Seckendorff-Gutend, Henriette Freiin von - Hausandachten - 27. Andacht.
Jesaias 55.
Im Geiste steht es mir immer vor Augen, wie auf dem Gnadentisch die unzähligen Segnungen, die uns der Herr von der Krippe bis zur Himmelfahrt erworben hat, aufgetürmt liegen, und wie Er dabei steht mit den liebevollsten, freundlichsten Worten einladend:
V. 1. „Wohlan Alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser und die ihr nicht Geld habt, kommt her, kauft und esst; kommt her und kauft ohne Geld und umsonst, beide, Wein und Milch.“ Hört doch, wie unendlich gütig der Heiland ist! Kann er denn liebevoller bitten und einladen? Ist es nicht für uns sehr beschämend, dass Er uns so bitten und nötigen muss, bis wir Seine Gaben nur annehmen, und schrecklicher Ungehorsam, dass wir dieser liebevollen Einladung nicht mit Freude folgen? Wisset ihr auch was alles auf dem Gnadentisch aufgehäuft ist? Alles, was wir nicht haben, und was wir doch so notwendig haben sollten und haben müssen. Es liegen die Genugtuungen Jesu darauf, Seine Gerechtigkeit, in die wir uns kleiden müssen, wenn wir einmal vor Gott bestehen wollen. Aber diese Segnungen müssen wir erbitten, sie fallen uns nicht nur ohne Weiteres zu. Da liegt Alles, was uns der treue Heiland von der Krippe bis zur Himmelfahrt durch Sein ganzes Leben, Leiden und Sterben erworben hat. Sein reiner Mund, durch den unser sündiger Mund geheiligt werden kann; Seine heiligen Ohren, die keine solche Kanäle waren, durch welche ungöttliches und weltliches ins Herz drang, wie bei uns; Seine reinen, keuschen Augen, die nie nach der Augenlust ausschauten, wie die Unsrigen; Seine heiligen Gedanken, wodurch unsere Gedanken geheiligt werden usw.; kurz es liegen auf dem Gnadentisch alle die Tugenden, die Er uns durch Sein ganzes Leben hindurch erworben hat, und die wir uns erbitten sollen. Es liegen auf demselben auch leibliche Güter und leibliche Gaben; hier können wir Alles umsonst haben. Wir können hier unsere verlorene Gesundheit wieder finden, wenn wir nur kommen und uns reinigen und heiligen lassen wollen. Da liegen die Segnungen in Menge aufgetürmt, diese herrlichen Gnadengüter; aber wir sehen sie nicht, weil uns die göttliche Augensalbe fehlt. Lasst sie euch doch schenken. Bittet den Herrn darum, dass Er sie euch gebe. Warum zaudert ihr, und nährt euch so lange von den Träbern dieser Welt, wovon ihr doch nicht satt werdet?
V. 2. „Hört mir doch zu und esst das Gute, so wird eure Seele in Wollust fett werden. Bei dem Herrn gibt's auch eine Wollust; o, eine herrliche Lust! Nicht zu vergleichen mit der Wollust dieser Welt. Wie schrecklich ist die Lust dieser Welt! Sie verunreinigt und verderbt Leib und Seele. Bei dem Herrn aber ist Friede und Freude, und liebliches Wesen zu Seiner Rechten immer und ewiglich. Können wir da noch wählen, noch länger zaudern, herbei zu kommen zum Gnadentisch und zu nehmen was wir brauchen, umsonst, Gnade um Gnade?
