Steinberger, Georg - Der Gnadenstrom

Steinberger, Georg - Der Gnadenstrom

Hesekiel 47, 1 – 12

Von einem Strom ist hier die Rede, der von der rechten Seite des Tempels herausspringt und mitten durchs Land fließt, und dessen Wasser alles gesund macht, wo es hinkommt. Im 9. Vers wird dieser Strom ein Doppelstrom genannt. In diesen Doppelstrom wurde der Prophet von dem Engel hineingeführt, um erstens selbst seine heilende und belebende Kraft zu erfahren, und zweitens, um den Reichtum der Lebenskraft dieses Stromes dem Volk verkündigen zu können. Es dachte vielleicht manches beim Lesen dieser Verse: O hätten auch wir einen solchen Strom, wie gerne wollte ich hineingehen, um an Geist, Seele und Leib gesund zu werden! Gott sei gepriesen, wir haben auch einen solchen Strom! Er geht aus von dem Stuhl Gottes und des Lammes (Offbg. 22,1).

Von dem Stuhl des Lammes geht aus wie ein Strom die heilende Kraft Seines Blutes, und von dem Stuhl Gottes geht aus wie ein Strom der Heilige Geist — die Verheißung des Vaters. Und dieser Doppelstrom, den wir um der Einfachheit willen „Gnadenstrom“ nennen wollen, fließt er nicht auch mitten durchs Land? Werden nicht auch heute noch, und gerade heute, Hunderte und Tausende in diesem Strom gesund? Und geht nicht heute der Ruf lauter denn je durch die Lande:

„O Seele, ich bitte dich, komm
und such’ diesen herrlichen Strom;
sein Wasser fließt frei und mächtiglich;
o glaub’s, es fließet für dich!“

Wir wollen, um des besseren Verständnisses willen, zuerst ins Auge fassen, was von dem Strom selbst gesagt ist, und dann die vier Stationen, die viermal tausend Ellen, die der Prophet geführt wurde, ein wenig näher betrachten.

Ich möchte euer Augenmerk zuerst auf das Wort „Strom“ richten. Wenn die Schrift von der Gnade als von einem Strom redet, so will sie uns damit sagen, dass die Gnade weit über unsere Bedürfnisse hinausreicht. Es gibt viele zagende Kinder Gottes, die immer meinen, die Gnade reiche für sie nicht aus. Ich möchte sie bitten, darauf zu achten, dass Gott von Seiner Gnade redet als von einem Strom. Kannst du einen Strom ausschöpfen? Nein! Und wenn du es könntest, so kannst du doch niemals den Strom der Gnade vertrocknen machen. Nimm Gnade um Gnade aus diesem Strom, und es wird sein, als ob ein Mücklein im Rheinstrom sich satt getrunken hätte.

Wir einfachen, ungebildeten Leute tun überhaupt gut, wenn wir uns an die einfachen Ausdrücke der Bibel halten, statt uns durch dogmatische Lehrsätze Klarheit und Gewissheit verschaffen zu wollen. Nichts, was ich über Gnade und Begnadigung las, hat mein Herz so befestigt wie das Wort in 1. Petr. 1,13, wo dieselbe als „angebotene Gnade“ bezeichnet wird. Ebenso lesen wir in Hebr. 6,18, wo von der Hoffnung als von der „angebotenen Hoffnung“ geredet wird. Ich suchte kürzlich die Namen Jesu im Neuen Testament und schrieb mir dieselben in ein Büchlein und fand, was ich nie geglaubt hätte, etwa hundert Namen von Jesus. Wie groß wurde mir da der Heiland! Da merkte ich etwas von der Wahrheit des Wortes in Kol. 1,19: „Es ist das Wohlgefallen Gottes gewesen, dass in Ihm alle Fülle wohnen sollte.“ Der Herr wolle uns ein einfältiges Auge geben, zu sehen die Wunder in Seinem Evangelium, und ein einfältiges Herz, dem Er die Geheimnisse des Himmelreichs offenbaren kann. Er wolle uns Hände geben, die geschickt sind, aus Seiner Fülle zu nehmen Gnade um Gnade, damit wir nicht, wie Hagar, aus Kurzsichtigkeit neben dem Wasserquell beinahe verschmachten. Nach dem Reichtum Seiner Herrlichkeit möchte uns der Vater geben über Bitten und Verstehen; von Seiner Fülle möchte uns Jesus schenken alles, was zum Leben und gottseligen Wandel Not ist. Das zweite, worauf ich eure Aufmerksamkeit lenken möchte, sind die Worte: „Überall, wo dieser Strom hinkommt, soll alles gesund werden.“ Alles gesund! Es seufzt vielleicht manches bei diesem herrlichen Wort und denkt: Ach ja, gesund werden, wie lange schon wünsche und suche ich das!

O Seele, ich bitte dich, steige im Glauben hinein in diesen Doppelstrom; geh hinein, so tief, bis der Strom dich ganz umgibt; tauche dich wie Naeman siebenmal in diese heilende Flut, und es wird auch von dir heißen wie von Naeman (2. Kön. 5): „Und sein Fleisch ward wieder erstattet wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er ward rein.“ Das teure Blut des Lammes Gottes ist das einzige Heilmittel gegen unseren Sündenaussatz. Es ist die Salbe aus Gilead, die auch den tiefsten Schaden heilt (Jer. 8,22); es ist der Born, der alle Sünde und Unreinigkeit abwäscht (Offbg. 7,13-17); es ist der Quell, der unser Gewissen reinigt von den toten Werken (Hebr. 9,14).

