Spener, Philipp Jakob - Unsichtbare und sichtbare Kirche
Ich gestehe, daß eine unsichtbare Kirche seie, die alle wahren Gotteskinder in sich fasset, und deren keine andere Glieder sein können, als die wahrhaftig glaubig sind. Diese ist der wahre, geisltiche Leib Christi, und werden alle Glieder durch dessen Geist lebendig gemacht und regieret; von dieser ist auch eigentlich zu verstehen, was Herrliches die Schrift von der Kirchen zeuget, als die ganz heilig ist; ja um dieser Glieder willen genießt die sichtbare Kirche alle Rechten. Wie aber auch die sichtbare Kirche auf Erden ist, so hats mit derselben eine andere Bewandtniß, nämlich daß dieselbe, so lange die Zeit dieser Welt währet, nie zu der Glückseligkeit und Reinigkeit gelanget, aus lautern Gliedern der unsichtbaren Kirchen und wahren Gläubigen zu bestehen, sondern es finden sich in dieser äußerlichen Gemeinschaft auch Namchristen, die in der That nichts besser sind als Weltmenschen und von dem Geist Jesu Christi nicht regiert werden. Da ist das Himmelreich oder die Kirche gleich einem Acker, auf dem das Unkrauf dermaßen unter den Waizen gemenget ist, daß man es ohne dessen Schaden nicht ausjäten kann, sondern bis zur Zeit der Ernte am Ende dieser Welt stehen lassen muß. Matth. 13, 25 f 29 f.. Es ist gleich einem Netz, Matth. 13, 47 f., in dem gute und faule Fische unter einander sind, und nicht eher von einander gesondert werden, bis das Netz an das Land nach vollendetem Fang gezogen wird. Es ist gleich dem Volke Israel, das auch das Reich Gottes in dem alten Testament war, aber die meisten allein nach dem Fleisch zu Israel gehörten, von dessen Geist aber nichts hatten. Indessen hat doch solche sichtbare Kirche, die nichts anders ist, als die Menge derjenigen, die sich zum Bund Gottes bekennen und daher Gottes Gnadenmittel noch äußerlich gebrauchen, gleichwohl einen großen Vorzug vor allen andern Haufen in der ganzen Welt, nicht alleine wegen der unter denselben verborgenen wahren Glieder der unsichtbaren Kirchen (so zwar das Vornehmste ist), sondern auch, was ihre äußerliche Gemeinschaft anlanget, wegen der noch übrigen Gnadenmittel. Daher der Herr an gedachten Orten einen solchen Acker mit Waizen und Unkraut, das Netz voll guter und fauler Fische nicht nur etwa ein Weltreich, sondern das Himmelreich nennet, und sind also alle ihre äußerlichen Glieder in gewissem Verstand Bürger des Himmelreichs, nicht zwar durch eine innerliche Gemeinschaft der wahren geistlichen Güter, deren sie unfähig sind, sondern in einem ihnen zukommenden Recht zu den äußerlichen Gnadenmitteln. Also obwohl in dem alten Bund nicht alle Israeliten der innern Gnade Gottes, Gerechtigkeit des Messias und des heiligen Geistes theilhaftig gewesen und aus dem Glauben selig geworden sind, daher die Kraft des Bundes genossen haben; so hatte doch ein jeder Israelite (so lange er den Bund Gottes nicht öffentlich an sich vernichtet hat und von dem Volke ausgegangen ist), oder auch wer sich von Fremdlingen durch die Beschneidung zu dem Volke Gottes gefüget, nicht allein die Würde und Namen ein Glied des Volkes zu sein, sondern auch das Recht zu allen äußerlichen Gnadengütern des alten Testaments, zu opfern, Passah und dergleichen. Gott ließ auch durch seine Diener immer an ihnen arbeiten, auf daß alle, die es nicht unfruchtbar an sich lassen würden, auch zu der innerlichen Gemeinschaft kommen möchten, ohne welche der Bund seinen letzten Zweck an ihnen nicht erhielte.
Ob ich nun zwischen der alten jüdischen Kirche und der christlichen neuen nicht eine völlige Gleichheit mache, sondern wohl weiß, daß in jener mehr Aeußerliches, in dieser mehr Geistliches sich gefunden, so muß doch erkannt werden, daß zu dieser Zeit auch die christliche Kirche eine Aehnlichkeit mit jener alten darinnen habe, und also auch ihr vermischter Zustand des Namens des Himmelreichs gewürdiget werde, der nicht ein leerer Name sein kann, sondern einige Rechte mit sich führen muß, die auch denen zukommen, denen es an Innerlichem mangelt, dermaßen, daß auch das Unkraut der Pflege, die mit Begießen und auf andere Weise dem Waizen widerfähret, mit genießet, ob es wohl daher nur desto mehr den bösen Samen träget. Also ist wahrhaftig aller Haufen, der sich äußerlich zu der Lehre Christi bekennet und der Gnadenmittel gebraucht, wahrhaftig die Kirche Christi, nicht nach ihrer unsichtbaren Art, sondern nach der äußerlichen Verfassung, und hat annoch den Vorzug vor andern Haufen, welchen das auch verderbteste Volk ISrael hatte vor den heidnischen Välkern. Sie ist aber reiner und unreiner nicht allein nach der Bewandtniß der Lehre, sondern auch der wenigeren oder mehreren Anzahl der in dem äußerlichen Haufen befindlichen Glieder der unsichtbaren Kirche.
Quelle: Klaiber, Karl Friedrich - Evangelische Volksbibliothek, Band 3