V. 3. „Neiget eure Ohren her und kommt her zu mir; hört, so wird eure Seele leben!“ Diese Verheißungen sind unbeschreiblich herrlich. O wir wollen doch auf den Herrn hören und Ihn bitten, dass Er uns Augensalbe gebe, damit wir sehen, was Er für uns auf den Gnadentisch gelegt hat. Der Prophet Jesaias steht dabei und lädt uns ein, kauft, kauft ohne Geld und umsonst, beides Wein und Milch. Wir aber stehen vor dem gedeckten Gnadentisch und nehmen nichts. Der Herr hat uns Alles erworben von der Krippe bis zur Himmelfahrt, viele Gnadengüter und Segnungen. Mit der Demut und Vernichtigung hat der Herr das Werk der Versöhnung begonnen. Wie viele Segnungen der Demut und Vernichtigung Jesu liegen hier für dich und deine Kinder bereit. Wie viel hat der Herr dir, du Jüngling und Jungfrau, durch Seinen reinen, keuschen und heiligen Wandel erworben; was gibt Er der Jugend für ein herrliches Beispiel! Er hat auch deine und meine Arbeit geheiligt. Wie weise ging Er, der Heilige, mit den Menschen um, wie liebevoll war Er gegen Seine Eltern und Geschwister, wie vieles liegt da für dich auf dem Gnadentisch! In Seinem dreijährigen Lehramt und in Seinem Leiden, wie viel hat Er, der Treue, dir da erworben! Alle diese Segnungen und Gerechtigkeiten darfst du dir erbitten, denn es ist alles für dich geschehen und bereitet. Gedenke daran, mit welcher Liebe, Hingabe und Aufopferung Er den Leuten das Evangelium gepredigt, mit welcher Geduld und Sanftmut Er die Seelen zurecht gebracht hat! O bittet doch mehr um alle diese Gnadengüter, steht unter, lasst sie wie einen Gnadentau und Regen auf euch herabströmen. Es liegen ferner auf dem Gnadentisch Seine Todeskräfte und die Kraft Seiner Auferstehung, durch welche du deine böse Natur vernichten lassen und ein neues Leben in Christo Jesu führen kannst. Diese Gnadengaben, die man Seine Gerechtigkeiten nennt, liegen für dich bereit, damit du ein neuer Mensch in Christo Jesu werden kannst. Und wie viel hat Er dir für deinen Körper erworben! Er hat bis an Sein Ende einen gesunden Körper gehabt; Seine gesunden, kräftigen Nerven hatte Er dir zu gut 33 Jahre lang; auch diese bat Er für dich auf den Gnadentisch gelegt, als Er ausrief: „Es ist vollbracht!“ Darum ruft Er uns am Ende des dritten Verses zu: „Ich will mit euch einen ewigen Bund machen, nämlich die gewissen Gnaden Davids.“ Ja, diese Verheißung ist Ja und Amen, die Gnadensegnungen sind uns alle bereitet und wir dürfen sie nur holen; es sollte uns Tag und Nacht keine Ruhe lassen, bis wir sie uns erbeten haben. Liebe Seele, du hast deine Gnadenzeit wohl anzuwenden und nicht zu säumen; dein alter Mensch muss absterben, auch die leiseste Fleischessünde hindert dich am Eingang durch das Perlentor; denn es sind zwölf Wächter auf den Zinnen der Tore und die lassen nichts Unreines eingehen. Der Herr hat bei Seiner Himmelfahrt und Sitzen zur Rechten der Majestät Gottes auch Gaben empfangen für die Abtrünnigen; ja Er ist der Pfleger dieser himmlischen Güter. Du darfst nichts tun, als fleißig unterstehen und alle diese Segnungen, die auf dem Gnadentisch liegen, auf dich herunterbitten. Je fleißiger du dir solche erbittest, desto lieber ist es dem Herrn, weil Er sein heiliges, teures Blut nicht umsonst für dich vergossen haben will. Je mehr du dich mit diesem Blute besprengen lässt, desto mehr bekommst du Kraft, Alles zu überwinden, und wir sind und werden der Lohn Seiner Schmerzen. Darum ist auch die Qual der Verdammten so furchtbar groß, weil sie das Blut des Sohnes Gottes von sich weisen und Seine Versöhnung nicht annehmen wollen. Wie der Baum fällt, so bleibt er liegen, denn:
„Fleisch und Blut muss untergehen,
Eh' wir die gold'nen Gassen sehen.“
Vers 6 heißt es: „Sucht den Herrn, weil er zu finden ist; ruft ihn an, weil er nahe ist.“ Die Allgegenwart des Herrn sollte dich durchdringen, wo du gehst und stehst; Seine heilige Nähe gibt deiner Seele Ruhe, Stille und den wahren Frieden. Dein Herz muss freilich zuerst ausgeleert werden von allem Jahrmarktskram und stille werden vor dem Herrn, anders kannst du die heilige Nähe Jesu nicht genießen, noch in innigem Verkehr mit Ihm, dem Hochgelobten, stehen; und dazu hat uns diese ewige Liebe die Stille Seiner Grabesruhe erworben und auf den Gnadentisch gelegt, dass wir darum bitten sollen, sonst kannst du nie in einen innigen, geistigen Umgang mit Jesu kommen, so dass du von Mund zu Mund mit Ihm sprechen kannst, wie es im alten und neuen Bund der Fall war, was wir im Wort Gottes so oft finden. Ach! wer einmal erfahren hat, wie gut mans bei dem Herrn hat, der will nicht von Ihm weichen und weiß, was er an Ihm hat, dass Er uns mehr ist als Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Freund usw. Man darf ja mit Ihm Alles