Wenn ein Mensch versöhnt ist durch das Blut des Lammes, so ist dem Heiligen Geist Bahn gemacht in ein Herz. Nun fängt die Erziehung an. Der Geist, diese himmlische Tinktur, möchte jedes Teilchen unseres Wesens durchdringen, jedes Gebiet unseres Lebens durchheiligen, uns durch und durch gesund machen. Von Natur sind wir so salzige, ungenießbare, trübe, stinkende Teiche und Lachen, voll Schlamm und Ungeziefer. Erst wenn dieser Doppelstrom „Blut und Geist“ uns durchflutet wird dieser Morast weggespült. An die Stelle der Unreinigkeit tritt Reinheit, an die Stelle der Unheiligkeit tritt Heiligkeit. Mit den Gliedern, mit denen wir früher dem Tode Frucht gebracht, machen wir jetzt das Leben Jesu offenbar. Wie wir früher ein Fluch waren, so sind wir jetzt ein Segen; wie wir früher ein Todesgeruch waren, so sind wir jetzt ein Lebensgeruch.

Aber nicht nur Geist und Seele, sondern gewiss hat auch der Leib Anteil an diesem Segen. Der Leib, der ein Tempel des Heiligen Geistes geworden ist, darf bald die göttliche Kraft erfahren, die er aufgenommen hat.

Ein weiterer Punkt, der unserer Beachtung wert ist, sind die Worte in Vers 12, wo von den Bäumen an den Ufern dieses Stromes gesagt ist: „Sie bringen alle Monate neue Früchte, denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum.“ Sie sind fruchtbar! Und warum? Ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. O wie außerordentlich wichtig sind diese Worte! Welchen Blick öffnen sie uns für ein fruchtbares Leben! Frucht, neue Frucht bringen nur die, die ihr Wasser, d.h. ihre Kraft, aus dem Heiligtum haben, die ihre Wurzeln in Jesus haben, die in Jesus sind, die sagen können mit dem Psalmisten: „Alle meine Quellen sind in Dir.“ Frucht ist mehr als Erfolg. In der Frucht ist Leben, das sich fortpflanzt. Neue Frucht bringen will sagen: Immer neue Schönheiten des Bildes Christi sollen an uns offenbar werden; immer weitere Grade in der Gnade sollen an uns zu sehen sein; immer größere Einfalt, Reinigung und Heiligung soll an uns bemerkbar sein. Das kann aber nur der Fall sein, wenn Jesus stündlich und augenblicklich der Arbeiter in unserer Seele ist; „denn wir werden verklärt in dasselbe Bild als vom Herrn, der der Geist ist“ (2. Kor. 3,18).

Jesus in uns, die Hoffnung der Herrlichkeit! Jesus in uns, das Geheimnis des Sieges und der Fruchtbarkeit! Wollen wir, die wir an anderen arbeiten, nicht ein wenig vor diesem Verslein stehen bleiben? Wo sammeln wir, wenn wir leer sind? Wo sind unsere Quellen, aus denen wir schöpfen? Wo bereiten wir die Arznei für die Kranken? Wo suchen wir das Brot für die Hungernden? Im Heiligtum? Aber das Geheimnis der Fruchtbarkeit ist nach diesem Vers nicht sammeln für andere, sondern für sich und geben von dem, was wir für uns aus dem Heiligtum empfangen haben, und was an uns sozusagen reif geworden ist. Der Herr wolle uns in so enge Verbindung mit sich bringen, dass stündlich Seine Kraft durch uns fließen kann und Christus in uns der Gebende wird.

Das letzte, was ich von diesem Strom erwähnen möchte — und was zu unserem eigentlichen Thema führt —, ist, dass der Prophet in diesen Strom hineingeführt wurde. Er sollte nicht schöpfen aus dem Strom, noch viel weniger sein Wasser nur versuchen, sondern er sollte hineingehen, und zwar immer tiefer, bis der Strom ihm unergründlich und er von demselben getragen würde. Was will uns das sagen? Es will uns sagen, dass Gnade unser Element werden muss, dass Gnade vor uns, hinter uns, über uns, unter uns sein soll, dass wir in der Gnade leben und weben.

Freilich hat das seine Stufen. Es gibt viele Grade in der Gnade. Es gibt im geistlichen Leben sehr viel Wachstum und Reifen. Was ausgewachsen ist, ist darum noch nicht ausgereift. Es gibt, wie wir hier sehen, Stationen; von 1000 zu 1000 Ellen wurde der Prophet geführt. Wir lesen: „Und der Mann ging heraus gegen Morgen und hatte die Mess-Schnur in seiner Hand, und er maß tausend Ellen und führte mich durchs Wasser, dass mir’s an die Knöchel ging.“ Was heißt das für uns, bis an die Knöchel in den Gnadenstrom gehen? Ich denke, Vergebung der Sünden empfangen. Durch Vergebung sind unsere Füße auf den Weg des Friedens gestellt, sind wir auf den Boden der Gnade getreten. Vergebung der Sünden wäre somit die erste Station auf dem Gnadenweg, der erste Knoten in dem aufsprießenden Halm. Wenn wir einen Weizenhalm betrachten, so finden wir, dass er auf gewisse Längen immer wieder einen Knoten angesetzt hat, der dem Halm und der darauf ruhenden vollen Ähre den Halt gibt. Ähnlich ist es im Christenlauf. Es gibt sozusagen Knotenpunkte, wo irgendeine Heilswahrheit sich in uns abklärt und festsetzt und zugleich der Boden wird, auf dem weitere Wahrheiten und Erfahrungen sich gründen. Ein solcher Knoten — und ich möchte sagen der erste — in dem Halm ist die Gewissheit der Vergebung der Sünden, und zwar aller Sünden, das gläubige Erfassen der Versöhnung in Jesu Blut, der Augenblick, wo das, was Jesus am Kreuz vollbracht, uns aufgeht und uns zur unumstößlichen Tatsache wird, so dass man aus tiefster, persönlicher Überzeugung und Gewissheit mit dem Dichter jubeln kann:

„So wahr die Sonne am Himmel dort pranget,
so wahr hab’ ich Sünder Vergebung erlanget!
Bis aufs Schwören kann ich’s wissen,
dass der Schuldbrief ist zerrissen!“

