Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die Korintherbriefe.
Der Abschnitt aus der Lebensgeschichte des Apostels, welchen uns die Korintherbriefe beleuchten, ist klein, aber von unschätzbarem Wert. Da tritt seine seelsorgerliche Größe ans Licht und wir lernen den Hirten kennen, wie er um seine Gemeinde sich müht.
Paulus hat der Gemeinde in Korinth für seine Arbeit in Griechenland eine ähnliche Bedeutung gegeben, wie sie Antiochien für die Mission in Syrien und Ephesus für diejenige in Kleinasien besaß. Er hat sie zum Herd und Stützpunkt des Christentums für Achaja bestimmt und ihr darum mehr Zeit und Kraft gewidmet als irgend einer anderen europäischen Stadt1). Die überwiegende Mehrheit der Gemeinde bestand aus Griechen. Griechisches Heidenchristentum blühte hier auf in seiner Frische, Freiheit und Beweglichkeit, aber auch mit seinem Tasten und Straucheln auf den neuen, ungewohnten Wegen.
Nach dem Wegzug des Apostels machten sich auch andere Einflüsse in der Gemeinde geltend. Er hatte den Grund gelegt, andere bauten darauf, 1 Kor. 3,10.
Von Ephesus kam Apollo, der in hohem Maß zur Teilnahme an der apostolischen Mission befähigt war, vgl. Ap. 18,24-28. Er war ein Jude aus Alexandrien, also von griechischer Art, schriftkundig und redegewandt. Als er in der Synagoge von Ephesus das Wort nahm, hatte er noch keine christliche Gemeinde gesehen und war noch nicht auf Christi Namen getauft, sondern kannte erst die Taufe des Johannes. Er muß mit einem Kreise in Berührung gekommen sein, wie wir ihn in Ephesus kennen lernen, Ap. 19,1-7, der längst nach dem Tode des Johannes und ferne vom Jordan immer noch dessen Taufe forterhielt als That der Buße zur Bereitung auf das herannahende Himmelreich. Wie weit seine Erkenntnis schon damals reichte, läßt sich nicht mehr abgrenzen. Lukas sagt: er sei über den Weg des Herrn unterrichtet gewesen. Das kann heißen: er habe ernstlich Buße gepredigt und zur Hoffnung auf die messianische Zeit erweckt; oder wies er schon damals auf Jesus hin? In Ephesus lernte er nun ganzes Christentum kennen im Hause des Aquila und dieser öffnete ihm den Eingang in die Gemeinde von Korinth.
Ein Philosoph und Mystiker in der Art, wie sie damals in Alexandrien philosophierten, ist er schwerlich gewesen. In der Korinthischen Gemeinde regte sich allerdings ein Verlangen nach „Weisheit“, welches über die apostolische Predigt hinausstrebte und Paulus vorwarf, er habe der Gemeinde noch nicht die ganze tiefe Weisheit Gottes gebracht. Allein für die Vermutung, daß Apollo, der gelehrte Alexandriner, diese Bewegung veranlaßt habe, fehlt in den Worten des Apostels die Bestätigung. Als Paulus seinen Brief schrieb, hatte er Apollo persönlich kennen gelernt. Dieser war nach Ephesus zurückgekehrt und stand in der Nähe des Paulus in selbständiger Arbeit, 1 Kor. 16,12. Er hat das volle Vertrauen des Apostels gewonnen, so daß Paulus den Wunsch der Korinther, Apollo möchte zu ihnen zurückkehren, billigte und unterstützte, damals als die Verhältnisse in Korinth bereits höchst schwierig geworden waren. Er kann ihn der Gemeinde wie sich selbst als das Beispiel eines rechtschaffenen Lehrers vorhalten. Er selbst hat das Gewächs gepflanzt, Apollo es begossen. Sie arbeiteten an einem Werk zum selben Ziel, in gleicher Weise Gottes Mitarbeiter auf seinem Acker und Bau, vgl. 1 Kor. 3,5-9. 4,6. Jenes Verlangen der Korinther nach Weisheit hat Paulus dagegen sehr ernst beurteilt, und ihm die Thorheit des Evangeliums entgegengehalten und ihm zugerufen, daß, wer weise werden wolle, zuerst ein Thor werden müsse. Er hat gefürchtet, daß durch jene Weisheit das Kreuz Christi in seiner Kraft und Wirkung vernichtet werde. Hätte Apollo die Gemeinde in diese falsche Bahn hineingeleitet, so hätte ihn Paulus nicht als den bezeichnet, der begossen habe, was er selber pflanzte, und ihn nicht eben jetzt nach Korinth zurückgewünscht. In solchen Fragen urteilte Paulus klar und bestimmt.
