Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel -5. Mose – Deuteronomium
Die erläuternde Wiederholung des Gesetzes in Mose's letzten Reden an das Volk. 5 M. 1-30.
Mose spricht vor seinem Tode zur versammelten Gemeinde, und der Zweck seiner Abschiedsworte ist eine neue Darlegung dessen, was Gott Israel geboten hat. Als Einleitung zu den gesetzlichen Abschnitten wird die Lehre und Mahnung hervorgehoben, die Israel aus seinen Erlebnissen in der Wüste ziehen soll.
Zunächst wird die Wanderung vom Sinai bis an den Jordan überschaut. 1-3.
Darauf wird an die Erscheinung Gottes am Sinai erinnert mit Einschärfung seiner bildlosen Anbetung und Wiederholung der zehn Gebote. 4 u. 5.1) .
Dadurch ist Israel zur Verehrung und Liebe des Herrn allein verpflichtet im dankbaren Gedächtnis seiner Wohlthaten. 6.
In Kanaan, wohin das Volk nun zieht, soll es die dortigen Heiligtümer zerstören und sich nicht mit den Bewohnern verbinden. Gottes Hilfe ist ihnen zugesagt, nur daß sie sich vor undankbarem Übermut hüten sollen, wenn sie nun im Genuß der Reichtümer des Landes stehen. 7 u. 8.
Darum werden ihnen ihre Versündigungen in der Wüste vorgehalten, und die göttlichen Gerichte, die sie damals trafen, und es wird ihnen ans Herz gelegt, daß sie vom Gebot sowohl den Fluch als den Segen ernten können. 9-11.
Nun folgt eine für das Volk berechnete Auswahl gesetzlicher Vorschriften. 12-26.
Statt die alten kananäischen Heiligtümer weiter zu benützen, sollen alle Opfer an den von Gott bestimmten Ort gebracht werden. Immerhin wird die Schlachtung der Tiere im Lande erlaubt, nur ohne Blutgenuß. Es ist dies dieselbe Satzung wie 3 M. 17; nur ist sie hier den Verhältnissen Israels in Kanaan angepaßt. 12.
Jede Verführung zum Dienst fremder Götter wird mit dem Tode geahndet, auch wenn sie von einem Propheten ausgeht mit Zeichen und Wundern, oder von den nächsten Angehörigen, und die Stadt, die andern Göttern dient, wird vernichtet. 13.
Der heilige Charakter des Volkes erträgt die Selbstverstümmelung bei der Totenklage nicht, noch unreine Speise. Darum werden die reinen Tiere aufgezählt, parallel mit 3 M. 11. 14, 1-21.
Die Zehntordnung wird erläutert: während zwei Jahren muß der Zehnten zum Heiligtum gebracht und dort mit den Leviten in festlichem Mahl gegessen werden; im dritten Jahre soll er daheim verbraucht werden, damit er auch den Armen zu gute komme. Gegenüber der früheren Zehntordnung 4 M. 18 ist dies eine Milderung. Während dort der Zehnten den strengen Charakter einer Abgabe hat, wird hier dem Darbringer desselben ein Mitgenuß verstattet und das Übrige teils an die Priester, teils an die Armen verteilt. 14, 22-29.
Das 7. Jahr ist ein Erlaßjahr auch dadurch, daß nur die Schulden erlöschen, doch nur innerhalb der israelitischen Gemeinde selbst. Und der Knecht wird nicht nur frei, sondern auch beschenkt. So wird 2 M. 21, 1-6 erweitert. 15, 1-18.
Am heiligen Ort sind die Erstlinge darzubringen, falls sie zum Opfer tauglich sind; dort hat auch jeder Israelite die drei großen Feste zu begehen. Dagegen soll für gute Rechtspflege überall im Lande gesorgt werden. 15, 19-16, 20.
Götzendienerische Abzeichen neben den Altären, ebenso die Opferung beschädigter Tiere werden verboten. Anbetung fremder Götter bringt den Tod. Doch soll sie wirklich erwiesen sein. 16,21 - 17,7.
Die oberste Rechtsinstanz ist der Priester und Richter am heiligen Ort. Falls aber ein König gewählt werden soll, so wird er vor Rossen, Weibern und Anhäufung von Schätzen gewarnt. Er soll das Gesetzbuch besitzen. 17,8-20.
Den Priestern wird kein Anteil am Land, sondern nur am Opfer gegeben, und an diesem hat auch der Levite, der vom Lande her kommt, das gleiche Recht. 18,1-8.
Wahrsagerei ist verboten; statt derselben wird Gott je und je dem Volk einen Propheten erwecken. Der falsche Prophet muß sterben. 18, 9-22.
Es werden Regeln für die Gerichtsübung gegeben: drei Asylstädte sollen den unbedachten Totschläger schützen; die Grenzen werden geheiligt; zwei Zeugen sind zum Urteil erforderlich und dem falschen Zeugen wird seine Strafe geordnet. 19.
Kriegsregeln verordnen die Befreiung derjenigen, denen der Tod jetzt besonders bitter wäre, sowie die Entlassung der Feigen. Die kanaanitischen Städte fallen unter den Bann, bei den andern werden Frauen und Vieh zur Beute gezählt. Die Fruchtbäume sollen auch bei der Belagerung einer Stadt geschont werden. 20.
Wird ein Erschlagener aufgefunden, so bezeugen die Leute der nächsten Stadt feierlich ihre Unschuld an dem Mord. 21,1-9.
Es folgen Regeln für die innere Gestaltung des Hauses: dem erbeuteten Weibe verbleibt ein Monat Trauerzeit und sie darf hernach nicht mehr verkauft werden; das Erstgeburtsrecht darf nicht willkürlich nach Gunst verändert werden; auf das Zeugnis der Eltern hin wird der widerspenstige Sohn gesteinigt. 21, 10-21.
Kleinere Ordnungen mehr polizeilicher Art verlangen die Abnahme aufgehängter Leichen, die Wiedergabe gefundener Gegenstände, die Bewahrung des Anstands und der natürlichen Grenzen in allen Dingen. 21, 22-22, 12.
Es folgen Keuschheitsordnungen. Wer die Ehre seines Weibes verleumdet, wird gebüßt; hat seine Klage dagegen Grund, so wird das Weib gesteinigt. Der Ehebrecher und die Ehebrecherin werden getötet. Auch das verlobte Mädchen fällt unter diese Regel, wenn es nicht auf freiem Felde Gewalt erlitten hat. Die Schwächung eines Mädchens verpflichtet nicht nur zur Ehe, sondern wird mit einer Buße belegt unter Verlust des Scheidungsrechts, eine Verschärfung von 2 M. 22, 15. 16. Die Frau des Vaters darf nicht geehelicht werden, vgl. 3 M. 18 u. 20. 22, 13-30.