Das ist die erste, bestimmte Erfahrung, die wir auf dem Glaubensweg machen müssen. Fehlt uns diese, sind wir hierüber in Unklarheit, so liegt überhaupt alles Weitere für uns im Nebel. Gott kann uns nicht weiterführen, und versuchen wir es selbst oder andere mit uns, so müssen wir nur zu bald erfahren, dass unser ganzes Christentum kein Rückgrat hat. Wir sind nicht aus Wasser und Geist geborene Leute, sondern von Menschen überredete Leute. Der Geist Gottes konnte an uns nicht Seine erste Arbeit tun. Und Seine erste Arbeit ist noch Johannes 16,8, uns von unserer Sünde zu überzeugen. Hat Er diese Arbeit tun können, so tut Er auch die zweite, nämlich von der Gerechtigkeit in Jesu oder besser von Jesus als unserer Gerechtigkeit uns zu überzeugen. So bekommt man einen Halt, eine göttliche Gewissheit, weil man nicht von Menschen, sondern vom Heiligen Geist überzeugt und versiegelt ist. Und als Frucht dieser Gerechtmachung genießen wir nach Rom. 5,1 den Frieden mit Gott oder nach Hebr. 9,14 den Gewissensfrieden.

Aber Vergebung der Sünden ist nur das Eingangstor in das Land des Heils. Viel Land ist noch einzunehmen. Durch die Vergebung der Sünden ist die Scheidewand zwischen uns und unserem Gott hinweg getan. Jesus, der große Hohepriester, hat uns mit Seinem Blut nicht nur Gott versöhnt, sondern hat uns auch durch dasselbe einen neuen und lebendigen Weg bereitet zum Gnadenthron. Durch Ihn haben wir den Zugang zum Vater, und durch den Geist, der uns gegeben ist, rufen wir: „Abba, lieber Vater!“ So kommen wir in persönlichen Umgang, in persönliche Verbindung mit Gott. Und das ist die zweite Station auf dem Gnadenweg, der zweite Knoten, der sich bildet in dem Halm. Der „Christus für uns“ muss „Christus in uns“ werden. Christus muss in uns eine Gestalt gewinnen; Er muss aus uns widerstrahlen. Aber dies kann nur sein, wenn wir uns Ihm öffnen, wenn wir Seine Strahlen fassen. Dies können wir am besten in der Stille, auf den Knien. Da wird der Anfang gemacht. Wir lesen hier: „ Und er maß abermals tausend Ellen und führte mich durchs Wasser, dass mir’s an die Knie ging“ Was heißt das, bis an die Knie in den Gnadenstrom gehen?

Es heißt ganz einfach: Unsere Knie in den Dienst der Gnade stellen, ein Beter werden, ein Mensch werden, der Kleines und Großes, Äußeres und Inneres wie ein Kind mit dem Vater bespricht, der weiß, wohin mit seinen Nöten und Verlegenheiten, der seine Stärke und Erholung auf den Knien sucht, dessen liebster Platz auf den Knien zu Jesu Füßen ist. Auf diese Weise bekommen wir ein persönliches Christentum.

Wir müssen lernen, selbst aus den Brunnen des Heils das Wasser des Lebens zu schöpfen, sonst kann es sein, dass wir sehr oft stagniertes Wasser trinken müssen; wir müssen lernen, selbst aus Jesu Fülle zu nehmen Gnade um Gnade, sonst kann es sein, dass wir sehr oft nur karge Teile oder gar Steine statt Brot erhalten; wir müssen in persönlichen Umgang mit Jesus, dem lebendigen Weinstock, treten, so dass Seine Lebenskraft aus Ihm direkt uns zuströmen kann. Und das kann nirgends besser geschehen als auf den Knien. Es sagte jemand: „Das Band, das uns mit Jesus unzertrennlich verbindet, wird auf den Knien geknüpft und gestärkt durch steten Gehorsam.“ Ich lese seit zwei Jahren oft die Bibel auf den Knien, und zwar so, dass ich aus jedem Vers ein Gebet mache. Und das sind meine segensreichsten Stunden. Bin ich müde und ausgeleert, hier finde ich Geist, Kraft und Leben; bin ich matt und hungrig, hier finde ich das lebendige Brot; bin ich elend und dürstend, hier finde ich das lebendige Wasser; bin ich schwach und krank, hier finde ich beides, Wein und Milch. Hier fängt das verborgene Leben mit Christus in Gott an; hier ist es, wo man die Kräfte der zukünftigen Welt schmecken darf; hier, wie sonst nirgends, erfährt man, dass Jesus lebt und sich den Seinen naht.

Jedes Nervlein darf die Kraft Seiner Gegenwart fühlen und die Erquickung Seiner Nähe genießen.

„Ich hab’ sel’ge Stunden
oft bei Dir, o Herr;
aus Dir Kraft empfunden,
wenn mein Herz ward schwer!“

Beten ist ein Anrühren Gottes. Das blutflüssige Weiblein verstand dieses Anrühren. Das Volk drängte und drückte Jesus und empfing nichts; aber das Weiblein rührte Ihn an und empfing eine Kraft.

Haben wir dieses Anrühren Gottes für uns persönlich gelernt, so wird uns der Heilige Geist noch einen Schritt weiterführen und uns auch das Anrühren Gottes für andere lehren. Wir lernen die Stellung einnehmen, die in Offbg 1,6 beschrieben ist, wo es heißt: „Der uns geliebt hat und gewaschen von den Sünden mit Seinem Blut und hat uns zu Königen und Priestern gemacht vor Gott und Seinem Vater.“ Wir lernen verstehen, dass wir in erster Linie die Sache der Menschen vor Gott vertreten sollen und nicht die Sache Gottes vor den Menschen. Wir lernen die Nöte, Verlegenheiten und Fehler anderer in unseren Busen sammeln — nicht in den Kopf, um sie dann bei erster bester Gelegenheit anderen zu erzählen — und auf Händen des Gebets sie Gott zu bringen. Denn die Priester müssen heilig umgehen mit den Unheiligkeiten anderer.

Jesus hat diese Priesterstellung in vollkommenster Weise ausgefüllt. Und Er hat uns auch hierin ein Vorbild gelassen. Wir lesen schon in Jes. 53,11 von ihm: „Darum, dass Seine Seele gearbeitet hat.“ Jesu Seele hat gearbeitet; des Nachts allein auf den Bergen, in den öden Örtern, wohin Er sich immer wieder zurückzog, in Gethsemane, da hat Seine Seele gearbeitet, da hat Er Gebet und starkes Geschrei mit Tränen geopfert. Gebet ist Seelenarbeit. Und diese Seelenarbeit, diese Arbeit im Kämmerlein, muss jeder öffentlichen Arbeit vorausgehen, wenn sie gesegnet sein soll. Ich muss erst indirekt an einer Sache arbeiten, bevor ich sie direkt in Angriff nehme. Die fruchtbarsten Arbeiter im Reiche Gottes waren Beter. Am Tage der Offenbarung wird, zur Verwunderung vieler, zu manchem ungekannten und ungenannten Männlein oder Weiblein gesagt werden: „Freund, rücke hinauf“ Und auf unser Staunen und Fragen werden wir die Antwort erhalten: „Darum, dass Seine Seele gearbeitet hat!“ Ich las von einem Arbeiter im Reiche Gottes, der Hunderten eine Ursache zur Bekehrung wurde, trotzdem er nie über die Schwelle seiner Tür kam und nie öffentlich redete. Er war viele Jahre von der Gicht gelähmt. Aber seine Seele war nicht gelähmt, und mit dieser arbeitete er. Er betete um Erweckungen, und sie kamen. Niemand wusste, wie das zuging. Aber als der Alte gestorben war, fand man unter seinem Kopfkissen ein Notizbüchlein, das den Leuten das Rätsel löste. Da stand geschrieben: „Von dann bis dann um eine Erweckung gebetet; am soundsovielten eingetroffen.“ Darum, dass seine Seele gearbeitet hatte, durfte er seine Lust sehen und die Fülle haben.

Aber es sind noch tausend Ellen vor uns. Der Engel maß abermals tausend Ellen und führte den Propheten in das Wasser, dass es ihm bis an die Lenden ging. Was heißt das, bis an die Lenden in den Gnadenstrom gehen? Es will heißen: Seine Kraft und Fähigkeiten, überhaupt alles, was man ist und hat, in den Dienst der Gnade stellen. Das ist die dritte Station auf dem Gnadenweg, der dritte Knoten in dem Halm. In den Lenden ist der Sitz der Kraft.

Als Gott den Jakob verrenken wollte, rührte Er seine Lenden an. Wer seine Kraft in den Dienst des Reiches Gottes gestellt hat, hat sie damit noch nicht in den Dienst der Gnade gestellt. Das wird erst dann der Fall sein, wenn wir mit unserer eigenen Kraft gründlich zuschanden geworden sind. Wir sind wohl schon oft zuschanden geworden; aber wir müssen einmal so zuschanden werden, dass wir alles aus unseren Händen geben, weil wir gründlich davon überzeugt sind, dass nur in Seinen Händen alles wohl gerät und in unseren Händen alles missrät. Dann können wir Arbeiter, Werkzeuge Gottes werden, weil nicht wir, sondern Gott der Wirkende und Gebende ist, und weil wir mit unserer eigenen Person Gott und den Menschen nicht mehr im Wege stehen.

Wir haben schon oft das Lied gesungen: „So nimm denn meine Hände!“ Wollen wir es heute wahr machen und unserem Gott beide Hände geben? Wollen wir heute ein ganzes Opfer auf Seinen Altar legen? Nach 5. Mose 33,9 und 10 machen vier Dinge einen fruchtbaren Arbeiter aus: Selbstverleugnung, Gehorsam, Gebet und Hingabe.

Wenn ich hier von Arbeitern rede, so meine ich nicht solche allein, die in irgendeiner Reichsgottesarbeit angestellt sind, sondern alle, die Jünger Jesu sein wollen. Jeder Jünger Jesu hat auch eine Jüngeraufgabe. Nach der Schrift sind die Miterben Jesu Christi auch Mitarbeiter Jesu Christi. Aber wir können erst dann Mitarbeiter Jesu Christi werden, wenn Jesus stündlich und augenblicklich der Arbeiter in unserer Seele ist. Und das kann Er nur bei Leuten, die alles ausgeliefert haben, die mit der eigenen Stärke zu Ende gekommen sind. In deren Herzen hat Gott nach Ps. 84,6 gebahnte Wege; in deren Herzen kann Gott nach 2. Kor. 6,16 wohnen und wandeln. Da ist es nicht mehr schwer, ein Arbeiter Gottes zu sein, weil Gott in uns und durch uns arbeitet.

Es ist für einen Arbeiter im Reich Gottes sehr wichtig, dass er seine Zusammengehörigkeit mit dem dreieinigen Gott klar erkennt. Die Fruchtbarkeit der Reben beruht auf Verbindung und Reinigung. Wenn wir lesen: „Ich will in ihnen wohnen und in ihnen wandern“, so will das soviel sagen: Gott will durch uns anderen Menschen begegnen — siehe z.B. Philippus und der Kämmerer, Apg. 8,26-29; Petrus und Kornelius, Apg. 10; — Gott will durch uns andere Menschen segnen und sich ihnen mitteilen — siehe z.B. die Händeauflegung: Apg. 14,3; 19,6; 19, 11; Jak. 5,14-16; -Gott will durch uns strafend und vergebend sich anderen Menschen offenbaren — siehe z.B. Nathan und David, 2. Sam. 12,1-14. — Die Jünger in eins mit Ihm zu bringen, war die Arbeit Jesu und der erste Grund zur Sendung des Heiligen Geistes.

„Dass auch sie in uns eins seien“, war das Gebet Jesu zu Seinem Vater. Wir bilden mit dem Vater und Seinem Sohne Jesus Christus ein Ganzes, haben ein gemeinsames Interesse, nämlich die Rettung und Erlösung der Menschen und die Verdrängung der Finsternis auf dem Erdboden. Das ist jedem Kinde Gottes klar, dass es in der Rettung der Menschen ein gemeinsames Ziel mit Gott hat. Aber dieses gemeinsame Ziel bezieht sich nicht nur auf die Rettung der Seelen, sondern auch auf die Befreiung leiblicher Gebrechen.

Nicht nur vergebende, sondern auch heilende und rettende Kräfte will Gott durch uns anderen Menschen mitteilen. Freilich hat nicht jeder Baum die gleiche Frucht, das will sagen, es ist nicht jedermanns Aufgabe, die Hände aufzulegen. — Gott tut nichts unmittelbar, wenn Er es mittelbar, d.h. durch Vermittlung tun kann. Nicht der Weinstock selbst, sondern seine Reben bringen seine Kraft zum Ausdruck. Nicht der Stamm, nicht die Äste, sondern die schwachen Zweiglein geben des Baumes süße Frucht dem Menschen.

Wie die Elektrizität einer Leitung bedarf, um sich mitteilen zu können, so bedarf auch die Gotteskraft einer Leitung. — Freilich bleibt Gott in allen Dingen souverän; wir sprechen auch nur von dem gewöhnlichen Weg. — Der Vater hat Seine Kraft durch den Sohn den Menschen mitgeteilt, wie Jesus sagt: „Der Vater, der in Mir ist, tut die Werke“ (Joh. 14,10), und Jesus teilt Seine Kräfte durch Seine Gläubigen mit, wie Er in Joh. 7,38 sagt: „Wer an Mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen. Das sagte Er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an Ihn glauben.

„Nur durch den Heiligen Geist kann sich Jesus uns mitteilen, wie wir aus Eph. 3,16 und 17 so klar sehen. Ein Hauptgrund der Ausgießung des Heiligen Geistes war der, dass Jesus selbst sich Seinen Jüngern geben konnte. Und die Aufgabe des Heiligen Geistes ist keine andere, als Jesus uns zu geben. Wir dürfen darum nie den Heiligen Geist an die Stelle des Herrn Jesus setzen oder gar über Ihn, wie dies irrtümlich geschieht.

Verstehen wir diese Inwohnung Jesu, und ist sie bei uns zur Tat geworden, dann ist auch die Frage des Bleibens in Jesus und die Frage der Arbeit für Jesus eine gelöste. „Wer in Mir bleibt, der bringt viel Frucht.“ Wie viel stiller, getroster und erwartungsvoller würden wir unsere Arbeit tun, wenn dies bei uns zur Realität geworden wäre! Nicht nur Jesus, sondern auch Paulus nahm diese Stellung ein. Er glaubte an die Realität seiner Arbeit (Rom. 1,13), an die Realität seiner Gebete (Eph. 3,14-20), weil er an die Realität der Inwohnung Gottes glaubte.

Doch sind wir nicht fertig. Noch tausend Ellen sind vor uns. „Da maß er noch tausend Ellen, und es ward so tief, dass ich es nicht mehr gründen konnte; denn das Wasser war zu hoch, dass man darüber schwimmen musste und es nicht gründen konnte. „Da ist die vierte und letzte Station.“

Nun kommt auf dem Halm die volle, reife Ähre zum Vorschein. Ich kann hier nicht gut weiterreden, weil ich selbst nicht so weit bin. Ich kann nur einige Andeutungen machen, nur einige Ahnungen aussprechen. So tief in den Strom der Gnade gehen, dass man schwimmen muss, wird sagen wollen: Die Gnade muss unser Element werden, in dem wir uns bewegen. Wie das Wasser den Schwimmer umgibt, so wird die Gnade uns umgeben, dann wird wahr geworden sein, was der Dichter sagt:

„Gnade, über alle Höhen,
Gnade, tiefer als die See.
Treuer Gott, nun ist’s geschehen,
nun soll’s heißen je und je:
Ganz für Dich und nichts für mich.“

Hier vollendet sich die geistliche Reife. Wir wissen, dass ein großer Unterschied ist zwischen geistlichen Gaben und geistlicher Reife. Wir können geistliche Gaben haben, ohne damit auch die geistliche Reife zu haben. Hier ist wohl das Ausreifen der vollen Ähre. Hier ist nicht mehr Gärung, sondern Abklärung und Verklärung. Hier wird alles real, klar, rein, gemessen und taktvoll. Hier hat man gelernt, sich in den Grenzen der Gnade zu bewegen. Hier lebt man das verborgene Leben mit Christus in Gott. Hier ist man völlig in der Liebe. Hier wird in der Schmelze dem Golde der volle Glanz gegeben.

Hier fallen die Blätter von der Traube, so dass sie von der Herbstsonne gar durchsüßt und dem Auge des Weingärtners zum Abnehmen sichtbar wird. Hier gibt der Meister durch die zarten Meißelschläge dem Bilde den vollen Ausdruck des Lebens. Hier ist der vollkommene Mensch Gottes zu allem guten Werk vollkommen geschickt. Hier ist Jesus alles in allem geworden.