Allerdings war jeder Jude, der an griechischer Bildung teil hatte, unwillkürlich genötigt, das, was er durch das griechische Leben empfangen hatte, mit seinem jüdischen Erbe und der Schrift irgendwie zu verbinden und zu einigen, und dieser griechische Einfluß war für die Lehrweise des Apollo sicher nicht bedeutungslos. Er machte ihn den Heidenchristen gleichartiger und verständlicher. Es war wohl mehr Verstandesarbeit in seiner Predigt als in derjenigen des Paulus, so daß sie sich auf die mancherlei Zweifel und Fragen einließ, welche das Evangelium veranlaßte, und den mannigfachen Inhalt der Schrift zu erläutern versuchte, vgl. Ap. 18,28. Für dergleichen Gaben waren die Griechen sehr empfänglich und dankbar, und es ist natürlich, daß sich in der Gemeinde eine Gruppe bildete, die ihn in besonderem Maße als ihren Lehrer und Führer ehrte, 1 Kor. 1,12.
Auch in Korinth mußten sich die jüdischen Gemeindeglieder über die Bedeutung des Gesetzes klar werden, und die Freiheit, mit der sich die heidnischen Christen bewegten, konnte einen jüdischen Mann veranlassen, seinen Zusammenhang mit Israel und seine Treue gegen das Gesetz um so kräftiger zu betonen. Daraus mußte nicht notwendig Kampf und Streit entstehen. Die dem Gesetz untergebenen und die vom Gesetz freien Gemeindegenossen konnten freundlich und einig mit einander leben. Immerhin bildeten jene eine eigene Gruppe, deren Blick naturgemäß nach Jerusalem auf Petrus gerichtet war, 1 Kor. 1,12.
Aber auch der ungebrochene Judenstolz trat in der Gemeinde auf, Männer, die es als ihren Ruhm vor Gott und Menschen priesen: wir sind Ebräer, Same Abrahams, 2 Kor. 11,12. Jüdische Evangelisten kamen von auswärts, vgl. 2 Kor. 3,1. 11,4. Ein christliches Gemeindeleben, wie es Paulus in Korinth begründet hat, wo alle, Heiden und Juden, einander gleichstanden und nichts galt als Christi Ruhm, mußte ihr jüdisches Selbstgefühl aufs tiefste verletzen. Darum war ihnen Paulus widerwärtig und sie verfolgten mit bewußter Absicht das Ziel, ihm die Gemeinde zu entfremden. Sie triumphierten schon zur Zeit des ersten Briefs, sie hätten Paulus verdrängt; er werde nicht mehr wagen, nach Korinth zu kommen, 1 Kor. 4,18.2)
Während sie selbst mit großer Würde und Wichtigkeit auftraten und Unterwerfung unter ihre Autorität verlangten vgl. 2 Kor. 10,11-18. 11,18-23 - sprachen sie von Paulus geringschätzig und stellten es in Frage, ob er ein Apostel sei, vgl. 1 Kor. 9,1-3. Jedenfalls stehe er weit hinter den Zwölfen in Jerusalem zurück, vgl. 1 Kor. 15,9.10 und vielleicht auch 2 Kor. 11,5. 12,11. Es sei Anmaßung, daß er die Gemeinde an sich selbst binde, und sich selbst predige, als wäre er ihres Glaubens Herr, 1 Kor. 1,14.15. 2 Kor. 1,24. 4,5. Sie unterwarfen sein ganzes Verhalten einer hämischen, gehässigen Kritik, vgl. 1 Kor. 4,1-5. 9,3. Allein sie fanden wenig Stoff zu Anschuldigungen. Nur eine einzige bestimmte Anklage erscheint in beiden Briefen: er habe nicht gewagt, von der Gemeinde den Unterhalt zu fordern, 1 Kor. 9,1-19. 2 Kor. 11,7-12. 12,13-18. Diese Verleumdung war nicht ohne Klugheit aufgestellt. Mancher in der Gemeinde hätte es offenbar lieber gesehen, wenn Paulus nicht als Weber bei Aquila gearbeitet hätte. Das schien eines Apostels unwürdig, und sie verstanden nicht, was ihn hiezu getrieben hat. Die neuen Apostel erklärten ihnen dieses Rätsel: da trete des Paulus innere Schwäche ans Licht; er wage doch nicht, voll und ganz als Apostel dazustehen. Sie handelten natürlich anders und ließen sich ohne Scheu durch die Gemeinde erhalten.
