss, die seine Speise, sein Lebenselement sind. Ja, indem er sagt: „meines Vaters“, indem er dies dem Worte der Mutter „dein Vater und ich“ entgegenhält, eignet er sich den himmlischen Vater in ausschließlicher, persönlicher Beziehung zu. Wir würden zwar zu weit gehen, wenn wir darin schon das klare, bestimmte Bewusstsein seiner Messianität, wie er es später ausgesprochen hat, finden wollten. Aber die Ahnung eines eigentümlichen Verhältnisses zu seinem himmlischen Vater, der in Ahnung verhüllte Keim seines göttlichen Wesens ist doch da, ihm nicht später erst hinzugekommen, sondern hat sich nur allmählich zur Klarheit des Bewusstseins entfaltet. Es ist noch ein echt kindliches Wort, das aber in seiner Tiefe die Reife des vollkommenen Mannesalters (Eph. 4,13) weissagt. Und das Sein in dem, das seines Vaters ist, war für ihn im Innersten auch ein Lernen vom Vater, wenn schon nicht ohne äußere und menschliche Vermittlung.
Die Eltern freilich verstunden das Wort nicht, das er mit ihnen redete. Zwar ganz ohne Verständnis können sie nicht gewesen sein. Denn sonst hätte Maria nicht alle diese Worte so tief in ihrem Herzen bewahrt (V. 51). Sie meinten nur nicht mit dem Hören des nächsten Sinnes das Wort in seiner Tiefe schon ganz verstanden zu haben. Sie hatten eine Ahnung von des Wortes tieferem Sinn, aber noch kein klares Verständnis. Denn die Entwicklung des Kindes ging vor ihren Augen so menschlich-natürlich vor sich, dass sie, im Verlauf der Tage daran gewöhnt, das Höhere in ihm manchmal vergessen konnten und wohl mehr ein unbestimmtes Gefühl seiner Vortrefflichkeit hatten. Scheint doch Maria, wie die anderen, vor Pfingsten das Geheimnis seiner Person nicht verstanden zu haben. Und auch darin können wir eine providentielle Fügung bezüglich seiner Erziehung anerkennen, ohne welche sonst etwas Unnatürliches in dieselbe gekommen wäre. Denken wir uns, Maria hätte das klare Bewusstsein des spezifischen Unterschiedes ihres Kindes von allen Menschenkindern gehabt und sie hätte zu dem selben gesagt: du bist der Sohn des Allerhöchsten; so hätte sein persönliches Bewusstsein über das seiner Mitmenschen sich erheben müssen, und dies wäre störend für seine Ausbildung gewesen. Hätte sie es aber ihm verschwiegen, so wäre etwas Unnatürliches in die Behandlung des Kindes gekommen, dessen göttliche Würde sie hätte anerkennen müssen und welches sie doch leiten und erziehen sollte. Erst als in ihm selbst das Bewusstsein seiner höheren Bestimmung aufgegangen war, als er der elterlichen Führung weniger bedurfte, weil er in der Führung seines himmlischen Vaters sich geborgen wusste, mochte auch den Eltern ein helleres Bewusstsein über die Eigentümlichkeit ihres Kindes aufgehen.
Gleichwohl zeigt Jesus auch wohnt noch die echte Kindesart, ein Vorbild für alle Kinder. Denn „er ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth und war ihnen untertan.“ Nicht das Aufleuchten seines erhabenen Berufs, nicht der Eindruck des bewundernden Lobes der Zuhörer, nicht das Gefühl der Unsicherheit und Angst im Benehmen der Eltern konnte ihm zu einem Vorwande dienen, an dem kindlichen Gehorsam etwas nachzulassen. Er war ihnen untertan. Wie er später, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, das er litt, Gehorsam lernte (Hebr. 5,8), so war auch seine kindliche und jugendliche Entwicklung ein stetes Gehorsam lernen bis dahin, wo er öffentlich von seinem Vater zeugte und seine Mutter nichts mehr drein zu reden hatte (Joh. 2,4), ja wo ihm Mutter und Brüder diejenigen waren, die Gottes Wort hören und tun (Luk. 8,21).
Aber auch seine religiöse Erkenntnis, sein Selbstverständnis war noch nicht vollendet. Er nahm zu, wie an Alter, so an Weisheit. Durch den steten Umgang mit seinem himmlischen Vater und das Einströmen göttlicher Kräfte in die irdische Hülle, durch Vertiefung in die heiligen Schriften seines Volkes, durch die sabbatlichen Besuche der Synagoge in Nazareth, durch sinniges Betrachten der Wege und Führungen Gottes, wohl auch durch einen offenen Blick in die Wunder der Schöpfung, die ihm so häufig zum Symbol tieferer Wahrheiten aus dem Gebiete des Geistes diente, erweiterte und vertiefte sich seine Erkenntnis, wuchs seine Weisheit. Und in gleichem Maße ruhte auch die Gnade oder das Wohlgefallen Gottes immer völliger auf ihm. Auch bei den Menschen fand er Wohlgefallen. Denn er hatte noch nicht durch das Zeugen wider ihre Torheit und Sünde ihren Dünkel und ihre Selbstsucht verlebt. Das holdselige Bild eines geistig frühgeweckten, gehorsamen und gottergebenen Jünglings muss unwillkürlich die Liebe und Zuneigung seiner Mitbürger ihm verschafft haben.
Nach dieser Erzählung fällt wieder der Schleier und hüllt die Jugend Jesu in achtzehnjähriges Dunkel, bis der gereifte Erlöser mit dem Rufe auftritt: Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeikommen.