Schlachter, Franz Eugen - Meister Pippin

Schlachter, Franz Eugen - Meister Pippin

Bilder aus einem verborgenen Leben
gezeichnet von
F. Schlachter
Biel
Expedition der „Brosamen“
Kommissionsverlag von P. Kober (vorm. C.F. Spittler) in Basel
1898

Kapitel 1

Auf der Wanderschaft

Im Lichte der goldenen Abendsonne wanderten zwei Handwerksburschen, mit schweren Felleisen bepackt, auf der staubigen Landstraße dem Rhein entlang. Die Beiden hatten ein schönes Stück Weges hinter sich. Waren sie doch heute morgen nach der Frühmesse, der sie als getreue Söhne ihrer Kirche beigewohnt hatten, von St. Blasiens Münster tief im Herzen des Schwarzwaldes drin aufgebrochen, eben als die ersten Strahlen der Juni-Sonne das blinkende Kuppeldach der alten Klosterkirche in Gold verwandelten. Aus Gold bestand freilich die Kuppel nicht, sonst wäre sie wohl noch eher in die badische Münze nach Karlsruhe gewandert; aber auch das Kupferblech, das bis vor Kurzem die Kathedrale geschmückt hatte, war für die Armut der damaligen Zeit wertvoll genug gewesen, dass man es vom Kirchendach herunter in die Taschen der Leute fließen ließ. Wenn die Schweden im dreißigjährigen Kriege die protestantische Kirche mit Kugeln verteidigten, die sie aus dem Blei der Kirchenfenster gossen, warum sollte der Großherzog von Baden seinen durch Napoleons Brandschatzungen erschöpften Staatsschatz nicht mit Kreuzern füllen, die man aus dem Kupferdach St. Blasiens schlug? - Statt des wertvollern Kupfers konnte man ja der Kirche eine minderwertige Blechkappe aufsetzen - denn ist nicht für die Kirche alles gut genug? - und eben weil dies erst kürzlich geschehen war, so glänzte auch die Kuppel im Morgenrot des Tages, an dem unsere beiden Handwerksburschen die letzte Frühmesse in ihrem lieben Schwarzwald feierten.

Sie waren echte Wäldersöhne, die beiden jungen Leute, Kinder jenes kuppenreichen Granitgebirges, das einen großen Teil unseres badischen Nachbarlandes bedeckt und seinen Namen dem düstern Tannenwald verdankt, der seine Höhen krönt. Zwar an ihrem Äußern hätte man die beiden Wanderer nicht als Wälder erkannt; denn für ihre Reise in die Fremde hatten sie sich in städtische Kleidung gehüllt; aber die feuerrote Weste - das charakteristische Unikum der Schwarzwäldertracht - blickte doch verstohlen aus dem Felleisen heraus. Der Wälder besitzt nämlich eine wunderschöne Tracht. Noch heute trifft man hie und da auf den Märkten von Freiburg im Breisgau und sogar in Basel die reckenhafte Hünengestalt eines Holzbauern ab dem Wald, oder sieht ihn den Rhein hinunterfahren auf seinem Floß, die Füße mit silberbeschnallten Schuhen bekleidet, darüber die Waden in weiße Strümpfe gesteckt, die von den schwarzen Kniehosen aus Samt festgehalten werden. Dazu bildet die scharlachrote Weste, wie gesagt, den unveräußerlichen Bestandteil der Tracht, so sehr, dass ein Wälderknabe, der zur Beerdigung seines Großvaters einmal partout seine rote Weste anziehen wollte, zum Vater sagte, wenn er die nicht tragen dürfe, so freue ihn die ganze „Leich“ nicht mehr. Zur Vervollständigung seines Anzugs trägt dann der Wälder noch eine schwarze Jacke, aber er ist eitel genug, dass er seine weißen Hemdsärmel nur halb damit bedeckt, indem er - es müsste denn grimmig kalt sein - dieselbe nur leicht und gefällig über die linke Schulter wirft.

Hatten aber auch die beiden jungen Wanderer für ihre Reise in die weite Welt eine gangbarere Tracht gewählt, so trug doch jeder von ihnen etwas bei sich, woran man den Wälder weit und breit erkennt. Seppli, so hieß der eine von ihnen, hatte eine große Schwarzwälderuhr über den Rücken heruntergehängt, offenbar weil seine Westentasche zu klein war für das respektable „Zyt“. Im Schwarzwald werden nämlich keine Taschenuhren, sondern eben Wälderuhren fabriziert. Daran ist alles, so viel wie möglich, aus Holz geschnitzt - natürlich das Schlagwerk und die Kette nicht. Aber das Zifferblatt mitsamt den Zahlen, die Zeiger und sogar der Kuckuck, der bei jedem Stundenschlag aus dem obern Stübchen herausspringt und das heitere Knarren der Kette mit seiner hellen Stimme begleitet, sind bei der echten Wälderuhr aus urwüchsigem Material geschnitzt, an dem das waldige Gebirge noch niemals Mangel gelitten hat. Die Wälderuhren sind darum auch, Dank ihrer unverdorbenen Originalität und Dauerhaftigkeit, in der ganzen Welt bei Jung und Alt beliebt, wenigstens so weit die deutsche Zunge klingt und der Kuckuck schreit. Und zu der Zeit, von der wir reden, als noch kein Dampfross die Erzeugnisse ländlichen Gewerbefleißes zentnerweise ins Ausland beförderte, trug nicht selten der breite Rücken des Sohnes der Berge, der sich während des Winters über der Schnitzelbank gekrümmt, im Sommer den gesuchten Artikel hinab in die Städte der Niederung. Aber nicht nur die Uhren waren gesucht, sondern auch die Künstler, welche sie verfertigten und sich auf deren Reparatur verstanden, und darum verließen nicht selten die Söhne solcher Uhrmacherfamilien auf kürzere oder längere Zeit den heimatlichen Herd, um in der Fremde ein schönes Stück Geld zu verdienen, das ihnen bei der Rückkehr die Gründung eines eigenen Hausstandes ermöglichte.

In dieser Absicht hatte auch Seppli sein Bündel geschnürt und wanderte heute mit Toni, seinem Vetter, der nächstgelegenen Grenzstadt zu. Toni war freilich kein Uhrmacher seines Zeichens, sondern die hübschen, strohgeflochtenen Körbchen, die er auf dem Rücken neben dem Felleisen trug, verrieten, dass in seiner Familie eine andere Schwarzwälderindustrie, die Strohflechterei, zu Hause sei. Auf dem Walde gedeihen nämlich nicht nur schwarze, grobe Tannen, sondern auch feines, gelbes Stroh. Es ist eben dort auch, wie gar oft in der Welt, dass das Feinste sich neben dem Gröbsten findet, da, wo man's am wenigsten vermutet hätte, und gewiss hat der Schöpfer in Seiner Weisheit nicht umsonst es so gefügt, dass oft

„Das Strenge mit dem Zarten, Dass Hartes sich und Mildes paarten.“

Freilich trägt der „grobe“ Wälder auch sein gut Teil bei zur Verfeinerung seines Strohs, so dass seine Geflechte nur von den feinsten Florentinerarbeiten übertroffen werden.

Toni war nun allerdings selbst kein Strohflechter; was er auf dem Rücken bei sich trug, war die Arbeit der feineren Finger seiner Schwester, denen er als dienstfertiger Bruder die Frucht ihres winterlichen Fleißes in Geld zu verwandeln versprach. Er brauchte ja nur nach Basel herunter zu kommen, so ward er seiner hübschen Körbchen schon los; oder sollten die Basler Frauen mit ihrem bekannten Sinn für das Feine und Ausgetüftelte ihn und seine niedlichen Sächelchen von der Türe weisen?

Sein Sinn stand freilich noch weiter als nach Basel hin. Er hatte das Schuhmacherhandwerk gelernt bei einem Meister, der seine Wanderjahre in Frankreich drüben zugebracht. Dieser hatte mit seinen Erzählungen von den Wundern der französischen Städte Toni's Wandertrieb mächtig erregt, und besonders wünschenswert ließen dem Lehrling die welschen Brocken, welche der Meister so geschickt unter das Wälderdeutsch zu mengen verstand, die Kenntnis der französischen Sprache erscheinen. Tönten doch des Meisters Flüche noch einmal so kräftig, wenn er sie mit einem französischen diable würzte, und je weniger Toni den Sinn dieser und ähnlicher Ausdrücke verstand, desto größere Geheimnisse ahnte er dahinter, so dass ihn nach der französischen Bildung immer stärker verlangte, je näher das Ende seiner Lehrzeit kam. Galt doch auch damals noch im badischen Land französische Mode für das Schönste in der Welt, und wer der Mamsell so und so ihr Hofschuhmacher werden wollte, musste wissen, wie hoch man den französischen Dämchen die Absätze an den Stiefelchen macht.

Die beiden Jünglinge lenkten ihre Schritte von der staubigen Landstraße, wo wir sie getroffen haben, links dem Rheine zu, der dort seine smaragdgrünen Wellen in eiligem Laufe an Rheinfelden vorbei Basel zutreibt. Der wilde Geselle stürzt sich, durch sein erfrischendes Bad im Bodensee gestärkt, unterhalb Schaffhausen über hohe Felsen hinab. Dies gefällt ihm so gut, dass er auf der ganzen Strecke vom berühmten Rheinfall bis fast nach Basel hinunter den Purzelbaum zu wiederholen versucht. Bei Laufenburg gelingt das Kunststück ihm nahezu, aber wie er weiter unten bei Rheinfelden noch einmal einen Anlauf dazu nimmt, schlägt er sich den mutwilligen Kopf an dem „Stein“, der dort aus seinen Fluten hervorragt, so empfindlich auf, dass ihm die Luft für weitere Seiltänzerkünste vergeht, und bei seiner Ankunft in der „frommen Stadt“ macht er eine so entschiedene Wendung, dass von da an alle Tücke seines Herzens verschwunden ist und er wie ein ehrbarer Basler fortan gemessenen Schrittes seiner Wege geht.

Schwerbeladene Handwerksburschen laufen aber nicht so schnell wie der Rhein, und unsere beiden Kameraden waren nach zwölfstündigem Marsch müde genug, sich an den Ufern des schönen Stromes nach einem Nachtquartier umzusehen, um so mehr, als es eben sieben Uhr schlug, nicht auf Sepplis Wälderuhr, die ja auf ihres Meisters Rücken nicht gehen konnte, wohl aber an der alten Turmuhr des Schlosses, auf welches die beiden müden Wanderer ihre Schritte lenkten.

Auf dem rechtsseitigen Rheinufer - nur ein halbes Stündchen oberhalb Rheinfelden, der aargauischen Stadt, aber auf der andern, der badischen Seite des Flusses - erhebt sich, dicht an dem Strom, ein großes Schloss, das mit seinen Umfassungsmauern, Gräben und Tortürmen den Eindruck einer kleinen Festung macht. Sein ältester Teil, eine Burg, die ihr ergrautes Gestein in den Wellen des Rheines spiegelt, datiert aus mittelalterlicher Zeit. Neben dieselbe wurde um die Mitte des vorigen Jahrhunderts von den damaligen Besitzern der Burg, den Rittern des deutschen Ordens, ein geräumiges, vierstöckiges Haus gestellt, an das eine schöne Schlosskirche stößt. Ein ausgedehnter Park mit schattigen Lindenalleen zieht sich hinter dem Schlosse den Rhein hinauf. Einst hatte in diesen Räumen ein üppiges Treiben geherrscht. Einer der Comthurn des deutschen Ritterordens, der in der Umgebung große Ländereien besaß, residierte hier. Ehemals ernsten und heiligen Zwecken geweiht, geriet dieser ritterliche Bund, als er reich und mächtig geworden war, in bedenklichen Verfall. Auch die letzten Comthurn von Bukein oder Beuggen, wie das Schloss, von dem wir reden, hieß, versanken in die wüsteste Schwelgerei. Bälle und Schmausereien, die in wahre Orgien ausarteten, entweihten das ehrwürdige Schloss. Man verprasste die Abgaben, welche die Bauern von ihrem mühsam erworbenen Gut aus Tenne und Keller zu liefern hatten. Drehte sich der Braten am Spieß und wollte das Feuer darunter nicht helle brennen, so warf der Koch einen Butterweck in die Flamme und schürte damit.

Freilich zu der Zeit, von welcher wir reden, war solche Üppigkeit aus den Mauern des Schlosses längst verbannt. Der deutsche Ritterorden war schon unter Napoleons Herrschaft aufgehoben worden und die Staaten zogen seine Güter ein. Das Schloss am Rhein war in der Folgezeit lange dagestanden wie ein ausgeraubtes Nest, die kurze Zeit, bevor unsere beiden Handwerksburschen demselben ihren Besuch abstatteten, eine Armen-Erziehungsanstalt darin untergebracht worden war. Da wurden denn keine Butterwecken mehr ins Feuer geworfen; es hat sich kaum hie und da einer in die Kaffeetassen verirrt, wenn auch keineswegs Meister Schmalhans, sondern christliche Nächstenliebe der Anstalt den Speisezettel schrieb.

Das Vesperglöcklein auf der alten Schlosskirche kündigte eben mit heller Zunge Betzeit an, als unser Wälderpaar durch den Torweg schritt. Die Kirche war nämlich, trotzdem die Anstalt unter protestantischer Leitung stand, dem alten Glauben treu geblieben, denn in ihr waren und sind bis auf den heutigen Tag die beiden benachbarten katholischen Dörfer eingepfarrt. Seppli erinnerte sich beim Ton der Betglocke an die Ermahnung, welche ihm seine Mutter gegeben, als er den Wanderstab ergriff. „Geh' an keiner Kirche vorbei,“ hatte sie ihm gesagt, „ohne dass du ein Vaterunser betest, und an keinem Kreuze vorüber, ohne dass du den Hut abnimmst und ein Ave-Maria sprichst.“ Diesen mütterlichen Rat hatten die beiden Wanderer bis jetzt treulich befolgt und es war ihnen eigentümlich, was für ein heimatliches Gefühl sie bei jedem Kirchlein und Kapellchen, dessen sie auf ihrem Wege ansichtig wurden, beschlich. Bleibt doch auch der wanderlustige Bursche, der pfeifend und singend seine Straße zieht, von dem sonderbaren Gefühl, das man Heimweh nennt, nicht verschohnt, und mancher wäre schon gerne, wie der Peter in der Fremde, gleich am ersten Abend wieder zum mütterlichen Herd zurückgekehrt. Da ist es denn gut, wenn ein Mensch eine Heimat kennt, die er überall wieder finden kann. Und zu solcher Heimat hat uns der liebe Gott auf Erden die Kirche gemacht, und damit wir überall eine Heimat finden können, die Kirchen und Kapellen in der ganzen Welt zerstreut. Glücklich der Mensch, heiße er nun Katholik oder Protestant, der im Hause Gottes seine Heimat gefunden hat! Ihn decket der Herr in Seiner Hütte zur bösen Zeit, Er verbirgt ihn heimlich in Seinem Gezelt. Allerdings gilt den meisten Handwerksburschen von heutzutage nicht die Kirche, sondern das Wirtshaus und die Kneipe als ihr Heimatort, aber so war es bei Seppli und Toni nicht. Ehe sie sich nach dem Wirtshaus umsahen, betraten sie die Schlosskirche, tauchten ihren Finger ins Weihwasser, bekreuzigten sich ehrfurchtsvoll und knieten andächtig nieder, während der Priester am Altar das Tedeum sang, und Seppli wischte sich verstohlenerweise eine Träne ab, denn er dachte an die Mutter, neben welcher er so oft des Abends knieend in der Dorfkirche der Heimat seine Abendandacht verrichtet hatte. Toni konnte sich freilich an das nicht mehr erinnern, denn er hatte sein Mütterlein kaum gekannt, und auch als der Vater von seinen dreizehn Kindern hinwegstarb, war er erst ein kleines Büblein gewesen. Aber als ein guter Katholik schickte er in der stillen Abendstunde einen Seufzer für die Seelen seiner frühverstorbenen Eltern zum Himmel empor, und war es ihm nicht, als winke jener Engel hoch oben an der Kirchendecke ihm freundlich zu: „Deine Mutter denkt in dieser Stunde an dich vor Gottes Thron!“

Nach der Vesper klopften die beiden treuen Söhne der Kirche schüchtern am katholischen Pfarrhaus an, das unweit vom Schlosse steht. Sie hofften auf ein Vesperbrot, vielleicht auch auf ein Nachtquartier. Zwar trugen sie wohl einen Zehrpfennig in der Tasche, aber den wollten sie lieber sparen, denn die Reise nach Frankreich war ja noch lange genug. Auf ihr Klopfen erschien des Pfarrers Köchin unter der Tür.