Verstümmelte werden nicht zugelassen zur Gemeinde, auch Moabiter und Ammoniter nicht, wohl aber Edomiter und Ägypter im dritten Glied. 23, 1-9.
Das Lager des Heers muß rein gehalten werden. 23, 9-14.
Der entflohene Sklave wird nicht ausgeliefert. Alles unzüchtige Treiben bleibt vom Gottesdienst abgeschieden. Für den Verkehr der Israeliten unter einander gilt das Zinsverbot, womit 2 M. 22, 24 erläutert wird. Gelübde sollen gehalten werden. Am fremden Weinberg und Kornfeld wird ein bescheidener Mitgenuß gestattet. 23, 15-25.
Die Wiederverheiratung mit der verstoßenen Frau wird verboten, wenn sie inzwischen einen andern geehelicht hat. 24, 1-4.
Mit mancherlei Ordnungen werden die Armen und Hilflosen vor Härte und entwürdigender Mißhandlung geschützt. 24, 5-25, 4.
Zur Erhaltung der Familie jetzt der Bruder die Ehe seines kinderlos verstorbenen Bruders fort. Wer sich dessen weigert, wird beschimpft. 25, 5-10.
Unanständige Berührungen kosten dem Weibe die Hand. Doppeltes Gewicht und Maß wird verboten. Amalek wird unter den Fluch gestellt, vgl. 2 M. 17, 14. 25, 11-19.
Die Erstlinge sind in den Tempel zu bringen mit einer feierlichen Erinnerung an die Hilfe, die Israel erfahren hat, und im dritten Jahre, wo der Zehnten daheim verteilt wird, muß seine richtige Abgabe durch eine ausdrückliche Erklärung bezeugt werden. 26, 1-15.
Diese Gebote gehören zum Bunde zwischen dem Volk und Gott. Das Volk hat sich Gott zugesagt und Gott sich dem Volk. 26, 16-19.
Die Schlußrede, 27-30,
bezeugt dem Volk die Wichtigkeit des Gesetzes für sein ganzes Bestehen und Gedeihen.
Auf dem Ebal soll ein Altar errichtet werden, auf dem das Gesetz eingegraben wird, und dort hat das Volk einen feierlichen Fluch auf die Missethaten zu legen. 27. Segen und Fluch liegt vor dem Volk. Was beide in sich schließen, wird ihm vorgehalten und in der Voraussicht, daß es das Gesetz übertreten wird, wird ihm das Elend der Verbannung dargestellt. Doch damit verbindet sich die Verheißung, daß das Volk im Elend des Exils zu Gott umkehren und nun seine Segnungen erlangen wird. So gibt diese Rede den Grundgedanken der prophetischen Predigt kurz zusammengefaßt. 28, 1-30, 10.
Doch liegt es nicht an Gottes Gebot, wenn ihm das Volk nicht fröhlichen Gehorsam erweist. Das Gebot ist nicht unerfüllbar, sondern dem Volk nah, und es ist sein Leben. 30, 11-20
Mose's Abschied. 5 M. 31-34.
Mit dem Schlusse des fünften Buchs sind die auf den Tod Mose's bezüglichen Abschnitte der andern Erzähler verbunden.2)
Josua wird zu Mose's Nachfolger bestellt. Das Gesetz, wie es soeben von Mose ausgelegt ist, soll bei der Bundeslade aufbewahrt und alle sieben Jahre am Laubhüttenfest verlesen werden. 31, 1-13. d.
Mose bestellt Josua zum Nachfolger und schreibt ein Lied auf, das Israel in den Tagen seines Abfalls Gottes Wahrheit und Recht bezeugen soll. 31, 14-22. c.
Dieses Lied preist Gott als den treuen Vater Israels, klagt über dessen Abfall, verkündigt ihm die Unterjochung unter die Heiden, verheißt ihm aber auch in der höchsten Not die Erbarmung Gottes, der nicht von seinem Volke läßt. 32, 14-43. Wohl schon in c.
Mose mahnt zur Treue gegen das Gesetz, weil daran das Leben Israels hängt. 32, 44-47. d.
Der göttliche Befehl ruft Mose ab, damit er sterbe. 32, 48-52. Im wesentlichen a.
Und nun spricht er, wie Jakob, über jeden Stamm ein segnendes Wort. 33. Wohl schon in c.3)
Vom Nebo aus überschaut er das Land und stirbt. 34, 1-9. Im wesentlichen a.
Mit einem Rückblick auf Mose's unvergleichlichen prophetischen Beruf, den kein späterer in derselben Weise wieder besaß, wird das Ganze abgeschlossen. 34, 10-12. d.
Deshalb, weil das Gesetzbuch allmählich erwachsen ist und aus verschiednen Teilen besteht, läßt sich eine Gesetzgebung Mose's keineswegs in Zweifel ziehen.4) Versuchen wir's, Mose wegzudenken, was wird dann aus dem Auszug aus Ägypten? Dann zieht eine Schar Hebräer aus dem Nillande weg in ihre frühere Heimat zurück, weil es ihnen unter dem Regiment des Pharao nicht mehr gefällt, ein Ereignis, das tausend andre von derselben Art neben sich hat. Aber alle jene andern Wanderungen von größern oder kleinern Scharen haben nichts hervorgebracht, als eine momentane Störung in den Bevölkerungsverhältnissen ihrer Gegenden. Dagegen der Auszug der Hebräer aus Ägypten hat unermeßliche Folgen gehabt, hat Israel den einigen Gott gegeben, hat eine Gemeinde geschaffen, die ihm als ihrem Herrn diente in der Gewißheit, daß seine Gnade und sein Bund ihr geschenkt sei, hat ein Gesetz nach sich gezogen, dessen Kern die zehn Gebote sind. Der Auszug aus Ägypten hat Israel von allen andern Völkern getrennt. Alle geschichtlichen Bewegungen und Ereignisse, die Israel auszeichnen, greifen auf jene Epoche zurück. „Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt“, das ist nicht minder der Stützpunkt der Propheten als der des Gesetzes. Es entstehen keine Wirkungen ohne Ursachen. Woher kommt das alles? Das hängt an der Sendung Mose's; das kommt daher, daß jene Ereignisse von einem Manne geleitet waren, der im Namen Gottes handelte und sprach, sodaß sie zur Offenbarung Gottes wurden. Nur wenn im Erlebnis eines Menschen oder, wie hier, eines Volks, Gott erfaßt und erfahren ist, dann freilich gehen unvergängliche Kräfte von ihm aus und es wird fruchtbar in unerschöpflichen Wirkungen.