Der Haupthebel aber, mit dem man die Gemeinde von Paulus abzuziehen versuchte, war die Verheißung: sie erst werden sie in die Weisheit führen; bei Paulus sei nur ein anfängliches unvollständiges Evangelium zu finden, ein Christentum für Unmündige; er sei unerfahren, „albern“, wie Luther übersetzt, im Wort und in der Erkenntnis, sein Evangelium sei verdeckt, 2 Kor. 11,6. 4,3, vgl. 1 Kor. 2,1-5. 3,1. Das war geeignet, die Griechen zu fassen. Sie ließen sich nicht ohne weiteres Gesetz und Beschneidung aufzwingen, aber „Weisheit“, das. lockte sie.
Nicht als wäre es nur berechnete Schlauheit gewesen, wenn sich hier der Judenstolz in das Gewand der Weisheit hüllte. Es reifte ein starkes Verlangen nach Erkenntnis Gottes und nach Erforschung seiner Geheimnisse in der Judenschaft. Sie war tief durchdrungen vom unschätzbaren Wert, den alles Licht über die göttlichen Dinge für uns hat. Wenn sich der gewöhnliche Jude demütig vor dem Rabbi beugte und dieser sich stolz über die „Laien“ erhob, so lag der Grund darin: jener kennt die Schrift und gehört zu den Weisen. Ebenso wurzelte das Selbstgefühl, mit dem der Jude dem Heiden begegnete, darin: ich bin der Leiter der Blinden, das Licht derer, die in der Finsternis sind, vgl. Röm. 2,17-20. Mit demselben Bewußtsein bewegten sich diese jüdischen Christen in der heidenchristlichen Gemeinde. Sie waren von Jugend an unterwiesen über Gottes Wesen und Wort. Was an Verständnis der Worte und Werke Gottes in Jerusalem vorhanden war, das war ihr Eigentum. Auf ihrer Höhe erschien ihnen der nüchterne und ernste Glaube der Paulinischen Christen gering. Auf diesem Wege sollte nun auch das Gesetz wieder zu Ehren kommen. Den nach ihrer Weisheit lüsternen wäre hernach gesagt worden: ein Evangelium ohne Gesetz ist gut für Unmündige; wer aber vollkommen sein will, der beschneide sich!
Sie gewannen großen Einfluß auf die Gemeinde, die sich in eine hochmütige Aufgeblasenheit hineintreiben ließ und auf Paulus herabzusehen begann, 1 Kor. 4,7-13. Allerdings fand der Angriff auf ihn auch Widerstand. Es gab in der Gemeinde Männer, die mit aller Bestimmtheit erklärten: ich bin des Paulus, 1 Kor. 1,12. Fing man aber einmal an, zu erörtern, zu welchem Apostel man sich halte, so wurde auch der Name des Petrus und des Apollo erhoben. Für die fremden Apostel war freilich kein Apostelname hoch genug; für ihre Geistlichkeit gab es nur einen Namen, dem sie sich unterordnen wollten. „Wir sind Christi“, das war ihre stolze Antwort an diejenigen, die sich auf Paulus beriefen, vgl. 2 Kor. 10,7 mit 1 Kor. 1,12.
So war in der Gemeinde Streit und Zank; ihr ganzer Bestand war gefährdet. Das Gift jüdischer Selbstüberhebung konnte ihr christliches Leben zerstören bis in die Wurzel hinab.
Und zugleich gab es in der Gemeinde noch viele andere Not und Gefahr. Die geschlechtliche Zuchtlosigkeit, die mehr als alles andere die Blüte des griechischen Lebens zerstört hat, wirkte auch unter den Christen nach, und schuf jene zarten, tief greifenden Fragen der Kirchenzucht, welche die höchste Weisheit und Reife christlicher Tüchtigkeit erfordern, welche Festigkeit und Erbarmen zu einigen weiß. Die Gemeinde war diesen Aufgaben bei weitem nicht mehr gewachsen. Ein Gemeindeglied heiratete seine Stiefmutter und die Gemeinde regte sich nicht. Dafür prozessierten sie mit einander wegen Eigentumshändeln vor dem Stadtgericht.
Überhaupt ergaben sich aus der Ehe Schwierigkeiten Sie bedurfte und erhielt durch das Evangelium eine gründliche Reinigung. Aber was war zu thun, wenn nur der eine Gatte Christ wurde und der andere Jude oder Heide blieb? Konnte der christliche Gatte eine solche Ehe fortsetzen? Und wäre es nicht für die christliche Heiligung und Vollkommenheit das Zuträglichere, auf die Ehe zu verzichten?