„Was wollet 'r?“ fragte sie die beiden Handwerksburschen in nicht eben erbaulichem Ton.

„O, nix ebbes b'sonders,“ - antwortete Toni schüchtern. „Mer sind halt auf der Reis und habe bitte wolle um ebbes fier z'Nacht.“

„Mir habed hier koi Herberg fier d'Landstreicher,“ sagte die Köchin erzürnt und schlug den Beiden die Türe vor der Nase zu.

Sie gingen. „Das ist e besi Kechene fier e Pfarrherr,“ meinte Seppli, „deheime unserem Herr Pfarrer seini gibt dene Reisende immer was. Hätte mir nur d'r Herr Pfarrer selber troffe, der hätt' uns g'wiss was gebe.“

Als sie um die Ecke des Schlosses bogen, begegnete ihnen ein freundlicher Herr mit einem schwarzen Sammetkäpplein auf dem Kopf. In der Meinung, dass dies der Herr Pfarrer sein, grüßten sie ihn und brachten ihm ihr Anliegen vor: „Zwei arme reisende Handwerksburschen bitten höflich um e kleine Gab.“

Ihr kommt gerade recht,„ sagte der Herr, „es wird gleich zum Nachtessen läuten; geht dort an die Türe und saget, der Inspektor habe euch geschickt.“

Die Beiden meldeten sich. - Man wies ihnen Plätze an in einem großen Saal im Erdgeschoss, wo eben zwei lange Tische gedeckt wurden.

Jetzt ertönte eine Glocke. Auf dieses Zeichen hin ward es lebendig in dem großen, stillen Haus. Eine große Kinderschar ergoss sich die breiten, steinernen Treppen herunter in den Saal. Sie nahmen den einen der langen Tische in Beschlag. Ihnen folgten bedächtigen Schrittes eine Anzahl ernster Jünglinge, die zusammen mit dem Dienstpersonal den zweiten großen Tisch besetzten; dort ward auch den Handwerksburschen ihr Platz angewiesen. An einem kleineren Tisch nahm der Inspektor mit seiner Familie Platz. Er flehte den Segen des Herrn auf die Gaben herab; dann begann auf den zinnernen Tellern ein allgemeines Löffelkonzert. Nach Beendigung desselben stimmten die Kinder ein Abendlied an und suchten unter Anführung ihrer Aufseher ihre Schlafsäle im obersten Stockwerk des Schlosses auf. Die beiden Handwerksburschen wollten sich eben verabschieden, aber der Inspektor sagte: „Ihr könnt hier übernachten, wenn ihr wollt. Wir sind zwar keine reichen Leute, obwohl wir in einem Schlosse wohnen. In unserer Anstalt werden arme Kinder erzogen und Armenschullehrer ausgebildet; aber von dem, was der Vater im Himmel uns Armen beschert, teilen wir gerne noch andern Armen mit.“

Toni und Seppli waren nicht wenig erstaunt über diese unerwartete Gutherzigkeit, und während sie bis zum Schlafengehen im Schlossgarten auf einer Bank saßen, stellten sie Betrachtungen an über den Unterschied zwischen einem lutherischen Ketzer und einer katholischen Pfarrköchin; denn dass der Herr Inspektor evangelischen Glaubens sei, hatten sie schon an seinem Gebet gemerkt.

Um 9 Uhr wohnten sie noch der Abendandacht bei, die der Inspektor für die Erwachsenen im Lehrsaal hielt; die Lehrerzöglinge wiesen den Gästen ihre Schlafstätten in ihrem eigenen Schlafsaal an.

Am andern Morgen erwachten die beiden Wanderer von den Klängen eines Liedes. Es waren die Schullehrerzöglinge, die um 5 Uhr das ganze Haus durch einen Morgengesang aus den Federn riefen.

Die Gäste wollten sich verabschieden; aber man erklärte ihnen, ohne Frühstück und Morgensegen lasse man hier niemand aus dem Haus.

Der „Morgensegen,“ dachten sie, „was ist das?“

Das Frühstück fand um 6 ½ Uhr statt. Nach diesem begab sich die ganze Hausgemeinde in den großen Lehrsaal, wo der Inspektor den Katheder bestieg. Vor ihm lag ein großer Folioband. Auch die Zöglinge und die Kinder hatten ein jedes ein großes Buch vor sich.

Der „Morgensegen“ ward eröffnet mit einem wirklich schönen, vierstimmigen Choralgesang. Dann schlugen alle ihre Bücher auf. Ein Kapitel wurde gelesen und zwar so, dass der ganze Chor der Zöglinge miteinander den ersten Vers vorlas, dann alle Knaben miteinander den zweiten und endlich der Chor der Mädchen den dritten Vers, und so abwechselnd in schöner Ordnung, bis das ganze Kapitel zu Ende gelesen war. Jetzt richtete der Inspektor Fragen über das Gelesene an die Kinder und an die Großen, die wiederum von den genannten drei Abteilungen im Chor beantwortet wurden. In erbaulicher Rede ward sodann vom Inspektor das Ganze dem Verständnis von Groß und Klein nahe gebracht, wobei er treffliche Beispiele und Erzählungen in seine Rede flocht. Ein aus dem Herzen gesprochenes Gebet schloss die Andacht, worauf alle an ihre Arbeit gingen.

Jetzt ergriffen auch die beiden Reisenden ihren Wanderstab. „Herr Inspektor,“ sagten sie beim Scheiden, „wir danken schön für die Gastfreundschaft. Nur um eines möchten wir Sie noch bitten, dass sie uns sagen, wie das Buch heißt, aus dem soeben gelesen worden ist?“

„Kennt ihr die Bibel nicht?“ fragte der Inspektor mit Verwunderung. „Doch,“ setzte er hinzu, „ihr werdet katholisch sein, dann begreif' ich's ja, dass euch das Buch unbekannt ist. Und doch, was für ein guter Begleiter würde euch ein solches Buch nicht nur jetzt auf der Wanderschaft, sondern auf der ganzen Lebensreise sein. Ich will euch was sagen: Wenn ihr nach Basel kommt und die Rheinbrücke überschritten habt, so geht ihr links den Rheinsprung hinauf bis zum ehemaligen Augustinerkloster. Dort in der Nähe ist das sogenannte „Fälkle“ - eine Buchhandlung - dort erhält jeder Handwerksbursche gegen Vorweisung seines Wanderbüchleins ein Neues Testament. Versäumet diese Gelegenheit, in den Besitz von Gottes Wort zu kommen, nicht; denn wenn ihr es fleißig gebraucht, so werdet ihr erfahren, dass es eueres Fußes Leuchte und ein Licht auf eurem Wege wird. - Behüt euch Gott!“ -

Die beiden Kameraden machten sich mit fröhlichem Herzen auf den Weg. Zwar hatten sie diesmal die Frühmesse versäumt, aber der deutsche Morgensegen hatte ihnen so wohl getan, wie noch keine lateinische Messe in ihrem ganzen Leben.

Kapitel 2

Ein Besuch in den Cevennen

Vom Turm der Kathedrale zu Avignon schlug es zwölf. Die Schustergesellen im Atelier des Hauses zum „Roten Pantoffel“ an der Rue du Rhone ließen der eine seinen Hammer, womit er das Sohlleder klopfte, der andere die Ahle, der dritte das Messer sinken, womit er den Fleck für einen Stiefelabsatz zurecht geschnitten hatte. Sie erwarteten die Suppe, die ihnen um diese Zeit gewöhnlich in die Werkstätte gebracht wurde; denn ein besonderes Speisezimmer existierte für die Arbeiter der Madame Avarice nicht.

„Heute ist Samstag,“ so brach einer der jüngern Arbeiter das Schweigen, „wie wäre es, wenn wir morgen einmal zusammen eine rechte Fußreise unternähmen? Sitzen können wir ja hier genugsam die ganze liebe lange Woche hindurch!“

„Ja, und - ,“ fiel ihm ein anderer ins Wort, „bleibt man zu Hause, so kann man den halben Sonntag mit Flicken von Stiefeln zubringen, welche die Damen und Herren erst am Samstag Abend bringen, um sie dann am Sonntag Mittag ja noch rechtzeitig zu erhalten, damit sie nachmittags mit ihrem Schatz spazieren gehen können. Ob unsereiner dabei auch zu seinem Sonntag kommt, das ist diesen Leuten ganz einerlei.“

„Wenn man am Ende für diese Sonntagsarbeit auch noch extra bezahlt würde, so wollte ich nichts dagegen sagen,“ brummte ein dritter, „aber bei der Auszahlung des Wochenlohnes werden doch nur sechs Tage berechnet von dieser G…“

Hier ging die Werkstatttüre auf, und herein trat, mit einer großen Suppenschüssel in der Hand, eine Frau von ansehnlicher Korpulenz, die strengen Züge ihres etwas stark geröteten Angesichts von der bei den ältern Französinnen so beliebten, nicht immer ganz weißen Haube eingerahmt. Mit einem <bon appétit, Messieurs!> stellte sie ihre nicht eben blanke Schüssel auf den Werktisch und entfernte sich schleunigst wieder unter dem <merci, Madame!> ihrer Gesellen. Diese, hungrig wie sie waren - denn die Madame pflegte ihnen kein Frühstück zu verabreichen - machten sich mit ihren Löffeln hinter die Schüssel her; aber kaum hatten sie den ersten Löffel voll gekostet, als einer von ihnen ausrief: „Das soll eine Fleischsuppe sein und ist doch kein einziges Auge drauf! Entweder hat der Ochs kein Auge gehabt, aus dessen Fleisch diese Suppe gekocht worden ist, oder aber die Kuh kein Fett!“

Die andern waren einverstanden, dass das in der Tat eine ganz erbärmliche Brühe sei; - verwöhnt waren sie freilich nicht; aber das war nun einmal doch über's Bohnenlied. Einer der Arbeiter machte zum Glück den Vorschlag, die Sache von der humoristischen Seite zu nehmen. Er stellte die Schüssel auf die Erde, band einen Knieriemen drum und zog sie auf dem Zimmerboden herum, während ein anderer daran schob und die übrigen sich den leeren Bauch mit Lachen schüttelten. Plötzlich geht die Türe wieder auf und herein kommt, mit noch weit röterem Angesicht, als vorhin, die gestrenge Meisterin.

„Was treibt ihr da?“ herrschte sie ihr Personal an. „Wollt ihr meine schöne Suppenschüssel zerbrechen?“

„Ach, Madame,“ entgegnete mit wehmutsvollem Blick der Veranstalter des merkwürdigen Umzuges, „die arme Suppe ist ja blind; darum müssen wir dieselbe leiten, damit sie den richtigen Weg finden kann.“

Der Meisterin stand offenbar kein so feiner Witz zu Gebot, wie ihren Gesellen, sonst hätte sie diese Bemerkung mit gleicher Münze zurückbezahlt. In Ermangelung dieser Münze musste sie ein gröberes Geschütz auffahren. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und rief mit blitzenden Augen dem Waghalsigen zu, der sich erkühnt hatte, ihre Kochkunst zu tadeln: „So, Anton, von Ihnen hätte ich eine derartige Unzufriedenheit und Undankbarkeit am allerwenigsten erwartet! Was ist das für eine Manier, einem eine solche Suppe so herunterzumachen! Man mag kochen, wie man will, so ist's nicht recht! Ich esse doch auch solche Suppe, und bin dabei fett und gesund!“

„Madame,“ entgegnete Anton, durch ihr Wüten durchaus nicht aus der Fassung gebracht: „Bei Ihnen mag ja die Suppe gut anschlagen, bei uns leider nicht!“ Er wusste nur zu gut, dass an der Korpulenz der Meisterin weniger die Suppe, als die Leckerbissen schuld waren, deren Genuss sie sich infolge ihres den Gesellen gegenüber angewandten Sparsystems um so eher gestatten konnte. Es erwies sich übrigens auch da, dass ein guter Witz oft mehr ausrichtet, als ein grober Vorwurf; wenigstens erhielten die Arbeiter der Schusterwerkstätte zum „Roten Pantoffel“ an der Rue du Rhone in Avignon von jetzt an keine blinde Suppe mehr.

Für heute jedoch brachte das Vorgefallene bei den Arbeitern ihren schon halb gefassten Entschluss, am Sonntag ihrer freundlichen Meisterin einmal drauszulaufen, nur um so sicherer zur Reife, und zwar beschlossen sie, sich schon am Samstag Abend auf den Weg zu machen. Ihr Ziel waren nämlich die Cevennen, von denen Anton schon viel gehört und die er gerne, ehe er Frankreich verließ, einmal selbst gesehen hätte. Anton Pippin war kein anderer, als jener junge Badenser, den wir mit seinem Freunde der Stadt Basel zupilgern sahen. Dort hatte er eine Zeit lang gearbeitet; nachdem er aber erst etwas Reisegeld verdient, wanderte er im Herbst über Genf nach dem südlichen Frankreich, um dort einen Winter zuzubringen. Aus dem einen wurden aber mehrere Winter; denn nachdem er Lyon und Marseille gesehen, setzte sich der junge Deutsche in Avignon, der alten Residenz der Päpste, fest. Selbstverständlich gefiel ihm nicht alles in dem Geschäft der Madame Avarice; da sie aber nach dem Tode ihres Gatten einen zuverlässigen Vorarbeiter bedurfte und ihn in Anton gefunden hatte, so fühlte sich dieser um so mehr an das betreffende Haus gebunden, als er auch nicht ganz frei war von einer gewissen Zuneigung zu der Witwe einzigem Töchterlein.

Trotzdem hatte er sich nun aber in der letzten Zeit überzeugt, dass seines Bleibens in dem fremden Lande und in dem Hause zum „Roten Pantoffel“ nicht ewig sein könne. Es war ihm nicht entgangen, dass Madame Avarice eine andere Partie für ihre Tochter im Sinne habe. Ganz unrecht war ihm das eigentlich nicht; denn er fürchtete ohne Zweifel, dass, wenn er sich mit unlöslichen Banden an dieses Haus fessle, er in bedenklicher Weise unter den Pantoffel, zwar nicht der Tochter, wohl aber der Mutter kommen müsste. Als echter Deutscher konnte er aber auch in dem französischen Wesen sich nie ganz zu Hause fühlen, und so zog es ihn denn von den Ufern der Rhone je länger je heftiger nach den Ufern des Rheins. Dieser Strom übt nämlich eine eigene Anziehung auf seine Söhne aus. Wenn auch von ihm nicht gerade gesagt werden kann, was von dem Nil, dass, wer einmal von seinem Wasser getrunken habe, der kehre schließlich immer wieder zu ihm zurück (denn man trinkt ja bekanntlich das Wasser des Rheins nicht, wie dasjenige des Nils), so ist es doch wahr, dass jeder, der seine Jugendzeit an den Ufern des Rheins oder doch in einem ihm angrenzenden Lande, wie unser Anton zugebracht hat, schließlich immer wieder gern das Lied singen hört: „Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“

Unser Anton wollte nun freilich die Heimkehr nicht überstürzen; er wusste wohl, dass er schwerlich je wieder nach Frankreich zurückkehren könne, wenn er das Land einmal verlassen habe, und so gedachte er jedenfalls auch noch Paris zu sehen, ehe er Basel wieder sah. Jetzt aber wollte er erst einmal noch die Cevennen besuchen; denn von diesen hatte ihm ein Nebenarbeiter viel merkwürdiges erzählt, und da dieser Arbeiter beabsichtigte, seinen dort wohnenden Eltern einen Besuch zu machen, so wünschte Anton ihn zu begleiten.

„Was meinst du, Platon,“ sagte er zu diesem, nachdem die Fleischsuppe trotz ihrem Augenmangel den Weg alles Fleisches gegangen war, „wie wäre es, wenn wir den längst besprochenen Ausflug nach deinen heimatlichen Bergen morgen ausführen würden?“

„Morgen?“ lachte Platon, „in einem Tag willst du diesen Weg von nahezu 80 Kilometern zurücklegen? Das geht nicht! Ja, wenn wir heute Abend schon verreisen könnten! Dann wäre es möglich, dass wir mit dem Boten, der regelmäßig in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag die Reise von Avignon nach Alais macht, bis dorthin fahren könnten. Wenn du Luft hast, so will ich hingehen und sehen, ob er uns mitnehmen kann.“

„Wenn du so gut sein willst, wäre mirs recht; ich brächte die Nacht lieber in dem Wagen des Boten zu, als droben in unserer heißen Kammer.“

Platon ging und kam nach einigen Minuten mit dem Bescheid zurück, dass der Bote bereit sei, die Ausflügler mitzunehmen gegen ein gutes Trinkgeld; sie müssten aber um 6 Uhr abends abreisen; später könne er unmöglich fahren, er komme so wie so vor morgens 4 Uhr nicht in Alais an. „Dies wäre dann,“ sagte Platon, „gerade die richtige Zeit für uns, um den übrigen Weg zu Fuß anzutreten; wir werden auch so nicht lange vor Mittag in meiner Heimat ankommen.“

„Gut,“ sagte Anton, „wir wollen dafür sorgen, dass wir gehen können; bei einigem Fleiß werden wir unsere Arbeit bis dahin fertig bringen. Ich werde auch sogleich gehen und die Madame von unserer Absicht unterrichten.“

Damit ergriff er ein Paar neue Schuhe und ging nach vorn in das Ladenlokal, um dieselben als fertige Arbeit dort abzugeben. „Fräulein Angelique,“ sagte er zu der im Laden beschäftigten Tochter, „kann ich vielleicht die Madame sprechen?“

„Ach,“ entgegnete die Tochter mit einem Seufzer, „sprechen Sie heute lieber nicht mehr mit Mama, sie ist zu aufgeregt! Was wünschen Sie denn?“

„Ich wollte ihr nur sagen,“ entgegnete Anton, „dass wir über den Sonntag fortzugehen gedenken, und zwar müssen wir schon heute Abend verreisen und werden vor Montag Abend nicht zurück sein.“

„So, wo wollen Sie denn hin? Kann ich etwa auch mitkommen?“

„Fräulein,“ entgegnete Anton, „das wäre zu beschwerlich für Sie; wir gehen mit Platon zu Besuch bei seinen Eltern.“

„O, Sie wollen nach den Cevennen? Nein, für dieses Vergnügen danke ich!“ Aber mitgeben will ich Ihnen etwas, was ich schon seit einiger Zeit für Sie bereit halte.“ Damit zog sie aus einer Schublade ein kleines Päckchen hervor und überreichte es dem Gesellen mit leichtem Erröten. „Es ist eine Arbeit,“ sagte sie, „die ich für Sie gemacht habe.“

Anton öffnete das Paket; es war eine seidene Weste, geschmackvoll gestickt. Der Anblick dieses ganz unerwarteten Geschenkes brachte ihn in nicht geringe Verlegenheit. Nahm er dieses unzweideutige Zeichen der Liebe an, so wusste er, würde das Mädchen in ihrer ohnehin unerfüllbaren Hoffnung noch mehr bestärkt; wies er es aber zurück, so würde er sie aufs Tiefste kränken. Seine Klugheit ließ ihn den Ausweg finden. „Aha,“ sagte er möglichst kühl, „Sie wollen mir wohl ein Abschiedsgeschenk machen? Ich werde es denn auch als ein Andenken an Frankreich gerne mit nach Hause nehmen.“

„Aber Anton, Sie werden uns doch nicht verlassen wollen?“ rief die Tochter erschrocken aus.

„So bald noch nicht!“ beschwichtigte er, „es sei denn, dass Ihre Mama mich fortschickt!“

„Was denken Sie auch? Sie sagt ja immer, wir könnten keinen bessern Arbeiter bekommen als den Anton.“

„Wollen Sie es ihr also sagen,“ brach Anton das Gespräch ab, „dass wir über den Sonntag fortgehen?“

„Ja, gerne! Gute Reise! Kommen Sie aber nur auch wieder zurück!“

Die Arbeiter verließen um 6 Uhr die Werkstatt, ohne dass sich Madame gezeigt hätte.

Sie begaben sich nach der Wirtschaft, wo der Bote sein Absteigequartier hatte und setzten sich dort noch zu einem Vesperbrot hin; denn ein Abendessen erhielten sie bei Madame Avarice nicht. In den Wirtschaften zu Avignon bestand damals noch der Gebrauch, dass man gegen Bezahlung eines Entrees von 50 Cts. so viel trinken konnte, als man wollte.

Das südliche Frankreich ist nämlich außerordentlich weinreich und in der damaligen Zeit, wo es noch keine Eisenbahnen gab und wo die Philoxera noch nicht die Rebberge verheert hatte, war der Überfluss an edlem Rebensaft ein viel größerer als jetzt, wiewohl auch jetzt noch in jenen Gegenden der Wein erstaunlich billig zu haben ist. Die Arbeiter der Madame Avarice wussten sich diesen günstigen Umstand zu Nutzen zu machen; sie deckten das chronische Nahrungsdefizit, unter dem sie bei ihrer Meisterin litten, durch reichlichen Weingenuss. Dass ihnen aber das nicht von wirklichem Nutzen war, hatte Anton, trotzdem er selbst aus dem Markgrafenland stammte, bald genug erkannt. Er seinerseits brachte seine Abende nicht in der Wirtschaft zu, wenn er auch genötigt war, dort sein Abendessen einzunehmen; er liebte es mehr, nachher in der schönen Umgebung der Stadt einen Spaziergang zu machen, als hinter dem Wirtstisch sitzen bleiben. Dafür ging er dann auch am Morgen frisch und gestärkt an seine Arbeit, während die andern nicht selten katzenjämmerlich aussahen.

Auch am heutigen Abend sollte sich leider die Schädlichkeit der Avignonesischen Wirtschaftsordnung zeigen. Als die Zeit kam, wo der Bote zur Abfahrt rief, standen Anton und Platon auf, die beiden andern Gesellen aber wollten ihre bezahlten 50 Centimes noch ein wenig länger ausnützen und blieben sitzen. Als sie dann endlich dem Wagen noch nachlaufen wollten, war ihnen derselbe schon aus den Augen entschwunden, und so zogen sie es vor, von ihrem Rechte der Wirtschaft, zumal da es Samstagabend war, einen besonders ausgiebigen Gebrauch zu machen.

Die beiden andern fuhren indessen vergnügt in der kühlen Abendluft davon. Als die Nacht hereinbrach, machten sie es sich auf den Säcken des Wagens so bequem als möglich und schliefen bald so gut, wie es eben auf einem Wagen mit bloß hölzernen Federn geht. Die Gesellen der Madame Avarice waren auch in dieser Beziehung nicht verwöhnt. Ihre Nachtlager, direkt unter dem Hohlziegel plaziert, glichen eher einem Spatzennest, als einem Bett. Dieselben waren zwar nicht von Spatzen, wohl aber von jenen in französischen Landen nicht unbekannten kleinen Haustierchen bevölkert, deren Ausrottung nur bei peinlicher Reinlichkeit gelingt, wo sie sich einmal eingenistet haben. Der Madame Avarice fehlte es aber leider nicht nur an peinlicher, sondern sogar an gewöhnlicher Reinlichkeit, mit ein Hauptgrund für Anton, dass er, trotz der offenkundigen Zuneigung ihrer Tochter zu ihm, sich zu einer Verbindung nie hätte entschließen können. Wenn es im heißen Sommer dann allemal gar zu arg wurde, so halfen sich die Gesellen auf folgende originelle Weise: Irgendwo vor der Stadt wussten sie einen schönen, mit Moos bewachsenen Felsen, den die Sonne tagsüber so erwärmte, dass er die ganze Nacht hindurch nicht erkaltete. Dorthin flüchteten sie sich dann in der stillen Nächte Stunden, natürlich nur, wenn es nicht regnete, was aber in südlichen Ländern überhaupt seltener vorkommt, als bei uns. Verglichen mit dem Felsenbett waren also die Säcke des Botenwagens immer noch ein Divan zu nennen.

Die Sonne färbte schon den Osten rot, als die Reisenden Alais erreichten. Diese altertümliche Stadt, die noch aus der Zeit der Kelten stammt, liegt am Ufer des Gardon, eines Flusses, der in den Cevennen entspringt. Seinen Ufern entlang dringt der Wanderer allmählich in das interessante Gebirgsland ein, das diesen Namen trägt. Zuerst schlängelt sich der Pfad durch ein rebenbewachsenes Hügelland, wo der nicht seltene Feigenbaum an das Wort der Schrift erinnert, dass ein jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen soll, wie denn auch die sonst meist armseligen Hütten von Weinstöcken umrankt und von Feigenbäumen überschattet sind. Dabei fließt aus dem steinigen Erdreich auch Öl, und zwar nicht Erdöl, sondern feinstes Olivenöl, aber natürlich nicht unmittelbar aus dem Boden, sondern vermittelst des Olivenbaumes und der Presse, die seinen Früchten den köstlichen Saft entlockt. Fast alles, was gut werden soll, muss ja gepresst werden in der Welt und ohne Arbeit gibt der Erdboden seine Früchte nicht. Daran wird man in den Cevennen beständig erinnert; denn hier ist fast jedes fruchtbare Fleckchen Erde dem felsigen Boden mit Mühe abgerungen, indem aus dem schieferigen Gestein Terrassen gebaut wurden, die mit Erde ausgefüllt sind. Allmählich tritt, je höher man steigt, der Weinstock, der Olivenbaum und auch der Feigenbaum zurück und das Auge sieht fast nur noch den Kastanienbaum, der neben spärlichen Feldfrüchten das einzige Brot der Armen ist.

Während die beiden Wanderer eine Anhöhe überstiegen, trug ihnen der kühle Morgenwind die Töne eines Liedes entgegen, das von einer Menge gesungen zu werden schien. Wie sie den Weg hinunterkamen, der in ein von Felsen eingefasstes Tälchen mündete, wurden sie auch wirklich überrascht durch den Anblick einer Versammlung, die sich dort stehend um eine improvisierte Kanzel scharte (siehe Bild). Platon führte seinen Begleiter auf einen Felsenvorsprung, von wo aus sie das versammelte Volk überschauen konnten. Eben verklang das Lied. Der Prediger erhob sich und sprach mit lauter, vernehmlicher Stimme, die von den Felsenwänden der natürlichen Kathedrale wiederhallte, ungefähr folgende Worte:

„Meine Brüder! Wir haben uns hier in friedlichen Zeiten und beim Licht des Tages versammelt, an einer Stätte, wo einst, wie ihr wisst, in den Tagen der Verfolgung, unsere Väter aus Furcht vor den Dragonern des Königs sich in aller Stille, oft zu mitternächtlicher Stunde vereinigten, um zu tun, was ihnen damals bei Todesstrafe verboten war, nämlich Gott, ihren Herrn anzubeten nach ihrer Überzeugung und Sein Evangelium zu verkündigen gemäß der Heiligen Schrift. Mit Dank gegen Gott gedenken wir heute der Treue unserer Vorfahren, die Gut und Blut, Leben und Gesundheit einsetzten, nur um die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu verteidigen, die man ihnen, gegen göttliches und menschliches Recht, rauben wollte. Ihrer Standhaftigkeit verdanken wir es, dass es heute noch eine protestantische Kirche in den Cevennen gibt; denn wäre es nach dem Willen der Jesuiten und des von ihnen inspirierten Königs Louis XIV. gegangen, die „Kirche der Wüste“ wäre damals mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden. Aber Gott lässt seine Kirche eben nicht vertilgen; die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen, der Herr erhält Seine Auserwählten durch alle Trübsale hindurch bis ans Ende, und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Davon ist unsere Kirche ein sichtlicher Beweis. Einst stand dort oben auf der Felsenkante, wo jetzt jener Bruder so arglos sitzt, eine Wache, welche zum Schutz der Versammlung, die sich hier in der Zeit der Verfolgung vereinigte, nach allen Richtungen spähte, damit nicht etwa die Dragoner unversehens einen Überfall bewerkstelligen könnten. Plötzlich fiel ein Schuss; der Bruder, der dort oben für die andern Wache hielt, stürtzte, tödlich getroffen, kopfüber über die Felswand hinunter, gerade vor die Füße des Predigers hin, der das Wort des Lebens verkündigte. Ein Schrei des Entsetzens ging durch die Reihen unserer verfolgten Glaubensgenossen. Jedermann wusste, was dieser Schuss zu bedeuten hatte. Man sah auch schon die Vorposten der bewaffneten Schar unserer Feinde den Hügel hinunter kommen. Während die Frauen sich auf den rechts liegenden Berg flüchteten, stellten sich die allzeit kampfbereiten Männer in Schlachtordnung. Cavalier, ihr Anführer, postierte sich mit 60 Mann dort hinten in der Schlucht, während er 30 andere um den Berg herumgehen ließ, um womöglich die Verfolger von hinten zu fassen. Jonquière, so hieß der Anführer der feindlichen Dragoner, ließ diese feuern, sobald er in Schussweite gekommen war. Unsere Leute aber, die tapfern Camisarden, warfen sich im selben Augenblick auf ihre Kniee nieder und stimmten einen Psalm an, ehe sie den Angriff erwiderten. So geschah es, dass die Kugeln über ihre Köpfe hinwegsausten. Gestärkt duch den göttlichen Trost, warfen sie sich dem Feinde entgegen. Dieser wankte, und als gar der Hinterhalt der Camisarden hervorbrach, flohen sie dort zum Bache hinunter. Die königlichen Soldaten waren großenteils betrunken und mit der unterwegs gemachten Beute beschwert. Kaum der dritte Teil von ihnen entkam; die Camisarden erbeuteten an dem Tage 400 Gewehre und hatten für längere Zeit Ruhe. Freilich haben sie auch viele Niederlagen erlitten; aber ganz konnte die Kirche der Reformation in diesen Bergen nie ausgerottet werden; sie hat sich erhalten bis in die Zeiten der Revolution, wo dann mit den allgemeinen Menschenrechten auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit proklamiert wurde.