Der einige Gott mit Ausschluß aller andern Götter, die besondre Berufung Israels zu seinem Eigentum, „zum Königreich von Priestern und zum heiligen Volk“, 2 M. 19, 6, die Verwerfung jedes göttlichen Bilds, der Anschluß an die Patriarchen und an die ihnen gewordene Verheißung, die Ausprägung der Gotteserkenntnis in Rechtssätzen nach Anleitung der zehn Gebote, dergleichen wird man für „mosaisch“ halten müssen im strengsten Sinn des Worts.
Die Gesetzessammlung 2 M. 21-23 setzt sehr einfache und altertümliche Verhältnisse voraus. Die Habe des Volks besteht vorwiegend in Vieh, was zu der spätern Zeit, da jeder „unter seinem Weinstock und Feigenbaum saß“, nicht mehr paßt. Als Dinge, die gestohlen oder streitig werden können, werden 3. B. genannt: Ochs, Esel, Schaf, Kleid, 22, 9, ein sehr einfaches Inventar, wenn auf das Vieh sofort der Mantel folgt. Ferner wird aus Sauls Geschichte deutlich, daß er dieses oder ein ähnliches Gesetz als heilige Satzung geehrt hat. Das Weib zu Endor fürchtet nämlich, hingerichtet zu werden, wenn sie ihr zauberisches Geschäft betreibt, 1 Sam. 28, 9. Zu diesem Eifer, die Wahrsagerei auszurotten, wurde Saul nicht durch die Volkssitte gedrängt; diese ließ die Wahrsager leben; noch war derselbe das Ergebnis seiner eignen Frömmigkeit oder Aufklärung. Das weist auf ein Gesetz, dem sich der König verpflichtet wußte, und das seine Heiligkeit nicht verlor, ob er auch mit Priestern und Propheten tödlich verfeindet war. In der That steht schon in dieser Gesetzessammlung das Todesurteil über die Zauberin, 2 M. 22, 18. Von derselben Art ist Sauls Eifer, die übrig gebliebenen Kanaaniter auszurotten, 2 Sam. 21, 2 vgl. 2 M. 23, 32. Auch das fünfte Buch gibt dieser Sammlung Zeugnis; denn es hat einen beträchtlichen Teil derselben wiederholt und erweitert. Nun ist in der Erzählung vom feierlichen Bundesopfer am Sinai von einem Buch des Bundes die Rede, in das Mose die Worte des Herrn geschrieben habe, 2 M. 24, 4.. Man wußte also nicht bloß von den beiden steinernen Tafeln, sondern auch von schriftlichen Aufzeichnungen heiliger Gebote durch Mose's Hand, und wir werden schwerlich fehlgreifen, wenn wir diese erste Sammlung im wesentlichen bis in die mosaische Zeit zurückführen, mögen auch einzelne Satzungen derselben später noch dazu gekommen sein.
Schrift und Buch sind aber für sich allein niemals hinreichend, um in einem Volk das Gesetz lebendig zu erhalten. Es bedarf persönlicher Träger, die seine Kenntnis und Übung unter dem Volke pflegen. Das persönliche Organ, dem Mose die Erhaltung des Gesetzes übertragen hat, war das erbliche Priestergeschlecht. „Sie lehren Jakob deine Rechte und deine Weisung Israel“, 5 M. 33,10. Die späteren Bücher zeigen überall, daß das Ansehen und die Bedeutung des Priesters in erster Linie darauf beruhte, daß er der Kenner des göttlichen Rechts und Gesetzes war. Sogar im nördlichen Reich, wo doch die Priesterschaften willkürlich und zum Teil aus rohen Gesellen zusammengesetzt waren, machte Hosea den Priester verantwortlich, wenn im Lande die Ordnungen Gottes zertreten sind. Und zwar besteht des Priesters Fehler nicht in Unwissenheit; er hat die Erkenntnis, aber er verachtet sie und vergißt das Gesetz, das ihm übergeben ist, Hosea 4, 1 ff. Hier im priesterlichen Kreise wurde bewahrt, was aufgeschrieben war, und neues aufgezeichnet und mit dem frühern zusammengestellt. Es blieb beständig Aaron „Mose's Mund“.
Wurde in der Volksgemeinde oder von den Ältesten Recht gesprochen, so war der Priester der Beisitzer, der ihnen darüber die Belehrung gab, was Gottes Recht sei. Dieser Beteiligung des Priesters am Gericht entspricht die erste Gesetzessammlung. Sie hat ganz die Form richterlicher Urteile, durch die für einzelne rechtliche Fragen die Entscheidung gegeben wird. Aber der Priester waltete auch am Altare und im Heiligtun, und das war ein anderes und neues Feld für eine reiche und große Gesetzgebung. Der Grundgedanke der gottesdienstlichen Ordnungen, daß der Herr durch sein Heiligtum inmitten Israels wohnt, ist immer lebendig gewesen. So übermütig die Söhne Eli's ihr Priestertum betreiben, dennoch weiß man's auch in Silo: hier wohnt der Herr, und er spricht von der Lade her mit Samuel ganz ebenso, wie er in der Wüste im Heiligtum mit Mose redete, 1 Sam. 3, 3. 4. Nathan weiß es nicht anders, als daß der Herr im Zelt mit Israel wanderte von den Tagen des Auszugs an, 2 Sam. 7, 6, ebenso auch der Psalmist, wenn er betet: „sende dein Licht und deine Wahrheit, sie werden mich bringen zu deinem heiligen Berg, zu deiner Wohnung“, Ps. 43, 3. Das war aber ein unerschöpflicher Gedanke, der das Sinnen des Priesters immer wieder erregen und mit Verwunderung erfüllen mußte: Gott ist hier! wie heilig ist also diese Stätte, wie wichtig das Opfer, wie erhaben das Priestertum, wie hoch begabt die Gemeinde, wie rein muß das alles sein! Je heller der Blick die Größe und Majestät Gottes erfaßte, um so mehr erhielten auch Tempel, Opfer und Priestertum Bedeutung und Heiligkeit; und die das ganze Herz und Leben umspannende Kraft des göttlichen Namens machte auch die Zeichen, durch die sein Bund und seine Gegenwart sichtbar und gewiß wurden, zum kostbarsten Besitz und höchsten Anliegen für Volk und Priesterschaft. Wir hören in den Geschichtsbüchern wenig von den Männern, die den Altar bedienten, z. B. von Abjathar und Zadok, den Priestern Davids, oder von Asarja, dem Priester Salomos. Dies ist begreiflich; denn ihr Amt bestand in der Ausrichtung des Gottesdienstes nach der überlieferten Ordnung und dem heiligen Gesetz. Und doch können diese Männer vom reichen Walten des Geistes in Israel nicht unberührt geblieben sein. Neben einem König, der betete wie David, und neben einem Propheten, wie Nathan, können die Männer, die am Altare dienten, ihren Dienst nicht gedanken- und herzlos verrichtet haben. Diese priesterlichen Satzungen zeigen uns, was aus der Priesterschaft Israels unter dem Antrieb der Erkenntnis Gottes geworden ist, wie erhaben der Tempel und wie heilig ihr Amt in ihren Augen wurde, wie lebendig sie's als Gottes große Gabe und Gnade erfaßten, daß er sich herabließ eine Wohnung zu haben unter Israel, sodaß sie für ihr Volk nichts höheres kannten und dringender wünschten als dies eine, daß es wie einst zu Mose's Zeit in priesterlicher Reinheit sich sammle um sein Heiligtum.