Man kommt hie und da mit solchen Menschen zusammen, in denen sich des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht spiegelt, in deren Worten ein Hauch aus der Ewigkeit liegt, in deren Nähe man sich wohl und frei fühlt, trotzdem uns ihre Gegenwart auch wie ein aufgehobener Finger gilt. Man spürt etwas von der Salbung, diesem himmlischen Siegel. Sie haben eine sanfte Gewalt, die Herzen gewinnt und Festungen hinweg hebt. Man empfindet eine sanfte, liebliche, einfache, erquickende, göttliche Lebenswärme, die die Seele und das Herz heilig durchwittert und durchdringt. Da sieht man mit Augen: Heiligkeit allein ist Seligkeit.

Nun, ihr lieben Freunde, bleibt für uns die wichtige Frage: Wo stehe ich?

1. Leider bleiben schon viele auf der ersten Station stehen. Sie werden keine Gnadenmenschen, kein ganzer Halm mit voller Ähre. Sie haben nur die eine Seite der Gnade erfasst, nämlich die, die unser vergangenes Leben gutmacht; aber die andere Seite der Gnade, die auch unser gegenwärtiges Leben gutmacht, die Gnade, die den ganzen Menschen durchdringt und in die göttlichen Bahnen bringt, kennen sie nicht.

Viele machen es wie der König Joas (2. Kön. 13,10-19), der anfing, als es bereits zu spät war (er fragte erst dann nach Elisa, als dieser am Sterben lag), und aufhörte, als es noch viel zu früh war. Statt fünf- oder sechsmal mit seinem Bogen zu schlagen, schlug er nur dreimal. So machen viele hinter die drei Erfahrungen — Vergebung der Sünden, Frieden mit Gott, Hoffnung des ewigen Lebens — einen Punkt. Sie haben genug! Sie lassen die Arme sinken, statt dass sie weiterschlagen würden, bis dass die Syrer, d.h. die Sünde kraftlos gemacht wäre.

Darum bleiben sie wie Joas ein Leben lang im Streit und sind beständig die Überwundenen, statt die Überwinder. Ihr Leben ist ein Leben von Fallen und Aufstehen. Solche stehen noch auf eigenen Füßen, und wer auf eigenen Füßen steht, kann jeden Augenblick fallen. Sie sind nur bis an die Knöchel in den Strom gegangen. Das wenigste von ihnen steht in der Gnade. Je tiefer man in den Strom geht, desto geringer ist die Gefahr des Fallens. Und wer so tief hineingegangen, dass er getragen wird, der kann überhaupt nicht fallen. Aber ein Leben von Fallen und Aufstehen ist das Leben in den Kinderschuhen. Man nimmt es einem Kind von ein bis zwei Jahren nicht übel, wenn es am Tag zehnmal fallt; aber wenn es bei einem zehnjährigen oder gar noch älteren vorkommen würde, müsste man da nicht mit Recht sagen: Das ist ein anormales Kind?

Sie sind wie Ephraim „ein unweiser Sohn; denn wenn es Zeit ist, tritt er nicht in den Durchbruch der Kinder“ (Hos. 13,13). Sie sind gleich den Israeliten, die in elf Tagesreisen von Horeb bis Kades-Barnea zogen, d.h. bis an die Grenze des Landes Kanaan, aber dann wieder umkehrten in die Wüste und in der Wüste starben, also nicht in das Land der Ruhe kamen. Ihr Leben ist ein Wüstenleben, statt ein Leben der Ruhe, des Genusses und des Sieges.

Diesen Stehengebliebenen lässt Gott heute sagen: „Ihr seid lang genug an diesem Berg gewesen; wendet euch und ziehet hin. Siehe da, Ich habe euch das Land, das da vor euch liegt, gegeben; gehet hinein und nehmet es ein“ (5. Mose 1,6-8. Du fragst vielleicht: Wie kann ein Stehengebliebener vorwärtskommen?

Durch Gehorsam, durch Gehen der Wege, die im Worte Gottes so klar gezeigt sind. Jesus kann nur denen helfen, die Ihm gehorsam werden (Hebr. 5,9). Warte nicht auf etwas Außerordentliches, sondern gehe sogleich mit deinem Herzen in den völligen Gehorsam ein. Gib Gott dein Ohr; gib Ihm den Willen deines Herzens; gib Ihm deine Hände, so wird Er dich tausend Ellen weiterführen in den Strom der Gnade.

2. Warum viele, die auf dem Wege zur zweiten Station sind, nicht in einen innigen Umgang mit Gott kommen, nicht ein Gebetsleben finden, ist der gleiche Grund wie bei den vorhin erwähnten, nämlich der Ungehorsam. Ihr Herz verdammt sie immer wieder, weil sie ungehorsam waren. Jeder Ungehorsam bringt Misstrauen gegen Gott ins Herz. Nur gehorsame Kinder sind freudige Kinder, freudig auch im Bitten. Gehorsam fließt aus der Selbstverleugnung. Darum sagt jemand mit Recht: „Gebet und Selbstverleugnung sind zwei unzertrennliche Schwestern. Sowie du eine verlassest, verlässt dich die andere. Sobald eine verloren geht, kostet es auch der anderen das Leben.

„Nur wer in Harmonie mit Gott ist, betet gern.“

Es kann auch sein, dass der Grund des Zurückbleibens, wie bei den Kolossern, Mangel an Erkenntnis ist. Zwei Dinge sind vor allem nötig, wenn man ein Beter werden will: erstens, dass ich klar erkenne, was Gottes Ziel mit mir ist, und zweitens, dass ich in voller Klarheit darüber bin, wie nahe oder wie ferne ich diesem Ziele in meinem praktischen Leben bin. Wo dies nicht der Fall ist, liegt überhaupt unser ganzes Gebetsleben noch im Nebel.