Wir wollen nun freilich, meine Brüder,“ so schloss der Nachfolger der einstigen Wüstenprediger seine historischen Erinnerungen, „uns keineswegs auf die Gunst der Menschen verlassen, in Betreff unseres allerheiligsten Glaubens; denn es steht geschrieben: Verlasset euch nicht auf Fürsten!“ (Damals regierte wieder ein katholischer König über Frankreich, als der Prediger diese Worte sprach; daher die Anspielung auf die Fürsten, auf die kein Verlass sei.) „Auch die Tapferkeit unserer Vorfahren hätte uns keineswegs den Glauben zu erhalten vermocht; dass es noch eine reformierte Kirche in unserm lieben Vaterlande gibt, das verdanken wir vielmehr allein der Gnade des Allerhöchsten und Allmächtigen, von der es in Psalm 103,17 heißt: Die Gnade des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so Ihn fürchten, und Seine Gerechtigkeit auf Kindeskind, bei denen, die Seinen Bund halten und gedenken an Seine Gebote, dass sie darnach tun. - Wie sich dieser Spruch in der bisherigen Geschichte unserer Kirche bewahrheitet hat, so möge er sich auch fernerhin an den zukünftigen Geschlechtern erfüllen!“

Anton war ganz erstaunt über dem, was er hier hörte und sah. Gerne hätte er der nun folgenden Predigt noch zugehört; aber Platon drängte zur Fortsetzung ihrer Reise, da sie noch reichlich drei Stunden zu gehen hätten, bis Vialas, das Heimatdorf des jungen Mannes, erreicht wäre. So machten sie sich denn nach dieser erhebenden Pause wieder auf den Weg; aber Platon musste nun seinem Begleiter vom Camisardenkrieg erzählen, was er nur wusste. Er konnte das um so besser, als er in seinen Knabenjahren oft den Erzählungen eines Blinden zugehört hatte, der in seinem heimatlichen Dorfe wohnte und der sogar diese glorreiche Epoche seiner vaterländischen Geschichte in einem Gesang verherrlicht hatte, der gedruckt vorliegt und noch heute deutliche Spuren jener Begeisterung zeigt, mit welcher vor nunmehr 200 Jahren jene Männer für ihre Überzeugung kämpften.

Es war nahezu Mittag, als unsere beiden Wanderer am Abhang einer romantischen Höhe, die aus zertrümmertem Granitgestein aufgebaut zu sein scheint, ein schmuckes Dorf erreichten. Platon, der hier zu Hause war, führte seinen Begleiter durch ein paar enge und allerdings auch schmutzige Gässchen zu einem Haus, das auf der Höhe des terrassenförmig ansteigenden Dorfes lag. Man stieg auf einer langen steinernen Treppe zu dem Hause hinan. Dasselbe sah recht altertümlich aus; es trug eine Jahreszahl aus dem 17. Jahrhundert. Platon öffnete leise die Tür, die direkt zur Küche führte. Am Kamin - einen Herd gibt es dort nicht - saß eine Frau und rührte die Mittagssuppe, die in einem von der Decke herunterhängenden Kessel dampfte.

„Mein Gott! Welche Überraschung!“ rief sie aus, als sie in dem Eintretenden ihren Sohn erkannte. „Du hättest aber auch,“ setzte sie hinzu, indem sie sich eine Träne aus den Augen wischte, „zu keiner geeigneteren Zeit nach Hause kommen können, als gerade jetzt.“

„Warum, Mutter, warum? Was gibt's?“ fragte nichts Gutes ahnend der Sohn.

„Ach, dein Vater ist krank!“ entgegnete sie, und Tränen erstickten ihre Stimme.

„Und ist es gefährlich, liebe Mutter?“ fragte besorgt der Sohn.

„Nach menschlichem Dafürhalten wohl; aber bei Gott ist ja kein Ding unmöglich; Er hat auch Tante Vignes auf wunderbare Weise vom Tode errettet, sollte Er es nicht auch hier tun können, wenn es Ihm gefällt?“

Damit führte sie den Sohn ins Krankenzimmer. Der Vater lag fiebernd da; er redete irre; man wusste nicht, ob er seinen Sohn erkenne.

„Du sagst, liebe Mutter, Tante Vignes sei auch krank gewesen?“ fragte Platon nach einigen Augenblicken ernsten Nachdenkens. „Was fehlte ihr denn?“

„Sie hatte dieselbe Krankheit, ein heimtückisches Nervenfieber, wie der Arzt es nannte. Er hatte sie schon aufgegeben, da wendete sich die Krankheit unerwartet.“

„Wie kam denn das? Hat sie irgend ein Mittel erhalten?“

„Nein, sie ward erst gesund, nachdem die Krankheit aller angewandten Mittel gespottet hatte.“

„Merkwürdig!“ sagte der Sohn. „Wie kam es denn?“

„Ja, siehst du,“ sagte die Mutter, „das hat Gott getan und zwar auf das Gebet eines Knaben hin, deines Cousins Cyprian! Als er sah, dass keine Hoffnung mehr sei und er nun, als vaterlose Waise, auch noch die liebe Mutter verlieren sollte, da kniete er an ihrem Bette nieder, flehte zu Gott um ihr Leben und ward erhört.“

Platon blickte beschämt zur Erde, als er solches von seinem so viel jüngern Vetter vernahm; er hatte leider in der Fremde das Beten fast verlernt und die Bibel vergessen, für welche einst vor 150 Jahren seine Väter, die Cevenolen, Gut und Blut eingesetzt hatten.

„Mutter,“ sagte er nach einer Weile, „ich möchte den Knaben sehen; ich will der Tante einen Besuch abstatten; ich muss doch gehen und sie grüßen.“

Anton begleitete ihn; sie trafen die Frau hinter ihrer Bibel; der Knabe aber war mit den Ziegen auf den Berg gegangen, der sich hinter dem Dorfe erhebt. Die beiden jungen Leute, obwohl ermüdet von ihrer langen Wanderung, zögerten nicht, ihn dort oben aufzusuchen. Zwischen Granitblöcken windet sich der Weg in die Höhe; dort auf dem zerbröckelten Urgebirge suchen die Ziegen des Dorfes ihr spärliches Futter. Wenn weiter unten alles abgeätzt ist, so steigen sie allmählich immer höher. Erst in beträchtlicher Höhe fand Platon seinen jungen Vetter. Nachdem die beiden einander erkannt und begrüßt hatten, kam die Rede bald auf den kranken Vater.

„Du wirst gekommen sein, um ihn zu besuchen?“ meinte Cyprian. „Du warst wohl besorgt um ihn?“

„Ach, ich wusste ja von seiner Krankheit nichts, sonst wäre ich längst gekommen. Wenn es nur nicht schon zu spät ist!“ seufzte Platon.

„Zu spät?“ wiederholte Cyprian. „Sieh, lieber Vetter, es ist kein Ding unmöglich bei Gott; meine Mutter lag ebenso schwer darnieder, jetzt ist sie doch wieder gesund. Verliere die Hoffnung nicht!“

„Ach ja, Gott kann ihm helfen, wenn es Sein Wille ist!“

„Warum sollte es Sein Wille nicht sein?“ entgegnete Cyprian. „Unser Heiland sagt: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan! Rufe Ihn an in dieser Not, so wirst du erfahren dürfen, dass Gott Gebete erhört!“

Der junge Platon scheint diesem Rat seines Vetters nachgekommen zu sein; wenigstens konnte bei seinem Vater schon am andern Morgen eine bestimmte Besserung beobachtet werden. Er erkannte seinen Sohn wieder und wünschte, dass dieser so lange zu Hause bleibe, bis die Krankheit behoben wäre. So sah sich Anton genötigt, des andern Tages den Rückweg nach Avignon allein anzutreten. Viel Sorge machte ihm das nicht; er war ja ein des Walzens kundiger Geselle. Mit Hilfe von etlichen Fahrgelegenheiten langte er am Dienstag wieder in Avignon an; die Entfernung war doch zu groß, als dass er am Montag, wie er gerechnet hatte, wieder hätte zurück sein können.

Kapitel 3

Wenig verloren und viel gefunden

Es war im Sommer des Jahres 1830, zehn Jahre nachdem Seppli und Toni miteinander den Schwarzwald verlassen hatten, um in die weite Welt hinaus zu pilgern. Das unruhige französische Volk hatte eben in der Julirevolution einen neuen König auf den schwankenden Thron gesetzt und außerdem war während der zehn Jahre noch manche Maus in ein anderes Loch geschlüpft, auch im badischen Land.

In einem Dorfe dieses Landes, nicht weit vom Rhein entfernt, saß ein junges Ehepaar in einer freundlichen Bauernstube beim Abendbrot. Die junge Frau, ein hübsches Weibchen mit etwas blassem Gesicht, warf von Zeit zu Zeit, während sie ihre Mehlsuppe aß, einen freundlichen Blick nach der Wiege hin, die neben ihrem Stuhle stand. Dort lag ihr Erstgeborener, der dreizehn Wochen alte Seppli und wehrte sich zu schlafen, weshalb der Vater, während er mit der einen Hand den Löffel zum Munde führte, mit der andern sachte am Wiegenbendel zog, um auf diese damals noch nicht ungebräuchliche Weise die kleine Unruhe dem Schlaf in die Arme zu spielen. War es die Hitze, oder hatte ihn die Mutter zu gut genährt, dass der kleine Bursche heute nichts vom Schlafe wissen wollte, oder fing er sich mit der erwachenden Intelligenz etwa bereits um die Uhren seines Vaters zu interessieren an, die kunterbunt, wie es bei Leuten dieses Zeichens der Fall zu sein pflegt, an den Zimmerwänden herumhingen und miteinander wetteiferten, welche wohl am schnellsten den Zeitraum von 7 bis 8 durchmessen habe?

Jetzt verkündigte eben der Kuckuck, der aus einem kleinen, niedlichen Uhrchen hervorsprang, mit lachendem Mund, diesem gebühre heute der erste Preis. Aber kaum war sein achtmaliger Freudenruf verklungen und hatte das Türchen sich wieder hinter dem vorwitzigen Schnabel geschlossen, als auch schon eine der ältesten Schwarzwälderveteraninnen in der Ecke hinten warnend ihre Stimme erhob gegen die jugendliche Voreiligkeit, um gleich darauf mit nachdrücklichem, bedachtsamen Knarren anzuzeigen, dass sie, die den Staub so vieler Jahre auf ihrem Rücken trage, es besser wissen müsse, wann es acht Uhr sei. Ihr gab denn auch der ganze Chor der Schwestern recht, die ehrfurchtsvoll gewartet hatten, bis ihre Älteste ihnen das Zeichen zum Losschlagen gab. Und als endlich alle verstummten, tönten die drei letzten Schläge der benachbarten Kirchenuhr noch wie eine feierliche Bestätigung durch das geöffnete Fenster herein, und somit war der Streit entschieden; denn die Kirche ist unfehlbar.

Die beiden Eheleute griffen nach ihrem Rosenkranz; dem Achtuhrschlag folgte nämlich die Betzeitglocke, und sie hatten eben ihre Löffel abgewischt; ihr Vaterunser verwandelte sich also zugleich in ein Dankgebet für genossene Speis' und Trank.

Sie hatten aber die vorgeschriebene Anzahl der Korallen noch nicht durch die Hände gleiten lassen, als die Frau bemerkte, dass ein vorübergehender Wandersmann vor den Fenstern stehen blieb und sich umsah nach rechts und links.

„Der sucht jemand,“ sagte sie und störte die Andacht ihres Mannes, der, das Kinn in die gefalteten Hände gestützt, bereits auch über den Rosenkranz hinwegschielte. „Geh, gib ihm Bescheid!“

„Ach, es wird einer von den französischen Flüchtlingen sein, die jetzt in der Revolutionszeit fast jeden Tag über den Rhein kommen, er sucht wohl irgendwo ein Nachtquartier.“

Mit diesen Worten trat der Mann ans Fenster und rief dem Fremdling zu: „Was suchen Sie?“

„Pardon,“ sagte dieser. „Bon soir, Monsieur, wohnt hier herum nicht irgendwo der horloger Josepf Kaiser?“

„Zu dienen,“ sagte der junge Mann, „der bin ich selbst. Bitte, treten Sie ein.“

Der Wanderer trat in die Stube. „Du scheinst mich nicht mehr zu kennen, Seppli,“ sagte er lachend, während die junge Frau ihn mit großen Augen betrachtete.

„Alle Heiligen! Deß ischt ja der Anton!“ rief sie plötzlich und fiel ihm um den Hals. „Willkommen, lieber Bruder, bist du endlich auch wieder zurückgekehrt? Aber wie du dich verändert hast. Ich hab' dich wahrhaftig nicht mehr erkannt. Nein, was hast du für einen Bart!“

„Was, Toni, du bist's!“ rief Seppli erstaunt, „ich meinte, du wärst ein Franzos geworden und hättest dein Vaterland ganz vergessen.“

„O Seppli,“ sagte Anton wehmütig, „das Vaterland vergisst man nie, auch wenn die Rosen in Frankreich ohne Dornen wären; aber das sind die Franzosen nicht.“

„Muss sein,“ meinte Seppli, „allem nach, was man hört, haben dort nicht nur die Schuster, sondern sogar die Könige ein dornenvolles Amt; oder haben sie nicht eben erst einen aus dem Lande gejagt und einen andern dafür gemacht?“

„Ja freilich,“ sagte Anton, „und der ganze Spuk lief in der Zeit von drei Tagen ab; ich war selbst dabei und habe alles mitgemacht.“

„Um Gottes willen, Anton,“ rief die junge Frau, „dass du dich nicht gefürchtet hast!“

„Weshalb denn?“ entgegnete dieser mit wehmütigem Lächeln, „ich habe nichts mehr zu verlieren in der Welt!“

„Bist du denn in Paris gewesen?“ fragte Seppli, neugierig gemacht durch die Andeutungen des Schwagers; „ich meinte, du wärest in Avignon.“

„Jawohl, dort war ich auch bis vor einem Jahr. Dort habe ich noch die Anzeige von deiner Verheiratung mit meiner Schwester erhalten. Ich freute mich an eurem Glück; mir hat es leider nicht gelacht.“

„Ja, wir glaubten doch deinen Briefen nach schließen zu können, dass alles in Ordnung sei; nur ist es uns allerdings aufgefallen, dass seit einem Jahr keine Nachricht mehr von dir in unsere Hände gekommen ist; wir gaben aber der Revolution Schuld daran.“

„Eine Revolution war allerdings an meinem Schweigen schuld, aber nicht die in Paris. Wie ihr wisst, kann's auch Revolutionen geben im Herzen und im Kopf, von denen man allerdings nichts in den Zeitungen liest.“

„Wie sonderbar du auch sprichst, Anton, du machst einem ganz angst,“ sagte die Schwester mit besorgtem Blick.