Nun steht freilich, wenn wir in die ältern Zeiten Israels blicken, das Thun und Treiben des Volkes oft weit ab vom priesterlichen Gesetz, und hat noch die Art einer derben Natürlichkeit. Der Acker und die Herde und dazwischen der Kampf mit den Kanaanitern und Philistern scheinen oft die einzigen Anliegen, die es beschäftigen, und um die sich auch sein Gottesdienst bewegt. Von genauen Verordnungen über denselben, von der Beschränkung des Opfers auf einen einzigen Altar und einen einzigen Tempel und ein einziges Priestergeschlecht, hören wir in den Geschichtsbüchern nichts. Vielmehr baute man sich aus Steinen oder Erde den Altar da, wo man ein Opfer darzubringen wünschte, und die Städte hatten alle ihr ständiges Heiligtum meistens oben auf dem Gipfel der Höhe, an deren Abhang sie lagen. War ein Priester zur Hand, so galt das Opfer als um so kräftiger. War kein solcher zu haben, so opferte der Israelite selbst dann, wenn es ihm in Freude und Leid ratsam schien, vor Gott zu treten. Die Hauptsache beim Opfer war das Opfermahl. Man aß und freute sich vor dem Herrn und die Freude wurde vielfach zügellos sinnlich. Ebenso ungebunden wie im Gottesdienst zeigt sich das Volksleben auch sonst. Die Kriegssitte, die geschlechtlichen Verhältnisse, das Rechtsleben, die Stellung der einzelnen Familien und Stämme zu einander, das alles wurde leicht wild und roh. Jene Geschlechter standen offenbar noch nicht unter dem Zuchtmeister eines starken Gesetzes, das sie als heilige Macht umfangen hielt.
Doch auch sie waren nicht ohne Gesetz. Auch jener derben Ungebundenheit stand es fest, daß der Herr seinem Volke Weisung und Bescheid („Thora“) gegeben habe. Alles was sich als feste Ordnung und Regel darstellte, die über der Willkür der einzelnen stund, lebte im Volksgewissen als Gottes Gebot. Nach Gottes Lehre wird die Feldfrucht bestellt und geerntet, Jes. 28, 26-29. Nicht weniger galten die festen Normen, welche den Bestand des Hauses und Volkes tragen, als göttliche Stiftung, weshalb die Gewalt des Vaters, des Richters und des Königs einen geheiligten Charakter erhält. Der Richter spricht das Recht Gottes aus, auch wenn er es nicht in einem Gesetzbuch findet; denn er darf es auch dann nicht aus seiner Willkür schöpfen. So hat auch das gottesdienstliche Gebiet bei aller sinnlichen Natürlichkeit stets gewisse heilige Satzungen gehabt. Daß man nicht mit leeren Händen vor dem Herrn erscheinen darf, daß ihm von jedem Tier ein Teil geweiht werden muß, daß die Erstlinge des Feldes und der Herde ihm gehören, daß jede wichtige Unternehmung mit einem Opfer begonnen werden soll, daß das Gelübde unter keinen Umständen angetastet werden darf, dergleichen galt stets jedermann in Israel als göttliches Gebot.
Wie ist das Verhältnis zwischen diesem volkstümlichen Gesetz und dem Gesetz der Schrift zu bestimmen? Beide waren keineswegs eins; dieses steht vielmehr zu jenem in einem sehr bestimmten Gegensatz. In der Schrift tritt über dem, was Israel für Recht und Brauch hält, ein göttlicher Befehl auf, der verlangt, daß sich die Volkssitte und das Volksgewissen nach ihm regeln und richten sollen. Darum sind auch alle spätern Fassungen des Gesetzes sorgfältig als Wort des Herrn an Mose bezeichnet, damit schon äußerlich der Unterschied dieses Gesetzes hervortrete von dem, was man in Israel von jeher als heilig und göttlich verehrte, ohne daß man wußte oder fragte, woher solche Übung stamme und worin sie ihren Grund habe.
Es bestanden freilich zwischen dem Gesetz und der Sitte auch vielfache Berührungen. Einmal war die Sitte nicht durch und durch unfromm und ungerecht. Auch in ihr lebte ein Stück Frömmigkeit, Ordnung und Gerechtigkeit. Sodann kam das Gesetz der Sitte entgegen und paßte sich ihr an. Brot-, Wein- und Fleischopfer, Sabbath und Neumond und Erntefeste, Beschneidung und Vielweiberei und Blutrache und Erstgeburtsrecht rc. hat weder Mose noch sonst ein Israelite eingeführt. Da tritt uralte Sitte in's Gesetz hinein. Dasselbe schuf nicht ein vollständig neues Recht, sondern es hat in den gegebnen und vorhandenen Formen des Volkslebens und Gottesdienstes seinen Stoff. Aber es gestaltet diesen bessernd und reformierend um. Es war ein andrer Jehovah, den das Gesetz vor Augen hatte, als der, dem die Volkssitte diente. Dem erweckten und erleuchteten Blick auf Gottes Heiligkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erschien das, was das Volk that und trieb, als unheilig, ungerecht und unbarmherzig. Darum unterwirft das Gesetz die Sitte einer Reformation. In Bezug auf das Rechtsleben wird gleichzeitig nach zwei Seiten hin die Besserung erstrebt. Der Abstumpfung des Rechtsgefühls, die gewaltthätig allerlei Unrecht begeht oder schlaff und feig es ungeahndet läßt, stellt das Gesetz seinen scharfen Rechtsbegriff entgegen. Streng geht die Forderung der Vergeltung durch dasselbe und verlangt ausgleichende Erstattung für das, was einer dem andern thut. Und zugleich ist es voll Güte und Milde gegen die Armen und Unglücklichen, ja auch gegen die Sündigenden. Was hart ist an der Volkssitte, wie die Blutrache, Ehescheidung, Sklaverei, die grausame Kriegssitte und das rohe Schuldrecht, wird gemildert und Grausamkeiten werden verwehrt.