Andere werden darum keine Beter, weil sie von dem seligen Vorrecht der Fürbitte keinen Gebrauch machen. Es sagte mir einmal jemand: „Es kommt erst dann ein Zug in mein Gebet, wenn ich mit der Not anderer anfange.“ O wie viele, sonst liebe Kinder Gottes, stehen da noch müßig am Markt. Und der Herr möchte heute gewiss zu manchem sagen: „Gehe auch du hin in den Weinberg!“ Ist auch Fürbitte Arbeit im Weinberg? O ganz gewiss! Du kannst vielleicht nicht öffentlich arbeiten; aber arbeite im Kämmerlein; du arbeitest nicht umsonst (Matth. 6,6). Du kannst vielleicht nicht in den vordersten Reihen kämpfen; aber nimm deinen Platz im Hinterhalt; denn der Hinterhalt, d.h. die Beter, nehmen die Städte ein (Jos. 8; Richt. 20,26-37). Du kannst vielleicht nicht mit Josua ins Tal gehen und stehen vor Amalek; aber stehe wie Moses vor Gott auf des Hügels Spitze und halte den Stab des Gebets in die Höhe; denn das Aufheben des Stabes entschied den Sieg (2. Mose 17,8-13). Baue nicht wie Lot nur deine Hütte, d.h. lebe nicht dir selbst, sondern baue wie Abraham dem Herrn einen Altar, auf dem geschrieben steht:

„Nicht nur für mich selbst zu beten
liege ich vor Deinem Thron.
Viele wollst Du noch erretten,
vielgeliebter Menschensohn.“

3. Was viele auf dem Wege zur dritten Station aufhält, ist das Hängen am eigenen Leben und die Furcht vor dem Bankrott. Die Hingabe an den Herrn, die ihre Stufen hat, ist umso völliger, je mehr die Seele ihr Elend erkennt. Wir haben an den bankrotten Ägyptern ein treffendes Beispiel hierfür (1. Mose 47,13-25). Da sehen wir, wie stufenweiser Bankrott sie zu stufenweiser Hingabe führte. Im Anfang der Teuerung brachten sie Joseph ihr Geld — das Selbstverständliche, was man sozusagen zum Weggehen hat —; dann, als die Teuerung wuchs, brachten sie ihr Vieh, das war schon mehr; dann ihr Feld, das war noch mehr; und zuletzt ihre eigene Person, das war nun alles. —

So weit will es Jesus, der himmlische Joseph, mit uns bringen, dass wir Seine Leibeigenen werden, Menschen, über die Er volles Verfügungsrecht hat.

Wenn wir Jakobs Leben mit Aufmerksamkeit betrachten, tritt uns das eine besonders klar vor das Auge, wie sein Leben von Pniel an (1. Mose 32) ein ganz anderes wurde. Von da an war er ein Zeuge; von da an hatte er einen Altar; von da an hatte er Autorität in seinem Hause; von da an verstand er Gott und Seine Offenbarungen, was vorher nicht der Fall war. Vorher zeigte ihm Gott, z.B. auf seinem Wege Esau entgegen, Seine Engelheere, um ihm damit eine Versicherung zu geben, dass er sich nicht fürchten müsse und dass derer, die bei ihm sind, mehr sind denn derer, die bei Esau sind. Jakob sah die Engelheere und rief sogar aus: „Dies ist das Heerlager Gottes. Und er nannte den Namen desselbigen Ortes Mahanaim.“ Ist das nicht ein treffliches Bild von uns? Man sieht die Dinge, macht andere noch darauf aufmerksam, gibt der Sache sogar einen Namen; aber im Grunde hat man sie doch nicht und weiß nichts damit anzufangen, wie Jakob mit den Engelheeren. Die Beweise Seiner Gegenwart und Seiner Freundlichkeit gehen nutzlos an uns vorüber, solange man durch eigene Kraft in der Blindheit gehalten wird. Nur schwache Leute sind imstande, Gott in Seiner Kraft zu fassen. Der Hohe und Erhabene wohnt bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind. Warum? Weil Gott da Raum hat und etwas tun kann.

4. Was ich Negatives über den Weg zur vierten Station zu sagen habe, ist schnell gesagt. Es darf auch hier kein Stehenbleiben geben, wiewohl nirgends die Versuchung zum Stehenbleiben größer sein wird als gerade hier. Denn der Feind ist schnell bereit zu sagen: Du hast so viel erbetet und hast dich müde gearbeitet; nun ist’s genug! Gerade wenn dies der Fall ist, haben wir umso nötiger, wie die Jünger in Mark. 6,30 und 31, „besonders an einen stillen Ort zu gehen, um ein wenig zu ruhen“, d.h. zu uns selbst zu kommen. Tiefer eindringen, muss auch hier unsere Losung bleiben. Ich führe hier an, was Simpson über dieses „tiefer eindringen“ sagt:

Tieferer Friede und göttliche Freude. In den mächtigen Tiefen des Ozeans machen die Winde, die über die Oberfläche dahintoben, keinen Eindruck. Dort herrscht eine ununterbrochene und vollkommene Ruhe. So mag auch die Seele, die sich in Gott vertieft hat, weniger von der aufbrausenden Fröhlichkeit leicht erregbarer Naturen haben; aber sie ruht in dem Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt, und ihre Freude ist nicht die irdische Freude, die aus den Verhältnissen oder zusagenden Umgebungen entspringt, sondern eine wahre göttliche Freude, und diese wird oft am tiefsten und vollsten empfunden, wenn ringsumher alles öde ist wie eine Wüste und dunkel wie die Mitternacht.

Tieferer Glaube. Wie wir uns tiefer in Gott versenken, so hält sich unser Glaube nicht so sehr an die offenbaren Anzeichen der Erhörung unserer Gebete, sondern ruht mehr auf dem Unsichtbaren. Er nimmt Gott bei Seinem Wort ohne Zeichen oder Gefühl und lernt wie Abraham gerade dann am festesten glauben, wenn alles der Verheißung zu widersprechen scheint. Er versenkt sich in die Tiefen der geheimnisvollen Führungen Gottes und vertraut, wo er nicht ergründen kann, der Treue und Liebe Gottes, in der er ruht. Tiefere Liebe. Dann lernen wir die Liebe, die langmütig und freundlich ist, die das Lieblose, das Unfreundliche mit Liebe umschließen kann, die im Glauben liebt, wo es im Schauen nicht möglich; denn diese völlige Liebe glaubt alles, hofft alles, duldet alles und „hört nimmer auf.