„Ist die Revolution in deinem Herzen vorgegangen oder in dem Herzen der Tochter deiner Meistersfrau in Avignon?“ fragte Seppli, dem der Sinn der geheimnisvollen Reden des Schwagers einzuleuchten begann, da er wusste, dass dortherum etwas eingefädelt worden sei.

Anton senkte schweigend das Haupt; er seufzte nur.

„Nun,“ sagte er endlich, sich ermannend, „wenn ihr's wissen wollt: Das war eben der Grund, dass ich Avignon so knall und fall verließ ….“

- Hier verließ ihn die Fassung und der bärtige Mann wischte sich die Augen aus -

„ ….dass die Madame Avarice,“ fuhr er sichtlich erregt weiter - „mich stets deutlicher merken ließ, ihr Töchterlein und ich würden nicht zusammenpassen.“

„Aber warum denn das?“ fragten beide gespannt.

„Nun, warum anders, als weil sie zwar einen deutschen Michel wohl brauchen konnte, um ihr verschuldetes Geschäft aus dem Kot zu reißen, aber der Herr Gemahl ihres Töchterleins sollte partout ein geschniegelter Franzose sein, der die Honneurs besser zu machen versteht, als ein deutscher Schustergesell.“

„Hat die Madame nun einen Schwiegersohn erhalten nach ihrem Sinn?“

„O, wart nur,“ sagte Anton, „das Schlimmste kommt erst noch.“ Bei diesen Worten langte er in seine Busentasche, zog einen verknitterten Brief hervor und reichte ihn seinem Schwager.

„Da, lies es selbst,“ sagte er seufzend, „diesen Brief hat mir ein Nebenarbeiter aus Avignon geschrieben; ich habe ihn in Paris erhalten. Der hat mich aus Frankreich vertrieben, nicht die Revolution.“

Seppli entfaltete den Brief und las:

„Lieber Anton! Ich muss dir doch mitteilen, wie es hier gegangen ist, seitdem du uns verlassen hast. Ich kann dir nur sagen, die Madame muss das Unrecht jetzt bitter bereuen, das sie dir zugefügt. Am Abend des Tages, an welchem du verreist bist, konnte sie ihre Tochter nirgends finden. Das ganze Haus geriet in die größte Aufregung. Man glaubte schon, sie habe sich unbemerkt davon gemacht und sei mit dir durchgebrannt, oder sie habe sich am Ende in die Rhone gestürzt. Endlich fiel es jemandem ein, auf dem Estrich nachzusehen. Dort stand sie an einer Dachluke, den Blick unverwandt nach der Richtung geheftet, welche du eingeschlagen hattest. Ihr unheimlicher Blick und ihre verwirrten Reden verrieten bald, was geschehen war. Die gute Angelique hatte aus Gram den Verstand verloren, aus Gram um dich. Jetzt ist sie im Irrenhaus. Das Bedauern mit ihr ist hier allgemein, aber auch die Entrüstung über die Madame ist nicht minder groß. Das Geschäft geht seitdem schlecht. Der gute Geist ist mit dir und der freundlichen Tochter aus unsern vier Mauern gewichen; ich bleib' auch nicht mehr lange da. Gott erbarme sich über die arme Seele und über dich! Dies wünscht von Herzen

Dein Platon.“

Diese traurige Geschichte hätte den armen Anton beinahe selbst um den Verstand gebracht. Er war eben an die arme Tochter doch viel mehr attachiert gewesen, als er es gemeint hatte. Zum Glück bekam er nach seiner Rückkehr in die Heimat bald so viel Arbeit, dass seine Gedanken eine nützliche Richtung auf das praktische Leben erhielten. Seppli räumte ihm im obern Stockwerk des Hauses eine Schusterwerkstatt ein, und bald wollte jeder von Meister Pippin, wie man ihn nun hieß, ein Paar Schuhe haben, und der französische Schnitt wurde bald zur Mode in dem Dorf. Wenn dann Meister Pippin das Leder klopfte, dass die Zimmerdecke über Sepplis Stube zitterte, dann sagte dieser oft zu seiner Frau: „Der Anton schlägt seine Grillen tot!“

Die Leute fanden sich aber bei Meister Pippin noch aus einem andern Grunde gerne ein, als nur aus Liebe zum französischen Schnitt. Der Mann wusste ihnen viel zu erzählen von seiner zehnjährigen Wanderschaft im fremden Land. An Erzählungsgabe fehlte es ihm nicht und erlebt hatte er mancherlei. Er hatte Lyon gesehen, Marseille und das Meer; am meisten aber interessierte die Leute, was sie aus seinem Munde über Paris zu hören bekamen.

Eines Abends im Winter saßen ein halbes Dutzend Nachbarn bei ihm auf der Ofenbank und rauchten ihre Pfeifen.

„Erzähl' uns heute Abend einmal etwas von der großen Welthauptstadt“, hob einer an.

„Du musst großes Interesse haben an Paris, Hansjörg,“ meinte der Frieder; „willst du etwa auch noch einmal hin?“

„Behüt' mich Gott davor; aber ich habe in einer Weissagung gelesen, dass in jener Weltstadt die babylonische Hure geboren werden soll.“

„Warum nicht gar,“ fuhr Meister Pippin neugierig auf und legte Pechdraht und Ahle bei Seite; „wo steht denn das geschrieben?“

„Hm,“ räusperte sich der Nachbar und tat einen langen Zug aus seiner Pfeife, „in der Bibel liest man das.“

„In der Bibel,“ wiederholte Anton nachdenksam, indem er seine Schnupftabaksdose öffnete; „was ist denn das für ein Buch?“

„Ho,“ sagte der Hansjörg, „das ist ein großes, dickes Buch, mein Vater hat's einmal einem Juden abgekauft.“

„Das möchte ich sehen,“ bat Meister Pippin, „sei so gut und leih' mir's doch.“

Des andern Tages bracht ihm Hansjörgs Knabe ein großes, schweinsledernes Buch herbei, er konnte es kaum schleppen. „Einen freundlichen Gruß vom Vater und das sei jetzt die Bibel, die er euch versprochen hab'. Da, wo die Buchzeichen stecken, steh' das geschrieben, von was gestern Abend die Rede gewesen sei.“

Pippin öffnete das Buch und schlug Hesekiel, Kapitel 16, auf. Dort fand er aber nichts von Paris, auch die babylonische Hure nicht. Er schlug beim zweiten Buchzeichen auf, das ganz hinten beim 17. Kapitel der Offenbarung Johannis steckte. Hier war von einem Weib die Rede, bekleidet mit Purpur und Scharlach, übergoldet mit Gold und Edelgestein, das einen goldenen Becher in ihrer Hand trägt, voll Gräuel und Unreinigkeit ihrer Hurerei. Das passte schon besser zu Paris. Er las aber noch weiter; die kräftige Sprache des ehrwürdigen Buches fesselte ihn. Es durchschauderte ihn, als er an die Worte kam; „Und ich sah das Weib trunken von dem Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu.“

Den ganzen Tag über studierte er den merkwürdigen Worten nach. Am Abend kam der Nachbar zu ihm herüber.

„Hast du's gefunden?“ fragte er.

„Jawohl, Hansjörg; aber sag mir um Gottes willen, was das zu bedeuten hat. Wenn du mir's nicht erklären kannst, so geh' ich zum Pfarrer mit dem Buch.“

„Du wirst doch den Bock nicht zum Gärtner machen wollen,“ sagte Hansjörg; „unser Pfarrer versteht nichts von der Bibel, der steckt zu tief im Papsttum drin. Und dass ich dir's grad heraussage: Die Weissagung geht unsere abgefallene Kirche an. Lies einmal den 9. Vers. Dort steht: „Die sieben Köpfe des Tieres, auf welchem das Weib sitzt, sind sieben Berge.“ Nun, weißt du nicht, dass Rom, die Residenz des Papstes, auf sieben Hügeln steht? Und wenn es heißt, das Weib sei trunken von dem Blute der Heiligen und von dem Blute der Zeugen Jesu, so denk daran, ob das nicht von der Kirche zutrifft, welche die Reformation in Frankreich und anderswo in Strömen von Blut erstickt hat. Darum weicht auch das Schwert und die Revolution von Frankreich nicht, bis das Blut dieser um ihres Glaubens willen Getöteten gerochen ist.“

Diese merkwürdige Auslegung des alten Nachbars drang wie ein Lichtstrahl in Antons Seele. Von dem Tage an befiel ihn ein wahrer Heißhunger zum Forschen in der hl. Schrift, in welcher er bald mehr als die babylonische Hure fand, nämlich das reine, unschuldige Lamm, welches mit seinem heiligen Blute blutrote Sünden reinwaschen kann. Meister Pippin las die Bibel nicht bloß mit Anwendung auf die katholische Kirche, sondern mit Bezug auf sein eigenes Herz. Was das alte Buch sagte, bewies sich an seinem Gewissen als die Wahrheit, als Gottes Wort. Die frühen Morgenstunden und den ganzen Feierabend brachte er hinter dem großen Folioband zu, der beständig offen auf seinem Tische lag. Anfangs hatte er Mühe, den Sinn der Worte zusammenzubuchstabieren, denn er hatte in der Jugend nur notdürftig lesen gelernt, bald aber war er mit den Hieroglyphen wohl vertraut. An den Abendsitzen, die immer noch auf seiner Stube fortgesetzt wurden, las er den Besuchern aus der Bibel vor. Die Neugierigen, die lieber Reiseerinnerungen von ihm gehört hätten, blieben allmählich weg, dafür sammelte sich ein kleiner Kreis von wahrheitsliebenden Seelen um den Schuhmachermeister.

Es konnte nicht fehlen, dass dem Ortsgeistlichen die Sache zu Ohren kam. Eines Tages sprach er bei Meister Pippin vor. „Herr Schuhmachermeister,“ sagte er und deutete auf die offene Bibel hin, „was habt ihr hier für ein Buch?“

„Euer Hochwürden werden es kennen,“ antwortete Pippin ruhig, „es ist Gottes Wort.“

„Gottes Wort?“ wiederholte der Pfarrer zögernd und schlug den Titel des Buches auf, „wisst ihr nicht, dass das Lesen dieses Buches von der Kirche bei Strafe der Exkommunikation verboten ist?“

„Warum nicht gar?“ fuhr Pippin auf, „dieses Buch ist die heilige Schrift!“

„Nein, es ist eine falsche Schrift,“ antwortete der Geistliche mit strenger Amtsmiene, „seht ihr nicht, dass es mit dem Namen des Erzketzers Dr. Martin Luther besudelt ist?“

Bei der Nennung dieses Namens schlug der Pfarrer ein Kreuz.

„Gebt mir das Buch heraus,“ fuhr er fort.

„Mit Freuden, wenn Euer Hochwürden es lesen wollen,“ entgegnete Pippin; „sollten Sie aber Lust haben, etwas zu verbrennen, Herr Pfarrer, so steht dort ein Korb voll Holz.“

„Ich verlange von Euch die Herausgabe des Buches, das auf dem Index librorum prohibitorum (dem Verzeichnis verbotener Bücher) steht und das der heilige Vater erst neuerdings wieder mit dem Bannfluch belegt hat.“

„Ein unverdienter Fluch trifft nicht, Herr Pfarrer, und wo nehmen Sie das Recht her, von mir die Herausgabe der Bibel zu verlangen?“

„Im Namen der heiligen römischen Kirche fordere ich Gehorsam von Dir!“ rief nun der Geistliche zornig aus.

„Nur schade, Herr Pfarrer,“ antwortete Pippin schlagfertig, „dass in unserem Lande nicht der Papst, sondern der Großherzog regiert, und der hat seinen Untertanen, wie Euer Hochwürden wissen werden, Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert.“

Der Pfarrer drehte sich auf dem Absatz um, nahm die Türklinke in die Hand und sagte feierlich: „Wer der Kirche den Gehorsam verweigert, wird keine Gnade erlangen in Zeit und Ewigkeit!“

Damit ging er hinaus und schlug die Türe hinter sich zu. Unten angekommen, trat er mit vor Zorn rollenden Augen in Sepplis Wohnung ein. Dieser hatte mit seiner Frau der ganzen Unterhaltung des Pfarrers mit seinem Schwager klopfenden Herzens zugehört. Beide standen bleich vor Schrecken da.

„Josepf,“ sagte der Pfarrer und stieß mit seinem Hirtenstab auf den Boden, „als getreuer Sohn der Kirche wirst du dafür sorgen, dass der Ketzer sobald als möglich aus deinem Hause kommt. Der Fluch der Kirche lastet auf ihm, und wer einen Widerspenstigen beherbergt, über dessen Haus kommt Gottes Gericht.“

„Herr Pfarrer,“ stotterte das Ehepaar, „wir wollen unser Möglichstes tun, um den Anton zum Nachgeben zu bewegen. Es hat uns schon lange nicht gefallen, dass er so viel in dem großen Buche liest; wir fürchten, er komme noch um den Verstand.“

„Das ketzerische Buch hat dem Unglücklichen schon den Kopf verdreht; darum hat die hl. Kirche nicht umsonst zu allen Zeiten davor gewarnt, dass es nicht ungelehrten Leuten in die Hände fallen soll.“

„Wir wollen sehen, Herr Pfarrer, dass das gefährliche Buch aus dem Hause kommt,“ versprach Seppli, „vielleicht kommt Anton wieder zur Besinnung; er ist sonst gewiss ein guter Mensch.“

Der Pfarrer begnügte sich diesmal mit dem Versprechen und ging. Als er fort war, stieg Seppli zu seinem Schwager hinauf. „Du wirst doch dem Priester den Gehorsam nicht verweigern?“ sagte er vorwurfsvoll.

„Man muss Gott mehr gehorchen, als den Menschen,“ erwiderte Anton.

„Jawohl,“ meinte Seppli, „aber was die Kirche gebietet, das kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.“

„Das wäre mir doch sonderbar,“ entgegnete der Schwager, „das derselbe Gott, der die heilige Schrift eingegeben hat, das Lesen derselben verbieten sollte. Der heilige Johannes schreibt: Selig ist, der da lieset und die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch! Aber der heilige Vater zu Rom sagt: Verflucht ist, wer in diesem Buche liest! - Seppli, wer hat nun recht?“

„Wo steht das geschrieben?“ fragte der Schwager, stutzig geworden ob dem Widerspruch.