Ebenso wird auch der Gottesdienst durch das Gesetz auf einen gänzlich neuen Boden gestellt. Das Gesetz kennt keine Opfer und Gaben, mit denen man Gottes Gunst und Hilfe erwerben könnte, anders als innerhalb der von Gott selbst gestifteten Bundesgemeinschaft und in untrennbarem Verein mit dem gerechten und gütigen Handeln am Nächsten. Israel wird nicht durch seine Opfer Gottes Eigentum. Der Bund ist allein auf Gott gestellt. Das Gesetz hält Israel einen königlichen Gott vor, der es in seiner eigenen Freiheit und Gnade zu sich beruft. Und daß er ihm seinen Bund gegeben hat, dafür sind nun jene gottesdienstlichen Dinge ein Zeichen, durch deren Heiligung Israel im Bunde Gottes bleibt. Deshalb legt das priesterliche Gesetz allen Nachdruck darauf, daß der Gottesdienst geschehe nach der von Gott geordneten Regel, nicht nach menschlicher Willkür, sondern an dem von Gott geweihten Altar durch den von Gott bestellten Priester in dem von Gott bestimmten Heiligtum. Und mit diesen gottesdienstlichen Verpflichtungen sind diejenigen Ordnungen, welche Gerechtigkeit und Güte für die Menschen fordern, ganz auf dieselbe Stufe gestellt. Sie sind nicht weniger Bundesforderung und Bundesbedingung als die Opfergabe an Gott. Das war ein großer Unterschied von der Art, wie sonst überall jedermann, Priester und Laien, das Opfern betrieb.
Darum weil das Gesetz hoch über der Volkssitte steht und einen scharfen, durchgreifenden Widerspruch gegen sie erhob, darum hat sich diese lange und lebhaft gegen das Gesetz gesträubt. Schon die zehn Gebote schließen die Meinung aus, als komme das Gesetz der Schrift erst hinter der Sitte Israels her als deren Fixierung und Niederschlag. Der Ausschluß aller andern göttlichen Mächte neben dem Herrn und die Beseitigung aller heiligen Bilder war bis in's Exil hinein für die meisten Israeliten ein unfaßlicher Gedanke. Der Zwiespalt bezog sich auch nicht nur auf die gottesdienstlichen Anordnungen, sondern nicht minder auf die rechtlichen und sozialen Vorschriften des Gesetzes. Vom Befehl, daß kein israelitischer Mann bleibend zum Sklaven gemacht werden dürfe, war im Volksleben Israels ebensowenig etwas zu verspüren, als davon, daß der Herr nur in einem einzigen Tempel anzubeten sei, vgl. Jerem. 34. Auch die Geschichten des Gesetzes ragen über den Gesichtskreis Israels hoch empor. Ein Gott, wie er dort beschrieben ist, ein Glaube, wie er uns dort vorgehalten ist, ein Wandel mit Gott, wie er an den Vätern und an Mose sichtbar ist, das war nicht des Volks gewöhnlicher Gedanke und tägliche That. In der „Sitte“ kreuzten sich verschiedene Einflüsse. Einmal lebte in ihr das uralte Herkommen fort, das teils mit dem Gesetz einstimmig war, teils vom Gesetz umgewandelt und gebessert werden sollte. Dazu kamen auf der einen Seite störende und verderbende Einflüsse, vor allem derjenige der Kanaaniter, mit denen Israel vielfach zusammen lebte, und der übrigen heidnischen Nachbarn ringsumher; andrerseits waren erneuernde und erhaltende Kräfte im Volke wirksam durch die Männer, die das Erbe Mose's bewahrten und in Geist und Glauben Gottes Gemeinde in Israel bildeten. Wir müssen uns den Gang der Dinge ähnlich vorstellen wie in der Christenheit, in der fortwährend allerlei Glaube neben einander vorhanden ist, nicht nur der apostolische, wie ihn die Schrift gibt, sondern auch sehr verschiedenartiger, der mit jenem halb in Gegensatz und halb in Ähnlichkeit in vielfach abgestufter Beziehung steht. Ebenso gab es in Israel neben einander mancherlei gottesdienstliches „Gesetz“. Neben demjenigen, das als Übung und Sitte im Volke lebte, gab es ein andres, das lange Zeit weit über das erhaben war, was das Volk verstand, suchte und betrieb, weil es von oben durch den Dienst eines besonders berufenen Mannes Israel übergeben war.
Man hat in Israel doch nie etwas anderes gewußt, als daß es ein einziges von Mose gestiftetes Heiligtum gebe, ein heiliges Zelt, das nachher in den Tempel Jerusalems übergegangen sei. So bezeugt es das fünfte Buch im Vorblick auf den Besitz Kanaans: Gott wird einen Ort erwählen, nicht viele, um seinen Namen dort wohnen zu lassen, und dort ist das Heiligtum, wo Priester und Opfer sich finden. Das gilt als mosaische Anordnung. So wird auch Eli gesagt: in Ägypten habe ich mich dem Hause deines Vaters offenbart und nur dasselbe zum Priestertum berufen und ihm alle Opferfeuer Israels übergeben, 1 Sam. 2, 27. 28. Als die Daniten auszogen, um sich eine neue Heimat zu erobern, raubten sie unterwegs einen Priester und ein Heiligtum, Ri. 17. Warum nahmen sie nicht einen solchen von Hause mit, wie's sonst die Wanderzüge bei allen andern Völkern zu thun pflegten? Die Stämme hatten keine solchen Heiligtümer aus Mose's Zeit. Weder Nathan noch David wissen von irgend einem Heiligtum, in dem der Herr wohnt, als allein von der Hütte, die in den Tagen des Auszugs errichtet ward, 2 Sam. 7, 6. Amos und Hosea haben die Heiligtümer von Bethel, Berseba, Samarien rc. dem Volk zur Schuld angerechnet und als die Ursache seines Verderbens verflucht. Aber sie schließen Jerusalems Tempel in dieses Urteil nicht mit ein. Amos hat gegen den Tempel von Bethel in Bethel selbst geredet im Namen des Gottes, der zu Zion wohnt, Am. 1, 2. Jesaja sagt wohl Israel, es werde verlernen auf seine Altäre zu sehen, 17, 8; aber vom Tempel in Jerusalem sagt er, daß er noch über alle Berge erhöht werde und für alle Völker den Ort der Anbetung bilde, 2, 2 ff. Dieser Vorzug des Tempels auf dem Zion rührt nicht daher, daß seine Priesterschaft und ihr Gottesdienst damals besonders rein und heilig gewesen wäre, sondern er kommt ihm zu seiner Vergangenheit wegen, aus derselben Überzeugung, welche das fünfte Buch des Gesetzes ausspricht, daß jene vielen Heiligtümer eine Anpassung an's heidnische, kanaanäische Wesen seien, daß Mose ein einziges Heiligtum verordnet habe und dieses in Jerusalem sich fortsetze. Und als Jeremia das falsche trotzige Vertrauen der Leute von Jerusalem brechen will und sie deshalb an das zerstörte Heiligtum Ephraims erinnert, da nennt er nicht die Tempel Samariens oder Bethels, sondern geht zurück in die alte Zeit und stellt Silo neben Jerusalem, 7, 12. Warum? Weil niemand Bethel und Jerusalem zusammenzählt, weil es nach dem Gesetz nur ein Heiligtum gibt und dieses eine Heiligtum zuerst in Silo stund und hernach in Jerusalem.