besprechen, auch alle irdischen Angelegenheiten, und sich zu Ihm alles Guten versehen. Wenn wir lesen, wie im alten Bund der Herr noch unmittelbar mit den Gläubigen verkehrt und mit ihnen gesprochen hat, so kommt uns das jetzt unbegreiflich vor. Aber es ist noch heute der Fall. Er spricht noch heute mit uns, von Mund zu Mund, wenn wir nur eingekehrt und stille sind, und Seiner liebevollen Stimme gehorchen wollen, was ich euch mit einem Beispiel aus meinem Leben belegen will: Als ich die Biographie meines Urgroßvaters, des Ministers von Pfeil, herausgeben wollte, beauftragte ich damit eine fromme Missionarswitwe, eine begabte Frau, welche auch ihres Vaters Biographie geschrieben hatte, und gab ihr zu diesem Zweck eine Anzahl Manuskripte und Bücher; unter anderem auch ein besonders wertvolles Buch, das viele Anekdoten aus dem Leben meines lieben Urgroßvaters enthält. Plötzlich wurde sie krank und starb. Das Werk war kaum erst angefangen, ich ließ die schriftlichen Sachen holen; aber siehe, das schon genannte, sehr wertvolle Buch fehlte; man durchsuchte alles, aber es war nicht mehr zu finden, und doch war es zu dem ganzen Werk sehr nötig. Wo sollte nun das Buch zu finden sein? Ich nahm meine Zuflucht zu dem Herrn, und bat Ihn inständig mich es doch wissen zu lassen, wo das Buch zu finden sei, und blickte ganz ruhig und innerlich stille auf Seine Verheißung, dass, was wir in Seinem Namen bitten, Er uns geben werde. Eines Abends wurde es mir zur Gewissheit, dass ich es erfahren würde. Ich blieb an diesem Abend stille vor dem Herrn, und siehe es stund nicht lange an, so hörte ich deutlich sagen, dass das Buch bei meinem Vetter Seckendorff sei. Des anderen Tages schickte ich meine Jungfer zu ihm, um fragen zu lassen, ob er das Buch wirklich habe, und erhielt zur Antwort, er habe es von der obengenannten Frau erhalten, weil es aber Niemand verlangt, so habe er es ins Familien-Archiv nach Denkstetten geschickt. Die liebe Frau hatte es nämlich dorthin geschickt, um noch einige andere Bücher zu bekommen, welche sie zu diesem Zweck nötig hatte; sie starb und das Buch blieb bei meinem Vetter liegen, und Niemand hätte mir sagen können, wo es war, als der Herr selbst. Wie glücklich war ich nun, wie floss meine Seele über in Lob und Dank. Mein Vetter schrieb dahin, und in drei Tagen hatte ich das Buch.
O, ihr glaubt nicht, wie herrlich es ist, einen lebendigen Heiland zu haben, der uns Alles gibt, um was wir Ihn bitten! Wenn wir aber solche Erfahrungen machen wollen, so muss unser Herz ganz stille sein. Wie sieht es aber, damit in unseren Herzen aus? Die Meisten sind erfüllt mit der Weisheit dieser Welt, von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Sorgen usw., da braust und tobt es immer im Herzen, es wird nie stille, ein wahres Jahrmarktsgetöse ist darin. Glaubt mir, mit einem solchen Herzen kann der Herr nicht reden. Er hat viel mehr mit uns zu reden, als wir mit Ihm, darum müssen wir ganz still sein, um Ihn hören zu können. Auch diese heilige Stille liegt auf dem Gnadentisch, der Herr hat sie uns erworben, als Er drei Tage im Grabe lag. Ich habe viele Jahre um diese Stille des Grabes Jesu gebeten und fand, dass es köstlich ist, sie zu besitzen. O, lasst es euch doch ja recht ernstlich gesagt sein: „Sucht den Herrn, weil Er zu finden ist; ruft Ihn an, weil Er nahe ist.“
V. 6. Es gibt für Keines eine Entschuldigung; für ein Jedes ist der Gnadentisch bereitet, wir dürfen nur kommen und nehmen Gnade um Gnade.
V. 7. Der Gottlose lasse von seinem Weg, und der Übeltäter seine Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird Er sich seiner erbarmen und zu unserem Gott, denn bei Ihm ist viel Vergebung.“ Ja, bei Ihm ist viel Vergebung. Das gilt Allen, besonders den Angefochtenen und die von ihren Sünden gequält sind, und fürchten, es könne ihnen nimmermehr geholfen werden. O, dass sie es Alle hören, herzukommen und nehmen wollten! Aber wir müssen ernstlich bedenken, was zu unserem Frieden dient. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken und Seine Wege sind nicht unsere Wege; wir müssen ganz und gar von uns selbst aus und in den Willen Jesu eingehen; schickt Er uns dann auch viel zu leiden, wollen wir in dem Gericht die Gerechtigkeit Gottes erkennen, dann werden wir bald Seiner Gnadengüter und Verheißungen teilhaftig werden. Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, wird uns von aller Weltliebe und Begierde zum Bösen reinigen und freimachen; wir werden Kraft bekommen, ein ganz neues Leben zu führen, und eine auffallende Veränderung wird in Allem an uns zu spüren sein, wie es in V. 13 heißt: „Dann werden Tannen für Hecken wachsen, und Myrten für Dornen.“ Dazu verhelfe uns der gnädige und barmherzige Gott in Gnaden! Amen.