„Da stehts!“ sagte Anton und schlug das erste Kapitel der Offenbarung Johannis auf und legte seinen Finger auf den dritten Vers. „Und zudem,“ fügte er bei, „sagt Jesus selbst: „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren!“ Wem soll ich nun glauben, Jesu und seinen Aposteln oder den Päpsten, von denen ich, nebenbei gesagt, in Avignon, ihrer einstigen Residenz, zu viel Schlimmes vernommen habe, als dass ich sie für unfehlbar halten könnte.“

Der Schwager kratzte sich hinter dem Ohr. „Mag sein,“ sagte er, „dass du recht hast; aber wenn du dem Pfarrer nicht folgst, so bringst du am Ende dich und mich um den Verdienst.“

„Joseph! Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme Schaden an seiner Seele?“ erwiderte Anton feierlich. „Meinen ersten Schatz habe ich verloren, wie du weißt, aber den zweiten, den ich nun in Gottes Wort gefunden habe, gebe ich nicht her, mags kosten, was es will.“

Kapitel 4

Was ein kath. Priester und ein Hagelwetter vermag

Im römischen Priestertum liegt eine ganz gewaltige Macht. Als der Syrakusaner Archimedes den Hebel erfand, rief er triumphierend aus: „Gib mir einen Punkt, wo ich stehen kann, und ich hebe die Erde aus den Angeln!“ Der römische Priester hat diesen Standpunkt gefunden; er steht im Beichtstuhl, und dies ist der Punkt, von welchem aus er die Welt erschüttern kann. Hier setzt er den Hebel in die Gewissen ein und hebt ganze Nationen aus Rand und Band. Könige sind von diesem festen Punkte aus vom Throne gehoben worden, und die Verweigerung der Absolution zwang einst einen mächtigen deutschen Kaiser, dass er mitten im Winter barfuß im Büßerhemd nach Canossa ging, um sich dort dem Papst zu Füßen zu werfen.

Wenn nun ein deutscher Kaiser der Macht des römischen Priestertums nicht zu widerstehen vermag, was soll ein armer Schuhmachermeister tun? Ja, Meister Pippin, der es wagte, trotz des priesterlichen Verbotes und Bannstrahls die Bibel weiter zu lesen, erfuhr, was für eine Macht dem Priester im Beichtstuhl zu Gebote steht. Nicht dass er selber beichten ging. Schon als Knabe hatte er den Beichtstuhl immer unbefriedigt verlassen, denn der Beichtvater hatte auf alle seine Bekenntnisse nichts anderes zu sagen gewusst als: „Du sollst sein wie der Knabe Jesus!“ Aber wie er das werden könne, hatte ihm der Priester gar nie erklärt, und auch die Absolution befriedigte ihn nicht. Nun aber hatte er aus seiner teuern Bibel einen Fürsprecher bei dem Vater kennen gelernt, der zugleich die Versöhnung für seine Sünden geworden war, und da ihm dieses eine Mittel genügte, kümmerte es ihn nicht, dass ihm der Fluch des Priesters den Beichtstuhl verschloss.

Um so strenger nahm aber der geistliche Herr seine ihm treu gebliebenen Beichtkinder ins Verhör. Seine wichtigste Frage im Beichtstuhl lautete nicht mehr wie bisher: „Habt ihr am Fasttag Fleisch gegessen?“ sondern: „Habt ihr bei Meister Pippin Schuhe machen lassen?“ Mit dieser Gewissensfrage brachte er allerdings manches Töchterlein in Verlegenheit, das um sein Leben gerne elegante Stiefeli trug; denn der Schustermeister arbeitete um nichts schlechter, seitdem er in der Bibel las. Aber der Pfarrer malte den ihm anvertrauten Seelen den Unterschied zwischen katholischen und lutherischen Schuhen so ernsthaft vor Augen, dass es doch nachgerade manchem graute, das Seelenheil wegen eines schönen Schuhes aufs Spiel zu setzen. So verkauften sie denn ihre lutherischen Stiefeli dem Schacherjuden - dem konnten sie doch nichts schaden, er hatte ja ohnehin eine andere Religion und nahm sie gern, denn er machte ein gutes „Geschäftche“ damit, wenn er sie am Markttag mit nach Freiburg nahm. Dort setzte er die verketzerten Schuhe freilich auch wieder an gute Katholikinnen ab; diese ahnten aber nicht, dass der Fluch der Kirche an den niedlichen Dingern haftete, und dachten: „Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß.“

Natürlich spürte aber unser Schuhmachermeister den Einfluss seines mächtigen Gegners im Beichtstuhl bald. Niemand wagte ihm mehr Arbeit zu bringen, und wer es etwa doch noch tat, kam verstohlenerweise des Nachts. Diese Blockade allein hätte ihn aber noch nicht irre gemacht, aber da trat noch ein anderes Ereignis ein und verschaffte dem Priester unerwartet den Sieg.

Wieder war der Sommer da. Felder und Weinberge prangten in üppigem Schmuck und versprachen eine reiche Ernte. Am Sonntag, bevor der Heuet beginnen sollte, veranstaltete das ganze Dorf einen Bittgang um den Gemeindebann herum. Eine Extramesse mit Predigt, in welcher der Pfarrer trotz des schönen Wetters nicht zu donnern vergaß, nämlich gegen die Ketzer, eröffnete die Feierlichkeit. Dann schritt der Priester im reichsten Meßgewand mit dem Sakrament unter einem Thronhimmel, den vier Männer trugen, der Prozession voran. Ihm folgten, mit Muttergottesbildern und Weihrauchfässern versehen, die Chorknaben, und diesen die ganze Einwohnerschaft. Unter Böllerschüssen, Hörnerklängen und Trompetenschall nahm das kirchliche Fest einen fröhlichen Verlauf und endete mit einem Tanz im Ochsensaal.

Während man noch im Wirtshaus saß und darüber verhandelte, was der heurige Wein wohl gelten werde, türmten sich drüben über den Vogesen schwarze Berge auf. Hin und wieder zog auch schon eine Wolke vor der Sonne vorbei und warf ihren dunkeln Schatten auf das lachende Land. Hie und da kühlte ein Windstoß die heiße Atmosphäre ab und wirbelte den Staub in die Luft. Jetzt vernahm man auch dumpfes Rollen von jenseits des Rheins. Die Bauern tranken ihren Schoppen aus, und einer nach dem andern drückte sich durch die Tür. Die schwarze Wolkenwand war schon bis zur halben Höhe des Himmels vorgerückt. Über dem Elsaß drüben blitzte es in einem fort, immer heftiger ward der Wind; verscheuchte Hühner suchten die Ställe auf, und die Spatzen, die sich im Straßenstaube gebadet hatten, flogen unters Dach.

Die Leute waren noch nicht alle zu Hause angekommen, als es in schweren Tropfen zu regnen begann. Der Donner rollte immer vernehmlicher, die Blitze leuchteten in die dunkel gewordenen Stuben hinein, und mit einemmal verkündete ein gewaltiger Donnerschlag, dass das Gewitter in nächster Nähe des Dorfes angekommen sei. Ein unheimliches Rauschen folgte dem Donner, und im nächsten Augenblick prasselten auch schon die Hagelsteine auf die Dächer herab. Im Nu waren Straße und Matten wie mit Kieseln bestreut, und unter den Dachtraufen sammelten sich ganze Eisklumpen an. Es hagelte eine halbe Stunde lang in einem fort, und als endlich die schreckliche Wolke sich verzog, beleuchtete die Sonne einen Gräuel der Verwüstung, wie ihn das Dorf noch nie gesehen hatte. Kein Baum war unversehrt, kein Halm stehen geblieben, und das Gras war gemäht, der Wein gekeltert für dieses Jahr.

Ein Wehgeschrei erfüllte das Dorf, als der Schaden eingesehen war. „Warum hat der Herrgott unsern Bittgang nicht besser belohnt?“ fragte man einander. Diese Rede kam dem Pfarrer zu Ohren. „Weil,“ so sagte er, „der Zorn Gottes auf der Gemeinde lastet, so lange der von der Kirche Verfluchte nicht aus ihrer Mitte weicht.“

Des Pfarrers Wort zündete wie eine Lunte unter der Bevölkerung. Überall hieß es: „Der Schuster Anton hat das Unglück mit seinem Bibellesen über uns gebracht.“

„Er muss fort,“ sagten die erbitterten Bauern, „und wenn er nicht gutwillig geht, so spedieren wir ihn.“

Meister Pippin saß an jenem Abend ruhig hinter seiner Bibel. Er schlug die Stellen auf, in denen vom Hagel die Rede war. Am meisten fesselte ihn, was er in 2. Mose 9, 22-26 über das Hagelwetter las, das als siebente der zehn Plagen über Ägypten kam:

„Und der Herr ließ donnern und hageln, dass das Feuer auf die Erde schoss. Es war aber zugleich Hagel und Feuer, welches unter dem Hagel daher fuhr, so stark, dass desgleichen in ganz Ägypten niemals gewesen, seitdem Leute darinnen sind. Und der Hagel erschlug in ganz Ägyptenland alles, was auf dem Felde war, Menschen und Vieh.“

Als Pippin diese Worte gelesen hatte, fiel er auf seine Kniee nieder und dankte Gott, dass Er's mit seiner Gemeinde noch so gnädig gemacht, wo doch wenigstens kein Mensch und kein Vieh ums Leben gekommen sei. Er flehte den Herrn auch inbrünstig um Verschonung des Dorfes vor fernerem Unglück an und schloss sein Gebet mit dem Seufzer: „O, dass sie doch erkennen möchten, was zu ihrem Frieden dient, und sich beugen wollten unter Deine gewaltige Hand, die uns geschlagen hat.“

Darnach las er die Geschichte weiter, bis zu dem Vers, wo es heißt, dass in der Nacht, als Gott die Erstgeburten der Ägypter schlug, diese das Volk Israel zum Land hinaustrieben, weil sie sagten: „Wir sind alle des Todes!“

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und Nachbar Hansjörg trat ein.

„Lieber Anton,“ sagte er mit verstörtem Blick, „ich habe dir etwas mitzuteilen: das ganze Dorf ist aufgebracht gegen dich. Jedermann sagt, du seist an dem Hagelwetter schuld.“

„So,“ erwiderte Anton lächelnd, „die Leute halten mich wohl für einen Zauberer, der s'Wetter machen kann?“

„Wie sie's meinen, weiß ich eigentlich selber nicht, aber sie geben irgendwie deinem Bibellesen schuld.“

„Da müssen sie also selbst denken, dass in der Bibel mehr Kraft stecke als in ihren Muttergottesbildern und Weihrauchfässern, die sie heute zur Abwendung von Ungewitter um die Felder herum getragen haben. Aber sie merken scheints nicht, dass ihnen der Herrgott durch das Hagelwetter die Ohnmacht ihrer Götzenbilder beweisen will.“

„Was willst du machen? Wenn die Leute nun einmal über dich erbittert sind, so wird's das beste sein, du verlässest so bald wie möglich die Heimat und gehst noch ein wenig in die Fremde. Um dem Schlimmsten vorzubeugen, rate ich dir, noch heute Nacht deine Sachen zusammenzupacken und, ehe der Morgen graut, machst du dich auf den Weg, Basel zu. Basel ist eine reformierte Stadt, wo du ungestört deines Glaubens leben kannst. Arbeit findest du dort ganz gewiss, während hier, nachdem die Ernte total vernichtet ist, ohnehin kein Verdienst mehr zu erwarten wäre.“

„Du magst recht haben,“ sagte Anton, „ich habe in letzter Zeit, als es mit der Arbeit immer schlechter ging, selber oft ans Reisen gedacht; aber so bei Nacht und Nebel, wie ein Dieb, verlasse ich die Gemeinde nicht. Wenn ich um des Evangeliums willen vertrieben werden soll, so will ich den Staub bei Tage von den Füßen schütteln, wo es jedermann sehen kann.“

„Lieber Anton,“ sagte Hansjörg bittend, „folge mir und geh noch diese Nacht. Denk an den jungen Apostel Paulus, den die Brüder zu Damaskus auch bei Nacht in einem Korbe über die Stadtmauern hinunterließen, damit er den Händen seiner Verfolger entgehe. Du weißt nicht, was der Fanatismus kann.“

Diese Vorstellung eines biblischen Beispiels wirkte bei dem Bibelmann mehr als die Furcht vor den Verfolgern. Er ging hinunter zu Schwager und Schwester und kündigte ihnen seinen Entschluss an, das Dorf noch diese Nacht zu verlassen. Der Schwager versprach, ihm mit Hansjörg das Geleite zu geben. Er war froh, auf diese Weise aus der Verlegenheit herauszukommen, die ihm die Beherbergung des Bibellesers in seinem Hause bereitet hatte. Im Herzen hielt er's ja mit ihm, aber aus Furcht vor dem Pfarrer wagte er's nicht zu bekennen.

Während die Schwester einen Kaffee bereitete und Proviant, halfen die beiden Männer dem Anton sein Schusterwerkzeug zusammenpacken und das Bündel schnüren. Hansjörg trug die große alte Bibel hinüber in sein Haus in ihr früheres sicheres Versteck. Anton trennte sich nur ungerne von ihr. Aber zum Mitnehmen als Taschenbibel war das zehnpfündige Stück mit den schweinsledernen Holzdeckeln doch zu schwer und der Hansjörg tröstete ihn, in Basel könne er um billiges Geld eine nagelneue kaufen.

Die Sterne blickten vom wiedergeklärten Himmel teilnahmsvoll auf das verwüstete Land hernieder, als Meister Pippin mit seinen beiden Begleitern das Dorf verließ. Es war gut, ging der Mond gerade auf; denn die Straße war stellenweise so zerrissen von dem Wolkenbruch, dass man in der Finsternis Hals und Bein hätte brechen können. Von den Weinbergen, welche dort die Landstraße einfassen, war die Erde durch das Wasser weit heruntergeschwemmt, so dass der nackte Fels hervortrat, und an vielen Stellen lagen die Hagelsteine noch haufenweise am Straßenbord. Je weiter aber der flüchtige Wanderer kam, desto weniger Spuren der gestrigen Verheerung waren zu entdecken; das Gewitter hatte seinen Weg von Westen nach Osten genommen, während die Straße nach Basel sich gegen Süden zieht.

Bis zum nächsten Dorf gaben Schwager und Nachbar dem Schuhmacher das Geleit, der nun vom Meister wieder zum Handwerksburschen geworden war. Als sie sich von ihm verabschiedet hatten und in der Dunkelheit verschwunden waren, kniete Anton nieder am Straßenbord im Gebüsch und befahl seinen weitern Weg dem Herrn. Er, der einen Joseph nach Ägypten begleitete, als er mit dem Jesuskinde vor den mörderischen Händen des Herodes floh, auch in der Nacht, und der früher schon mit einem andern Joseph war, der von seinen Brüdern verkauft, in die Fremde zog, der werde auch sein Hirte bleiben und ihn wohl auch einen Potiphar finden lassen in der fremden Stadt.