Freilich hat nicht nur die heidnisch verdorbene Volkssitte das Gesetz überschritten, sondern auch die prophetischen Männer und die dem Herrn allein ergebenen Könige, wie Samuel, Elia, David, Salomo, opferten ohne Bedenken hin und her im Lande. Auch das Gesetz selbst gab hierin eine gewisse Freiheit. 2 M. 20, 22-26 wird dem Israeliten verstattet, sich selbst einen Altar zu bauen; nur soll er alle künstlichen, abergläubischen Zuthaten und Symbole vermeiden und dem Altar die einfachste Gestalt lassen. Ein Altar ist jedoch noch kein ständiges Heiligtum mit regelmäßigem Opferdienst und organisierter Priesterschaft. Auch das fünfte Buch, welches ernst und eifrig alle Nebenopfer neben dem Heiligtum verbietet, untersagt den Altar noch nicht, sondern verbietet bloß die götzendienerischen Zuthaten, 5 M. 16, 21. Im alten Israel war die Anbetung Gottes nie bloß innerlich in der Stille des Herzens beschlossen. Der Israelite bedurfte das auswendige Zeichen, den geheiligten Ort, nicht nur das stille Wort, sondern die sichtbare Handlung. Wo er sein Gebet an Gott richten wollte, da errichtete er zuvörderst den Altar. Und die prophetischen Männer, wie Samuel und Elia, haben versucht, diese Altäre, die ihr Volk besuchte, einer reinen Anbetung Gottes dienstbar zu machen. Die Prophetie hat sich stets mit Freiheit neben und über der gottesdienstlichen Satzung bewegt. Sie hat ihr Augenmerk nie darauf gerichtet, priesterliche Regeln dem Volke einzuprägen. Allein hierin liegt kein Beweis, daß der Standpunkt, den das priesterliche Gesetz einnimmt, erst später aufgetreten sei.5)
Gerade in der Abweichung der Volkssitte werden wir einen Antrieb zu suchen haben, der die Priesterschaft zur Ausbildung und Aufzeichnung des priesterlichen Gesetzes geführt hat. Weil das Volk die alten kanaanitischen Heiligtümer weiter ehrte und diese mannigfachen Gottesdienste aller heidnischen Verderbnis offen stunden, und roh wurden und unheilig, gerade darum wurde als heilige Satzung festgesetzt und aufgeschrieben, wie es in dem von Gott gegründeten Heiligtum zugehen soll und was das Volk ihm schuldig sei. Auch das andre Hauptbestreben dieser Ordnungen, daß Israel den Boden Kanaans als die unantastbare Gabe Gottes schätze und allein besitze, kämpft gegen die schlaffe, sorglose Weise, mit der das Volk die Kanaaniter in seiner Mitte wohnen ließ und mit den heidnischen Nachbarn sich mischte.
Zeigen uns diese mittlern Gesetzesreihen, was die Priester als Moses Stiftung und Gebot in ihrem Kreise überlieferten und heilig hielten, so konnte es auch nicht ausbleiben, daß die Prophetie ebenfalls großen Einfluß auf die Auffassung und Ausbildung des Gesetzes gewann. Nicht zwar, als hätten die Propheten das Gesetz gemacht. Sie gründen sich mit ihrer ganzen Predigt darauf, daß das Volk Gottes Gesetz empfangen habe und kenne, und ihr Wort wird deshalb sofort zur Bußpredigt. Aber durch die Propheten kam dem Volke immer wieder neue Thora, Unterricht und Weisung von Gott zu, wie er sie einst durch Mose dem Volk gegeben hatte. Dieses lebendige Forttönen des göttlichen Gebots warf auch neues Licht auf das vorhandene Gesetz und die früher erlebten Geschichten. Noch mehr als der Priester war der Prophet geeignet, das Bild Mose's immer wieder zu erwecken und dem Volk in lebendiger Erneuerung das wieder vorzuführen, was die Väter in Ägypten erlebt hatten.