Sodann ließen sich die Berührungen mit dem heidnischen Gottesdienst schwer völlig meiden, weil er sich in alle Lebensverhältnisse hinein erstreckte. Die geopferten Thiere kamen z. B. nachher auf den Fleischmarkt, so daß man nie sicher war, ob man nicht Opferfleisch erhalte. Man urteilte in der Gemeinde verschieden. Die einen verurteilten eine solche indirekte Beteiligung am Opfer scharf; ein anderer Teil der Gemeinde bewegte sich in diesen Dingen sehr frei bis zur Teilnahme an festlichen Mahlzeiten im heidnischen Heiligtum.
Auch die Ordnung ihrer Gottesdienste wurde der Gemeinde nicht leicht. Dieselben setzten die Frauen in völlig neuer Weise mit der Männerwelt in Verkehr, an dem sie sich mit aller Lebhaftigkeit beteiligten. Sie mischten sich in das Gespräch in den Versammlungen und beteten daselbst. Da mußte der Schleier, der bisher das Gesicht verhüllt hatte, weichen. Aber man bewegte sich hier auf einer gefährlichen Bahn. Wo war die Grenze, die die Verletzung sittsamer Zucht und Ehre ferne hielt? Sodann hatte die Gemeinde in ihrer ersten Zeit gemeinsam gegessen, indem jede Familie ihre Speisen mitbrachte und daraus ein gemeinsames Mahl hergestellt ward. Während desselben wurden sodann das Brot und der Kelch zum Gedächtnis des Todes Jesu herumgereicht. Diese Gemeinsamkeit vermochten sie nicht durchzuführen. Man aß zwar noch im Versammlungsort, doch jede Gruppe für sich ohne Gemeinsamkeit. Das gab aber eine üble Einleitung zum Abendmahl, da dadurch die Sonderung und Spaltung der Gemeinde ausdrücklich zum Vorschein kam. Auch die Eingliederung der Geistesgaben in den Gottesdienst erwies sich als schwierig, weil sich Eitelkeit in die Verwendung derselben mischte. Neben der prophetischen Gabe schäfte man in Korinth besonders das „Reden mit Zungen“, einen der Verzückung sich nähernden Gebetszustand, der in Gott versunken des Ausdrucks und Worts nicht mehr mächtig war. Dadurch wurde der Gottesdienst für die übrigen unerbaulich und für etwa anwesende Heiden anstößig. Sie hörten die Leute in abgebrochnen Lauten beten und verstanden nichts.
Noch eine wichtige Frage war streitig geworden. Einige in der Gemeinde leugneten zwar nicht die Auferstehung Jesu, wohl aber diejenige der einzelnen Christen. Was sie an deren Stelle als den Ausgang unseres Lebens betrachteten, lassen die Worte des Apostels nicht erkennen.
Die Vermutung liegt nahe, daß diese Schwierigkeiten zum Teil durch die Anwesenheit der jüdischen Evangelisten hervorgetrieben worden sind. Der Anspruch auf höhere Weisheit und Einblick in Gottes Geheimnisse ist oft mit Verachtung der natürlichen Triebe, besonders der Ehe, verbunden gewesen. Jene jüdischen Männer könnten leicht von ihr geringschätzig gesprochen haben. Am Streit über das Opferfleisch waren sie jedenfalls dadurch beteiligt, daß sie jeden Genuß desselben scharf richteten. Auch zum Eingehen des gemeinsamen Mahles hat die Spaltung, die sie anrichteten, wenigstens beigetragen.
Paulus hat während seines Aufenthaltes in Ephesus den innern Gang der korinthischen Gemeinde sorgfältig beobachtet. Er hat sie schon vor unserm ersten Briefe durch ein Schreiben zum Kampf gegen die Unzuchtslaster gemahnt, vgl. 1 Kor. 5,9, und sie auch für die Kollekte, die er für die arme Christenheit Jerusalems sammelte, interessiert, vgl. 1 Kor. 16,1. Darauf hörte er mündlich von der Bewegung, die jene Juden veranlaßten, vgl. 1 Kor. 1,11, und nun sandte er Timotheus hin, wie es scheint, zu Lande über Macedonien, vgl. 1 Kor. 4,17. 16,10.11. Unterdessen traf eine Abordnung der korinthischen Gemeinde bei ihm ein mit einem Briefe derselben, welcher dem Apostel mehrere Fragen vorlegte, jedenfalls diejenige über den Nutzen der Enthaltung von der Ehe und wohl auch diejenige über den Genuß des Götzenopfers, vgl. 1 Kor. 16,17. 7,1. 8,1. Den heimkehrenden Boten der Gemeinde gab Paulus unsern Brief mit.