Kapitel 5

Wie man ins Zuchthaus kommen kann

Der Inspektor Chr. Heinrich Zeller zu Beuggen saß in seinem Studierzimmer und las die Briefe durch, die eben einer der Anstaltszöglinge von der schweizerischen Post in Rheinfelden mitgebracht hatte. Darunter fiel ihm ein großes Couvert am meisten auf. Es trug das Postzeichen Bern und die Marke der Republik. Das Staatssiegel verriet, dass es sich hier um ein offizielles Schriftstück handle. Dem Inspektor klopfte das Herz, als er den zottigen Bären betrachtete nicht etwa aus Furcht vor einem unbeliebigen Regierungserlass; denn die Armenanstalt Beuggen stand ja auf badischem Boden, wo der Bär nichts zu brummen hat; aber der Inspektor freute sich schon in Gedanken, das Couvert enthalte die Berufung eines Zöglings aus dem Lehrerseminar, das mit der Armenkinder-Anstalt verbunden war. Diese unvermutete Anerkennung der noch jungen Anstalt von Seiten einer schweizerischen Behörde versetzte das Herz des Herrn Inspektors in freudigen Gang, was sich an dem leichten Zittern seiner Hand bemerken ließ, als er das Siegel brach.

Doch das Schreiben enthielt keine Anfrage um einen Schulmeister, wohl aber die Bitte um Überlassung eines entschieden christlichgesinnten Handwerksmannes, der die Sträflinge im Bernischen Zuchthaus beaufsichtigen und zur Arbeit anhalten könnte, ihnen aber auch zugleich durch Wort und Wandel den Weg des Heils zu zeigen und praktische Seelsorge an den armen Gefallenen auszuüben imstande wäre.

Beim Durchlesen dieses Gesuchs, das von einem Herrn Dr. v. Tscharner unterzeichnet war, trat dem Inspektor sofort ein Mann vor Augen, der ihm zu einer solchen Stellung wie gemacht erschien. Seit anderthalb Jahren war nämlich in der Anstalt zu Beuggen ein Schuhmachermeister tätig, der, was entschieden christlichen Charakter und Berufstüchtigkeit anbetraf, sozusagen nichts zu wünschen übrig ließ. In der Beuggener Armen-Erziehungs-Anstalt eignen sich nämlich die Kinder nicht nur eine einseitige Verstandesbildung an, sondern sie werden schon im schulpflichtigen Alter in verschiedenen Handfertigkeiten unterrichtet. Die einen helfen in der Besorgung der ausgedehnten Landwirtschaft, die andern binden Bürsten und wieder andere arbeiten auf der Schuhmacherei, der es natürlich in einem so großen Haushalte nie an Arbeit fehlt. Jede Industrieabteilung steht unter der Leitung eines tüchtigen Meisters, dem zugleich ein guter Einfluss auf die von ihm beschäftigten Kinder zugetraut werden kann.

Der Inspektor faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Rocktasche, setzte sein Samtkäppchen auf und schritt dem alten Schlosse zu, wo damals die Schuhmacher-Werkstätte untergebracht war. Da die Kinder in der Schule saßen, befand sich der Meister eben allein in dem Raum.

„Meister Pippin,“ hob der Inspektor an, indem er sich auf einen der leerstehenden Schusterstühle niederließ, „was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr ins Zuchthaus wandern müsstet?“

„Nun,“ sagte der Schuhmacher und schaute dem Inspektor treuherzig ins Gesicht, „ich würde denken, ich sei auch nicht besser, als mancher, der drinnen sitzt und verdanke es nur der göttlichen Gnade, dass ich kein Dieb oder Mörder geworden sei.“

„Seid Ihr also bereit, ins Zuchthaus zu gehen?“ fuhr der Inspektor ernsthaft fort.

„Nun, offen gestanden, müsste ich doch erst einmal wissen, warum!“

„Gut,“ sagte der Inspektor und zog den Brief mit dem Staatssiegel aus der Tasche, „dieses Schreiben enthält eine Anfrage, ob wir nicht einen entschieden christlichgesinnten Handwerker hätten, der bereit wäre, als Aufseher in die Strafanstalt nach Bern zu gehen.“

„Aha!“ rief der Schuster aus und atmete leichter auf, „ist die Sache so gemeint? Da muss ich aber gleich zum voraus erklären, dass ich nicht der Mann für einen solchen Posten bin!“

„Gerade Ihr,“ erwiderte der Inspektor, „weil Ihr selbst bekennt, Ihr hättet das Zuchthaus wie irgend einer verdient. Solche Leute, die sich mit den armen Sündern auf eine Linie stellen und mit dem Apostel sagen können: „Aus Gnaden bin ich, was ich bin“, können ein Segen werden für die Gefallenen, während selbstgerechte Pharisäer ein Fluch sind an einem solchen Ort. So ungern ich Euch auch verliere, so darf ich hier eben doch nicht selbstsüchtig sein. Wir haben uns in Beuggen von Anfang an die Ausbildung solcher Leute zum Ziel gesetzt, die als Lichter scheinen sollen mitten unter einem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht. Wenn man nun irgendwo ein solches Licht bedarf, und wir eins abzugeben haben, so dürfen wir's nicht behalten und es unter den Scheffel stellen, sondern müssen es leuchten lassen vor den Leuten!“

„Ach,“ sagte Pippin, „das wäre wohl schön, aber ich bin kein Licht, nur ein glimmender Docht.“

„Das genügt,“ antwortete der Inspektor, „denn der Heiland will den glimmenden Docht nicht auslöschen, und ein Funken, der unter der Asche glimmt, vermag ein ganzes Haus in Brand zu stecken. Geh drum hin, lieber Bruder, im Namen des Herrn und lass dein Lichtlein in aller Stille leuchten in die Finsternis umnachteter Herzen hinein!“

Es dauerte nicht lange, so hatte Pippin seine Bedenken überwunden und in der Anfrage aus Bern den Ruf des Herrn erkannt. Da der Eintritt schon auf Weihnachten erfolgen sollte, verließ er Beuggen am 16. Dezember des Jahres 1835, wenigstens trägt das Zeugnis, das er von dort mit nach Bern brachte, dieses Datum. Es lautet:

„Dass Anton Pippin von Schl., seit dem März 1834 in der Schuhmacherei hiesiger Anstalt als Arbeitsaufseher gewirkt und sich während dieses Aufenthaltes sowohl durch seine Arbeit als Schuhmacher, als auch durch seine Aufsicht und Behandlung der Knaben, wie durch seinen ganzen Wandel, an dem Ernst, Stille, Treue und Friedfertigkeit besonders hervorleuchtete, unsere ausgezeichnete Zufriedenheit erworben habe, wird hiermit nicht nur mit Freuden bezeugt, sondern er wird auch allen seinen künftigen verehrten Vorgesetzten und Behörden herzlich und ehrerbietig empfohlen.

Beuggen, 16. Dezember 1835

Christ. Heinrich Zeller,

Inspektor der Armenanstalt Beuggen.“

Diesem Schriftstück war noch ein anderes beigelegt, nämlich das Zeugnis, das Pippin von einem Basler Meister mit nach Beuggen gebracht hatte, in welchem dieser ihm unbescholtenen Wandel nachrühmt und von ihm sagt: „In seinem Berufe sucht er seinesgleichen; ich verliere ihn ungern. Wenn Sie ihn einmal kennen, werden Sie mit Beifall geben; dies sind keine Schmeicheleien, denn der Mensch verdient Achtung.

Basel, 17. März 1834 B. R.-B.“

So kann's also geschehen, dass einer, mit den besten Zeugnissen versehen, ins Zuchthaus kommt.

Kapitel 6

Eine glückliche Kur

Pippin fand im Berner Zuchthaus reichlich Arbeit vor, nicht bloß an den Schuhen, die hier aus der ganzen Stadt zusammenströmten, um geflickt zu werden, sondern noch mehr an den Staatspensionären, die man aus dem ganzen Kanton an den Handschellen hierher brachte und deren Herzen sich denn doch noch ein wenig zäher als das Leder erwiesen, das sie hier mit ihrem Meister verarbeiten mussten.

Doch am meisten Arbeit und Gebet verursachten dem neu eingetretenen Aufseher vorerst die Herren Kollegen, die sich mit ihm in die Überwachung der Sträflinge teilten. Diese Leute, die sich, wohl gestützt auf ihre gute Leumundszeugnisse, haushoch über die ihrer Zucht unterstellten „Spitzbuben“ erhaben dünkten, hielten offenbar das Fluchen für das beste Mittel, sich bei ihren Untergebenen Achtung zu erwerben. Diese üble Gewohnheit war ihnen so sehr eingefleischt, dass sie auch unter sich nicht anders als mit Zuhilfenahme dieser vermeintlichen Kraftausdrücke verkehren konnten; besonders schmerzte es den neuen Meister, dass jede der gemeinsamen Mahlzeiten der Aufseher mit Flüchen gewürzt sein musste. Zunächst begnügte sich Pippin, durch sein eigenes besseres Beispiel gegen diese Unsitte zu wirken, erkannte aber bald, dass man hier deutlicher reden müsse. Er legte sich nun in aller Stille ein Verzeichnis all der dummen und gotteslästerlichen Redensarten an, die er aus ihrem Munde hörte, und schrieb dann einen Aufsatz, in welchem er 1. Alle die gehörten Flüche der Reihe nach wiederholte und sodann 2. mit Schlagworten der heiligen Schrift nachwies, wie alle diese Flüche Gebete seien, die Gott zum Unheil der Flucher erhören müsse, so dass diese also sich mit ihrem Fluchen ein schreckliches Gericht zuzögen. Eines Morgens las Pippin dann diesen Aufsatz sämtlichen Tischgenossen vor, und die Wirkung davon war, dass von dem Tage an niemand mehr in seiner Gegenwart fluchte; ja der Ruchloseste unter allen, ein wohlhabender Mann, kam zu ihm und sagte: „Meister Pippin, Ihnen könnte ich mein ganzes Vermögen anvertrauen, den andern aber nicht.“

Der neue Aufseher verstand sich also Achtung zu erwerben und zwar nicht etwa bloß durch sein entschiedenes Christentum, sondern ebensosehr durch seine berufliche Tätigkeit. Was in dem Zeugnisse des Baslers Meisters stand, bei welchem Pippin von seiner Vertreibung aus der Heimat an bis zu seiner Anstellung in Beuggen gearbeitet hatte, bewährte sich hier vollkommen: „Der Mensch verdient Achtung,“ hieß es dort. Diese wurde ihm denn auch von seinen Vorgesetzten und - was viel heißen will - von den Zuchthaussträflingen zuteil. Es gelang ihm, manche hartnäckige, abgehärtete Sünderherzen durch Liebe und Geduld, Belehrung und Ermahnung zur Buße und zum Glauben zu führen.

Dazu diente ihm vortrefflich seine gründliche Bibelkenntnis, die er sich schon daheim hinter dem großen Folioband von Nachbar Hansjörg erworben, im Basler Jünglingsverein beträchtlich vermehrt und in Beuggen unter dem Bibelmann Inspektor Zeller vertieft hatte. Pippin war nicht nur ein Meister im Schustern, sondern auch in der Schrift und zwar in deren praktischer Anwendung. Selbst aus dem Worte Gottes ohne menschliche Hilfe wiedergeboren, zeugte er durch das Wort, das in ihm lebte, wiederum Leben aus Gott. Er hatte eine ganz besondere Gabe, schwer angefochtene Seelen aus Gottes Wort zu trösten. Wie er für die Spötter und Flucher ein schlagendes „Do stohts“ aus seiner Bibel bereit hatte, so wusste er auch für die Schwermütigen oft ganz verborgene, zutreffende Kernsprüche aus der Bibel hervorzuholen.

Einem Zuchthaussträfling, dem sein Gewissen aufgewacht war und der am Rande der Verzweiflung stand, las er zum Beispiel auf gar liebliche Weise Micha 4,10 vor: „Lieber, leide doch solches Wehe und krächze, du Tochter Zions, denn du musst zwar nun zur Stadt hinaus und auf dem Felde wohnen und gen Babel kommen; aber doch wirst du von dannen wieder errettet werden; daselbst wird dich der Herr erlösen von deinen Feinden.“

Die Art und Weise, wie Pippin die Bibel vorlas, erforderte keine langen und breiten Erklärungen. Jedes Wort war für eine solche bange Seele ein erquickender Balsam. Die Sträflinge fanden sich gerne zu dem Bibelleseverein ein, den der neue Meister mit ihnen in einem ihrer Arbeitssäle abhielt. Er las so kräftig und nachdrucksvoll und wandte die Schrift so trefflich aufs Leben an, dass ihnen die Zeit nicht lang ward bei ihm.

Wie aber der liebe Gott nicht nur durch sein Wort, sondern gar oft auch durch schwere Heimsuchungen mit uns Menschenkindern spricht, so brach während Pippins Anwesenheit im Zuchthaus auch einmal eine gefährliche Lungenentzündungsepidemie aus und raffte viele dahin. Da zeigte sich's denn, dass Meister Pippin nicht nur ein tüchtiger Schuster und Bibelleser, sondern auch ein guter Krankenwärter war. Er eilte von Zelle zu Zelle, tröstete die Kranken mit Gottes Wort und pflegte sie mit viel Geschick. Aber eines Abends packte auch ihn der unheimliche Gast; ein Schüttelfrost warf ihn aufs Lager, und er lag nun die ganze Nacht hindurch da wie ein Ofen in heller Glut.

Am Morgen kam der Arzt. Es war ein alter Herr, der nach dem Brauch früherer Zeiten viel auf Laxierung und Aderlassen hielt, womit er (ins Ohr gesagt) den armen Kranken noch vollends zum Verlust ihrer Kräfte verhalf, so dass sie, falls sie überhaupt davon kamen, einen Monat brauchten, um von der Krankheit zu genesen und einen weiteren, um sich von der Kur zu erholen.

Der alte Herr trat auch in Meister Pippins Raum, wo dieser mit noch einem andern Aufseher schlief. Das erste war nun nicht etwa, dass der rettende Engel den Arm des Patienten ergriff, um ihm den Puls zu fühlen, sondern er fasste die Wasserflasche, die auf dem Nachttischchen des Kranken stand, öffnete das Fenster und warf sie mit einem Gesicht, wie es etwa Mose gemacht haben mag, als er das goldene Kalb der Kinder Israels zerschlug, an die gegenüberliegende Mauer des Gefängnishofes, dass sie klirrend in tausend Splitter zersprang.

Nachdem er diesen Schreckschuss getan, legte der Arzt die Bedeutung desselben dem Patienten im Brustton tiefsten Ernstes folgendermaßen aus: „Vor allen Dingen,“ sagte er und schaute mit stechenden Augen über seine goldene Brille weg, „trinken Sie mir keinen Tropfen Wasser! Haben Sie gehört? - Wenn Ihnen das Leben lieb und wert ist, folgen Sie mir!“

Kranke sind nicht aufgelegt, sich in Debatten einzulassen, am allerwenigsten, wenn ihnen die Verkörperung der Wissenschaft in so imponierender Gestalt mit goldener Brille und dem Doktorhut bewaffnet, gegenübersteht; der Kranke nickte daher nur leicht mit dem Kopf, dachte aber sein Teil dabei. Jedenfalls tröstete er sich einstweilen mit dem Gedanken, dass es noch mehr Flaschen gebe in der Welt. - Doch musste der Doktor noch anderswo sein Verbot ausgesprochen haben, denn den ganzen Tag über kam dem armen Fieberkranken kein Tröpflein Wasser mehr zu Gesicht. Als aber am Abend sein Schlafkamerad ins Zimmer trat, flehte ihn Pippin inbrünstig um ein Glas Wasser an.