Das fünfte Buch mit seinem überströmenden Herzen für das Volk, mit dem Eifer seiner brennenden Liebe, die es mit allen Mitteln zum Gehorsam gegen die göttlichen Ordnungen zu bewegen sucht, die Hindernisse ihm aus dem Wege räumt, und das Gebot ihm faßlich und annehmbar macht, das ist Prophetenwort. Es gibt zu den früheren Gesetzen nach Form und Inhalt eine sie aufschließende Erläuterung.6) Während die priesterlichen Gesetze sich zunächst an den Priester wandten, stellt das fünfte Buch das Gesetz nochmals in einer Sprache dar, die von jedermann gehört sein will. Sodann nahm das priesterliche Recht keinerlei Rücksicht auf die späteren Verhältnisse. Es drückt dies schon in seiner Form dadurch aus, daß es ausschließlich von Israel in der Wüste, vom Lager, von Aaron und seinen Söhnen spricht. Mose's Stiftung soll dargestellt werden; mehr konnte der Priester nicht thun. Er hatte keine Macht Gesetze zu geben für die Gegenwart, und keine Autorität über die Könige, von denen er vielmehr sehr abhängig war. Das fünfte Buch dagegen im Bewußtsein seiner prophetischen Vollmacht schaut ausdrücklich auf die Lage der Dinge in Kanaan, um zu zeigen, wie das Volk in diesen neuen Verhältnissen dem göttlichen Gebote nachzuleben hat. Ferner hat das priesterliche Recht nicht in seinem Kern, aber in seiner Fassung einen harten Schein. Sein Blick ist nach oben gerichtet, auf die göttliche Majestät, der gegeben werden muß, was ihr gehört. Es wird mit großem Ernst der Kernsatz durchgeführt: vor allem und zuerst Gott! er muß zuvörderst geehrt sein und ihm gedient werden nach seinem Willen. Sicherlich ist dies zugleich der Weg zum Wohlergehen für das Volk, und das Gesetz bezeugt dies auch nachdrücklich. Aber voran steht, daß jedermann in Israel unbedingt seine Pflicht thun müsse gegen seinen Gott. Ob die göttlichen Forderungen ihm leicht oder schwer scheinen, drückend oder nicht, darauf kommt es nicht an. Gerade an den mittlern Büchern hat Israel gelernt, was ein „Gesetz“ ist. Hier tritt seine unbeugsame, absolute Art mit Kraft hervor. Allein das bedurfte der Erläuterung. Daß das Gesetz nicht seiner selbst wegen da ist, nur damit es gethan werde, daß Gott das Herz sucht und daß die Liebe den wahren Gehorsam macht, daß Gott Israel sein Gebot als Zeuge und Diener seiner Güte gibt, weil es ihm den Weg in's Leben zeigt und sagt, was ihm heilsam ist, das fügt das fünfte Buch der strengen Gestalt der frühern Gesetze bei. Endlich zielten die priesterlichen Ordnungen daraufhin, einen Tempel einzurichten, der Gott geheiligt sei, und Priester und Volk anzuleiten zu einem Gott wohlgefälligen Gottesdienst. Allein Tempel und Tempeldienst sind doch nur die dienenden Mittel zu einem höhern Zweck. Gott will bei seinem Volke wohnen, und daß dieses mit Gerechtigkeit und Frömmigkeit erfüllt sei in allen Dingen, das ist das Ziel alles Gottesdiensts. Auch gibts noch einen andern Boten Gottes als den Priester; das ist der Prophet. Sammelt sich das Volk um diejenigen, die wie Mose das göttliche Wort unter ihm verwalten, dann hat für das Auge des Propheten die Gemeinde ihre rechte Ordnung und Gestalt.
Man hat gesagt, der Verfasser hätte eigentlich nicht im Namen Mose's reden dürfen. Was sollte er denn schreiben? einen „Kommentar zum mosaischen Gesetz“? „eine Einleitung in die Bücher Mose's“? Er war mehr als ein Schriftgelehrter. Er hatte den Beruf und den Willen, das Gesetz Mose's mit erneuter Kraft in's Herz des Volks hineinzuschreiben. Von ihm gilt im höchsten Sinn, was Jesus von den spätern Erklärern des Gesetzes sagt: er saß auf Mose's Stuhl.
Auch in den geschichtlichen Abschnitten wird sich der Einfluß der prophetischen Predigt erkennen lassen. Diejenigen Erzählungen, die zum priesterlichen Gesetz gehören (a), gehen knapp und sparsam an allen Einzelheiten aus dem Lebenslauf der heiligen Männer vorbei. Ausführlich wird die Erzählung nur dann, wenn sich aus ihr ein Gesetz ergibt, wie bei der Beschneidung Abrahams, der Überhebung des Leviten Norah u. dgl. oder wenn die Majestät Gottes in besonderm Maß sich sichtbar macht, wie bei den Wundern in Ägypten und in der Wüste.
Sonst hebt die Erzählung weder die natürliche Vermittlung der Ereignisse hervor, noch ihren Wiederhall in den Herzen der Beteiligten. Die Lücken im Bericht werden durch die Geschlechtstafeln und eine chronologische Rechnung ausgefüllt. Die Erzählung schaut auf das göttliche Wunder in der Geschichte und auf die gottesdienstliche Verpflichtung Israels, und dem entspricht die schmucklose Sprache, die eintönig und schwerfällig werden kann.
Daneben stehen die Lebensvollen, Farbenreichen Geschichten der beiden andern Erzählungsgruppen. In beiden werden die handelnden Männer nach ihrer besondern Art und mit ihrem warmen, menschlichen Herzen anschaulich in's Licht gestellt. Der am meisten abgekürzte (b) hat auch für die natürlichen Verhältnisse und Ereignisse im Leben der Väter ein offnes Auge. Er ist's, der uns von den 318 streitbaren Hörigen Abrahams erzählt, von Mose's Furcht vor den Philistern, von Reguels guten Diensten in der Wüste rc. Auch verweilt er gerne bei den heiligen Orten hin und her im Lande, bei Berjaba, Bethel, Sichem, und erzählt, was aus der Geschichte der Väter mit jenen Orten in Verbindung steht. Wir würden über den äußeren Hergang der Dinge und ihre natürlichen Mittelglieder sicherlich noch vieles von ihm hören, was uns historisch lehrreich wäre, wenn er nicht so sehr verkürzt wäre. An heiliger Erzählungskunst steht ihm der dritte Erzähler © nicht nach. Auch er schaut, wie der priesterliche Erzähler, unverwandt auf die Gegenwart und lehrt im Erzählen, was der Mensch ist und was Gott ist. Dabei deckt er aber mit hellem Blicke auf, was im menschlichen Herzen vor sich geht bei seinem Fall wie in seiner Aufrichtung. Und zwar zieht sich ein tiefer Bußernst durch das Ganze. Auf des Menschen Seite liegt die Sünde und darüber steht die göttliche Gnade und Treue. Diesem Erzähler gehören die dunkeln Geschichten an vom Fall im Paradies und von Jakobs Betrug und von der Unthat der Brüder Josephs und vom goldenen Kalb. Diese Verinnerlichung zur Selbsterkenntnis und Beugung im Bußernst und zur Aufrichtung im Glauben, der Gottes Gnade auch in der Sünde ergreift, werden wir als das prophetische Element zu bezeichnen haben in der Art, wie die Geschichten der Väter erfaßt und behandelt sind.