Tiefere Geduld. Denn wenn wir in die Tiefen hinabsteigen, so kann die Geduld ihr vollkommenes Werk in uns haben und die krönende Tugend des gereiften Christenlebens werden, — Geduld Gott gegenüber, inmitten dunkler Führungen, Geduld gegen unsere Mitmenschen, auch in Beleidigungen und Verfolgung, Geduld, die freudig leiden und sich selbst des Leidens rühmen kann, weil sie über und in allem die Liebe Gottes und Seinen Endzweck, unsere Vollendung, sieht. —

Tiefere Kraft. Wie wir uns tiefer in das göttliche Leben einsenken, werden wir uns oft weniger unserer eigenen Kraft bewusst und sind es zufrieden, in Seinem Wirken zu ruhen, auch wenn wir weder Kraft fühlen noch Frucht sehen. Gottes Macht zeigt sich oft in dem Verbergen Seiner Kraft, und Seine mächtigsten Werkzeuge sind mit dem Schatten Seiner Hände bedeckt. Wir lernen im Glauben auf Seine Gotteskraft rechnen und halten uns nur für Werkzeuge Seiner Hand, willig, ebenso wohl durch Schweigen als durch Reden oder tätigen Dienst von Ihm gebraucht zu werden.

Tiefere Arbeit. In dieser tieferen Arbeit in Gott sind wir nicht mehr mit uns selbst beschäftigt; aber unser Wirken mag wohl weniger offenbar werden als in unserer früheren Erfahrung. Die Arbeiter einer großen, mächtigen Brücke tun die schwerste Arbeit davon im Verborgenen. Tief unter dem Wasser werden die großen Grundsteine gelegt; aber sie sind auch das Fundament, das den ganzen Bau trägt. Dies war die Arbeit, die Moses tat, und Josua erntete die Früchte derselben. Der Prophet Jesaja tat solche Arbeit; aber zu seiner Zeit wurde er von niemanden darin verstanden. Es war die Arbeit des Herrn selbst, als Er auf Erden war, und bei Seinem Fortgang war nur in einer kleinen Schar ihr Resultat sichtbar; aber die folgenden Jahrhunderte haben ihre herrliche Frucht offenbart.

Tieferes Gebet. Denn wenn wir inniger mit dem Heiligen Geist vereint sind, so betet Er in uns, und Sein Gebet kommt aus der Tiefe, nicht mit lautem Ruf, sondern mit Seufzen, das nicht in Worten ausgesprochen werden kann. Unser Gebet wird manchmal auch zu einem schweigenden Versenken in Gott, einem Einssein, einer Anbetung, die zu heilig und zu tief ist, sie in Worte zu kleiden.

Tieferes Leiden. In dem Maße, wie wir dem Herrn näher kommen, werden wir, gleich Ihm selbst, empfindsamer für die Sünde um uns her, für den giftigen Atem des bösen Feindes, für die Leiden der Welt, die Gefahr unsterblicher Seelen, für die Leiden des Herrn selbst, die Er erduldete zur Errettung einer Welt, die Ihn hasste. Von unseren eigenen Wegen erlöst, können wir jetzt in die Gemeinschaft Seiner Leiden eintreten.

Tieferer Blick. Wir sehen jetzt mit einer göttlichen Klarheit in das Wort Gottes, in den Plan Gottes zur Erlösung Seiner Menschheit und in die herrliche Zukunft der Erscheinung Jesu Christi hinein. Wenn man sich in der Tiefe eines dunklen Abgrunds oder eines Brunnens befindet, so kann man selbst am hellen Tage von dort aus Sterne sehen. Wenn wir tief genug in Gott eingedrungen sind, können wir die Himmel schauen. Dann erglänzt uns das Wort Gottes in einem himmlischen Lichte, dann verstehen wir Seine Stimme in der Schrift und erfassen Seinen Gedanken für unsere Zeiten und Seinen Plan für die Arbeit und für die Welt.

Soli Deo Gloria!

Jeden Faden, den ich drehe,
jeden Fußtritt, den ich gehe,
jede Scholle, die ich grabe,
jede Arbeit, die ich habe,
alles meinem Gott zu Ehren,
hier und dort Sein Lob zu mehren.
Soli Deo Gloria!

Alle Lasten, die ich trage,
alle Worte, die ich sage,
alle Werke, die ich tue,
alle Stunden, da ich ruhe,
alles meinem Gott zu Ehren,
hier und dort Sein Lob zu mehren.
Soli Deo Gloria!

Jedes Tröpflein Blut im Herzen,
jede heiße Glut der Schmerzen,
jede lichte Freudenstunde,
jede bitt’re Leidens wunde,
alles meinem Gott zu Ehren,
hier und dort Sein Lob zu mehren.
Soli Deo Gloria!

Jede Speis’, die ich genieße,
wenn ich andre freundlich grüße,
wenn ich nur ein Blümlein pflücke,
mich um einen Strohhalm bücke,
alles meinem Gott zu Ehren,
hier und dort Sein Lob zu mehren.
Soli Deo Gloria!

Alles, vom Geringsten, Kleinsten,
bis zum Höchsten, Größten, Reinsten,
mag’s die ganze Welt erbauen,
mag’s nur still ein Engel schauen,
alles meinem Gott zu Ehren,
hier und dort Sein Lob zu mehren.
Soli Deo Gloria!

Einst an meinem letzten Ende,
wenn mein brechend Aug’ ich wende
hin zum Kreuz den Trost genieße
und dann still mein Leben schließe,
alles meinem Gott zu Ehren,
hier und dort Sein Lob zu mehren.
Soli Deo Gloria! 

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