Der priesterliche Erzähler (a) läßt sich mit Sicherheit im Buche Josua wieder erkennen. Er hat seinen Bericht nicht mit dem Tode Mose's geschlossen, sondern damit, daß das verheißene Land in das Besitztum der Stämme überging. Auch die beiden andern Erzähler (b u. c) haben im Buche Josua ihre Fortsetzung. Auch sie schrieben somit erst, als die Kämpfe um die Eroberung des Landes beendigt waren. Sie werden mit Recht gegenwärtig als älter betrachtet als die priesterlichen Erzählungen. Nun sind über Gideon und Abimelech, Eli und Saul und David die Erzählungen vielfach so bestimmt und in's einzelne gehend, daß sie unmöglich lange nach den Ereignissen niedergeschrieben sein können. Das wäre aber schwerlich ein weiser Gedanke, wenn wir die Geschichtschreibung in Israel damit beginnen ließen, daß man die Schandthaten Abimelechs aufzeichnete oder berichtete, wie die Daniten Micha seinen Priester und seinen Gott gestohlen haben. Diese Aufzeichnungen setzen bereits ein gewecktes Auge für die Geschichte des Volks voraus und haben Vorbilder frommer Geschichtschreibung vor sich. Die Ereignisse, welche in Israel historische Bücher hervortrieben, waren die Geschichten Mose's und der Väter. Hier stehen wir am Anfang der Geschichtsbücher Israels und dieser Anfang fiel nicht später als das Ende der Richter- und der Anfang der Königszeit.
Das priesterliche Gesetz schaut bei der Aufzählung der Könige Edoms auf die königslose Zeit Israels als vergangen zurück, 1 M. 36, 31. Auch das fünfte Buch wird schon bestimmt Jerusalem mit seinem Könige in's Auge fassen, vgl. z. B. 17, 8. 18, 6. Früher als die Salomonische Zeit werden somit diese Gesetzbücher nicht anzusetzen sein. Wir werden anzunehmen haben, daß die Begründung des einen großen Heiligtums für das ganze Volk auch die Abfassung der Gesetzbücher nach sich zog.
Nach 2 Kön. 22 hat der Hohepriester Hilkija während Josia's Regierung im Tempel das Gesetzbuch gefunden, das bisher dem Könige und dem Priester unbekannt war, und das den König sehr erschreckte und zu einer ernstlichen Reinigung des Gottesdienstes bewog. Man hat oft vermutet, daß wir hier die Weise kennen lernen, wie das fünfte Buch in die Öffentlichkeit gebracht worden sei. Es sei erst damals, wohl durch einen dem Hohepriester nah stehenden Mann, verfaßt worden. Diese Vermutung ist jedoch sehr unsicher. Im Tempel sah es damals abscheulich aus. Baal- und Astartebilder, Sonnenrosse und Sonnenwagen, unzüchtige Knaben und Mädchen befanden sich drin. Und mitten in diesem Unrat amtete Hilkija und räumte denselben erst weg, als es der König gebot. Das waren schwerlich die Männer, die so mit Israel redeten, wie Mose im fünften Buch, aus solcher Furcht Gottes mit so glühendem Eifer für seine alleinige Anbetung. Sie waren wohl noch im Stande, sich unter das Gesetz zu beugen, wenn es als Autorität ihnen vorgelegt ward, aber sie brachten es nicht selbst hervor. Die lange Regierung Manasse's, unter welchem Hof, Tempel und Stadt nach heidnischem Muster eingerichtet wurden, war dazu völlig geeignet, die Gesetzesrollen in einem Winkel verschwinden zu lassen. Manasse und seine Priester hatten sicher keine Zeit für das Studium heiliger Bücher, die über alles, was sie thaten, frischweg das Todesurteil sprachen. Dagegen haben jedenfalls die Ereignisse unter Josia wesentlich dazu beigetragen, das Gesetz unter's Volk zu bringen und ihm öffentliche Geltung zu verschaffen.
Aus der Regierung Josaphats wird uns 2 Chr. 17, 7 ff. erzählt, daß er eine Kommission von Hofbeamten, Priestern und Leviten in Juda herumgeschickt habe, um das Volk zu unterweisen über das Gesetz. Zugleich wird berichtet, daß er in den Städten Richter und in Jerusalem eine Art Obergericht eingesetzt habe unter dem Hohepriester und dem Stammfürst von Juda, 2 Chr. 19, 4-11. Letzteres entspricht der Verordnung des fünften Buchs: 17, 8. 9. Diese Ereignisse können leicht mit dem Erscheinen des fünften Buchs zusammenhängen, so daß dasselbe damals zum erstenmal Juda vorgelesen ward.
Manche Anzeichen im fünften Buche machen wahrscheinlich, daß damals die ältern Erzählungsreihen (b u. c) und die priesterlichen Gesetze (a) noch nicht vereinigt waren. Wann und von wem sie zusammengestellt wurden, darüber sind die Vermutungen sämtlich sehr unsicher. Verbunden wurden sie einfach deshalb, weil es sich hier um das Gesetzbuch handelte. Man wollte der Gemeinde nicht mehrere, sondern einen umfassenden Bericht in die Hand legen über das Fundament ihrer Existenz, über den Bund Gottes, in dem sie stund, und dessen Anforderungen an ihren Gehorsam und Gottesdienst. Als unter Nehemia's und Esra's Leitung die aus dem Exil wieder gesammelte Gemeinde zu einer großen Volksversammlung zusammentrat, um das Gesetz anzuhören und zu beschwören, damit es nun die heilige Grundlage ihres ganzen Volkstums sei, Neh. 8-10, da lag ihr zweifellos das ganze, vereinigte Gesetzbuch vor, so wie wirs heute lesen.
Zur Zeit des Neuen Testaments galt dem Juden „das Gesetz“ als das Hauptstück der Bibel und er betrachtete es als sein Glück und seine Ehre, „unter dem Gesetz zu stehen“, im Unterschied von allen andern Völkern, die ohne Gesetz sind und deshalb verderben. Diese Hochschätzung der Bücher Mose hatte ihren guten Grund. Sie enthalten in der That die Vereinigung alles dessen, was Israel auf langem Wege an Offenbarung und Erkenntnis Gottes empfangen hat. Sie umfassen sowohl den Anfang als das Ergebnis seiner Geschichte und zeigen uns deren Wurzel und deren Frucht. Sie enthalten die ältesten Überlieferungen und Aufzeichnungen, welche dem geistigen Leben des Volkes die Richtung gaben, so daß wir durch sie zum Ursprung der heiligen Gemeinde zurückgeleitet sind. Mit diesem anfänglichen Besitz ist aber auch der Erwerb der spätern Geschlechter verschmolzen, und in seiner Schlußgestalt bezeichnet das Gesetz den Endpunkt, bei dem Israel stehen blieb bis zu den Tagen des Neuen Testaments.