„Ich darf dir keins geben,“ sagte dieser, „es wäre dein Tod.“

„Ach,“ seufzte der Kranke, „ich will lieber an der Lungenentzündung sterben, als am Durst! Ich verbrenne ja, wenn Du mir kein Wasser gibst.“

„Wasser - Wasser,“ lispelte er mit seinen verdorrten Lippen, dann versank er in einen schweren Fiebertraum.

Als er wieder erwachte, schnarchte sein Zimmergenosse behaglich in der andern Ecke. O, wie quälte den armen Kranken sein schrecklicher Durst! „Wasser, Wasser!“ röchelte er wieder, aber niemand hörte ihn.

Da plötzlich blitzt's ihm wie ein rettender Gedanke durch den Kopf. Er richtet sich auf, so gut es bei der sehr großen Schwachheit geht. Mit stierem Blick schaut er sich im Zimmer um, das notdürftig von einem Nachtlichtlein erleuchtet wird. Richtig, dort steht ja das kostbare Element! Hat der Doktor auch alle Wasserflaschen streng verbannt, so ist's ihm scheint's doch nicht in den Sinn gekommen, dass man zur Not auch aus andern Gefäßen trinken kann; denn dort steht auf dem Tisch das Waschbecken des Zimmergenossen, gefüllt bis oben an mit dem köstlichen Nass.

Kaum hat er dies gesehen, so springt der Kranke mit der Hast, wie sie nur eine brennende Begierde verursachen kann, aus dem Bett, schleicht sich zum Tisch hinüber, setzt das Becken an den verbrannten Mund und trinkt und trinkt das Waschwasser bis zum letzten Tropfen aus! - Das Schnarchen des Kameraden überzeugt ihn, dass sein Verbrechen unbemerkt geblieben ist; schmunzelnd kriecht Pippin in sein Bett, deckt sich zum Überfluss mit allen seinen Kleidern und dem zwölfpfündigen „Dachbett“ zu und fängt an zu schwitzen, dass das Bettzeug tropft. O, wie wird ihm der fieberschwere Kopf so leicht! Er dankt Gott für das kostbare Wasser und schläft ein, um am Morgen aus einem erquickenden Schlummer zu erwachen.

„Wie hast du geschlafen?“ fragte ihn der Zimmergenosse, der eben mit dem Ankleiden beschäftigt war.

„Ausgezeichnet! Gott sei Dank; nur,“ setzte er hinzu, „habe ich geschwitzt wie ein Tanzbär; ich bin tropfnass. Sei so gut und lang mir ein Hemd dort aus dem Schrank, dass ich wechseln kann.“

„Siehst du,“ meinte der Schlafkamerad, „es war doch gut, dass man dir kein Wasser gegeben hat. Hätte ich dir welches gegeben, so wärest du am Ende jetzt schon tot und ich müsste mir meiner Lebtag Vorwürfe machen um dich.“

„Nun, vielen Dank für deine Fürsorge,“ antwortete Pippin und zog das nasse Hemd über den Kopf, um sein Lächeln zu verbergen.

Der Aufseher reichte ihm das frische Hemd und trat dann an den Tisch, um sich zu waschen. „Hm,“ brummte er vor sich ihn, „hab' ich doch gemeint, ich hätte gestern für Waschwasser gesorgt; dass man auch so zerstreut sein kann.“

Damit ging er zur Tür hinaus, um seine Vergesslichkeit gut zu machen; der Kranke aber zog jetzt das frische Hemd über den Kopf und hatte Mühe, das Lachen zu verhalten. Bis der Kollege mit dem gefüllten Becken zurückkam, hatte er den Wechsel vollzogen und lag wieder zugedeckt in seinem Bette, das Gesicht gegen die Wand gekehrt.

„Nein,“ sagte der Aufseher beim Eintreten, „jetzt weiß ich doch, dass ich gestern Abend das Becken gefüllt auf den Tisch gestellt habe, hier ist's ja noch nass am Boden von dem, was ich beim Öffnen der Tür verschüttete. Es nimmt mich doch wunder, wo das Wasser hingekommen ist. Entweder muss es da drinnen nicht ganz geheuer sein, oder du, Pippin, hast mir einen Spuk gespielt.“

„Nun,“ antwortete dieser lächelnd, „sieh nur mein Nachthemd an, dann weißt du bald, wo dein Wasser hingekommen ist. Wenn du's ausdrehst, gibt's schon ein halbes Bassin voll. So viel hab' ich bis jetzt heruntergeschwitzt, und wenn du noch ein wenig Geduld hast, so folgt das übrige nach.“

„Um Gotteswillen!“ rief der Schlafkamerad, „du wirst doch das Wasser nicht getrunken haben?“

„Das hab ich,“ sagte Pippin ruhig, „und wenn du mir's geben willst, so trink ich sogleich noch ein Bassin voll.“

„Dann mach aber vorher dein Testament!“

„Es ist schon gemacht,“ antwortete der Kranke lachend, „wenn mich das Wasser tötet, so hast du Anspruch auf meinen ganzen rückständigen Lohn.“

„Wie darfst du wagen, dich so über den Befehl des Arztes hinwegzusetzen?“ entgegnete der Aufseher in vorwurfsvollem Ton.

„Höre,“ sprach der Kranke, „als ich noch ein Knabe war, brach in meinem Heimatorte auch einmal die Lungenentzündung aus. Der Arzt verbot den Kranken jeden Tropfen Wassers und brachte durch diese unsinnige Verordnung sehr viele ins Grab. Niemand aber merkte das, sondern man schrieb das allgemeine Sterben dem Geheul eines Hundes zu, der nachts vor den Häusern seine Totenklage hielt. Da wurde auch ich von dem schrecklichen Fieber erfasst. Ich litt entsetzlichen Durst, aber niemand wollte mir Wasser geben. Ich aber dachte, wo's brennt, da muss man löschen, und sann auf eine List, mir das verbotene Labsal zu verschaffen. Als meine Lippen schon schwarz wurden vom Fieberbrand und meine Zunge mir am Gaumen klebte, bat ich eines Tages meine Schwester, die mir abwartete, um ein wenig Hanf, damit ich eine Schnur flechten könnte, die Zeit werde mir im Bette gar schrecklich lang. Die gute Seele ahnte nichts Schlimmes und brachte mir den Hanf. Ich raffte meine letzte Kraft zusammen und flocht bis zum Abend eine lange Schnur. Als die Schwester zur Ruhe gegangen war und alles schlief, band ich an das eine Ende der Schnur einen leeren Salbentopf, der auf meinem Nachttisch stand, kroch auf allen Vieren vor das Haus, ließ den Topf an einer Mauer hinunter in einen Wassersammler und trank nach Herzenslust, bis mein brennender Durst gelöscht war. Hierauf kroch ich wieder meinem Bette zu, schlief ein und schwitzte wie seitdem bis heute Nacht nicht mehr. Als am andern Morgen der Arzt kam, sagte er und stampfte dabei wütend auf den Boden: „Was ist das? Der hat Wasser getrunken!“ Die Schwester beteuerte bei allen Heiligen im Himmel, sie habe mir keinen Tropfen gegeben, und ich konnte auch mit gutem Gewissen sagen, es habe mir niemand solches gereicht. Das Fieber aber war von jenem Morgen an gebrochen und ich erholte mich schnell. Erst nach meiner Genesung bekannte ich meine Sünde, was, wie du dir denken kannst, die Leute, deren Angehörige bereits im Grabe lagen, nicht gar günstig für den Arzt stimmte.“

„Nun,“ sagte der erstaunte Wärter, „wenn dem also ist, so kann ich dir nur wünschen, dass dir diesmal die Kur ebenso gut bekomme wie damals!“

Das geschah denn auch und zwar nicht nur mit Meister Pippin, sondern auch die übrigen Kranken, sofern sie noch nicht verdurstet waren, tranken sich von dem Zuchthausbrunnen gesund. Ja, irgendwie ward die Geschichte auch in der Stadt bekannt und von dem an hieß es lange Zeit, das Zuchthausbrunnenwasser sei ganz besonders gut, um die Lungenentzündung damit zu kurieren.

Kapitel 7

Ein Pfahl im Fleisch

Eines Tages, es war schon spät in der Nacht, klopfte es an das Schuhmachermeisters Tür, der schon längst wieder von der glücklich überstandenen Lungenentzündung hergestellt war.

„Was gibt's?“ fragte Pippin und rieb sich die Augen aus.

„Ihr sollet herunterkommen ins Krankenzimmer, der Burkhardt ist am Sterben, er verlangt nach Euch.“

Der Meister warf sich schnell in die Kleider und eilte hinunter, nicht ohne zuvor einen Seufzer emporgeschickt zu haben zu Dem, der allein Trost für Sterbende hat.

Pippins Herz erbebte mit freudigem Zittern, als er die Treppe hinunterstieg und ins Krankenzimmer trat. „Es wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut,“ hieß es in ihm.

Der sterbende Sträfling war bis vor kurzem ein besonders gottloser Mensch und Religionsspötter gewesen. Während seiner langen Krankheit - er litt an der Auszehrung - hatte Pippin ihn öfters auf die Sorge für sein Seelenheil aufmerksam zu machen versucht, doch Burkhardt schien für alle Belehrungen unzugänglich zu sein. Unser Zuchthausprediger im Schurzfell gab indessen die Hoffnung nicht so bald auf. Und siehe, das gegen Gott und Menschen verbitterte Herz des Verbrechers fing unter dem Einfluss von Pippins Freundlichkeit zu schmelzen an. Gestern hatte dieser eine Träne in des Kranken Auge bemerkt, als er ihm die Geschichte vom verlorenen Sohne las, und nun begehrte der hartgesottene Sünder zum erstenmal des Meisters seelsorgerlichen Besuch.

Allerdings auch zum letztenmal; das sah Pippin gleich, als er zu dem Krankenbette trat. Zu der Auszehrung hatte sich bei dem Sträfling seit einiger Zeit die Wassersucht gesellt. Der Arme konnte nicht mehr liegen; er saß, nach Atem ringend, auf dem Bett. Man merkte, dass ihm das Wasser bis an die Seele ging, und, was noch schlimmer war, zu der Atemnot gesellte sich die Sündenangst.

„Betet für mich!“ lispelte er, als der Meister zum Bette trat.

„Was soll ich beten?“ fragte Pippin teilnahmsvoll.

„Dass meine Sünden vergeben werden; denn sie sind groß!“ Damit brach der Sträfling in lautes Schluchzen aus.

Der Meister neigte sein Haupt zu einem stillen Gebet. Der Kranke beruhigte sich, dann nahm er wieder das Wort:

„Mein ganzes Leben von Jugend auf ist voller Sünde und Schuld und steht wie ein Berg vor mir, der mich zu erdrücken droht. Als Knabe habe ich schon meinen Vater bestohlen und meine Mutter in ein frühes Grab gebracht durch meinen Trotz. Und ihr Fluch hat mich auf allen meinen Wegen verfolgt. Ich bin von Jahr zu Jahr immer tiefer gesunken, bis ich im Zuchthaus angekommen bin, und nun muss ich vor Gottes Gericht erscheinen, ich weiß es wohl. Ich frage Euch, gibt es noch Gnade für mich?“

„Ihr habt Eure Buße allerdings lange aufgespart, aber noch ist es nicht zu spät. Höret, was Gottes Wort verspricht.“

Der Meister schlug die ihm wohlbekannte Bibel auf und las Sacharja 9, Vers 11 und 12: „Du lässest auch durch das Blut Deines Bundes aus Deine Gefangenen aus der Grube, da kein Wasser drinnen ist. So kehret euch nun zur Festung, ihr, die ihr auf Hoffnung gefangen lieget; denn auch heute verkündige ich dir, dass ich dir Zwiefältiges vergelten will.“

„Höret,“ sagte Pippin, indem er sich auf einen Stuhl niederließ, „dass auch für die Gefangenen noch Hoffnung ist. Ihr seid nicht nur hier gefangen, sondern der Tod, unseres Herrgotts Gerichtsbote, hat Euch schon erfasst, um Euch zu abzuführen zum Gericht. Das merkt Ihr und das macht Euch Angst. Aber durch das Blut des Bundes macht der Herr die Gefangenen los. Das Blut des Bundes ist das Blut Jesu Christi, das macht von aller Sünde rein, sei sie noch so groß. Denn so steht geschrieben: „Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, so soll sie doch wie Wolle werden!“ Und diese Verheißung, obgleich es spät ist und Euer letztes Stündlein schon geschlagen hat, sie gilt auch heute noch. Denn da steht's: „Auch heute noch verkündige ich dir, dass ich dir Zwiefältiges vergelten will.“ Nicht zwiefältige Strafe, wie Ihr und ich es verdient hätten, sondern zwiefältige Gnade zur Vergebung und zur Seligkeit.“

Dem Sterbenden ward es bei diesen tröstlichen Worten sichtlich leicht. Er schien die frohe Botschaft aufzusaugen, wie ein dürres Erdreich den Regen schlürft.

„Gott sei Dank!“ rief er aus, „dass ich das glauben darf.“

Der Meister kniete an seinem Lager nieder und betete inbrünstig um Befreiung des armen Gefangenen von seiner Sündenlast. Dann kehrte er mit der Zuversicht der Erhörung wieder in sein Schlafgemach zurück, um sich den Rest der Nacht für die Arbeit des kommenden Tages zu stärken.

Aber Pippin fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Das Gefühl der Freude über den begnadigten Sünder bewegte ihn zu stark. Doch was war das? Mit einemmal zog es wie eine düstere Wolke über sein Gemüt. Ist es wahr oder hat ihm geträumt, es versetze ihm jemand einen Schlag auf den Leib? Nein, er ist wach und ein unheimliches Dunkel herrscht in dem Gemach. Ein Leibschmerz, wie er ihn noch nie gefühlt hat, eine Art Magenkrampf befällt ihn mit solcher Macht, dass er aufstehen muss. Unwillkürlich muss er seinem Schmerz in sonderbarem Koldern Luft machen, dass sein Zimmergenosse erwacht und er selbst darob erschrickt.

„Was hast du denn?“ fragte ihn dieser, etwas verdrießlich, dass er in seinem ruhigen Schlaf gestört worden ist.

„O, mir ist sterbensweh,“ seufzte Pippin, „ein Magenschmerz hat mich befallen, wie in meinem Leben sonst noch nie.“

„Ach,“ meinte der andere, „das wird von den Äpfeln sein, die du gestern Abend vor dem Schlafengehen noch gegessen hast. Nimm dort aus meinem Schrank jene Flasche herunter, es ist guter Kartoffelbranntwein drin; ein Gläslein davon wird dir den Schmerz schon stillen.“

Pippin gehorchte dem Rat. Aber das Mittel blieb ohne Erfolg. Da plötzlich, der Morgen graute schon, verließ ihn das Übel ebenso schnell, wie es gekommen war. Er konnte noch eine Stunde schlafen, bis die Glocke zur Arbeit rief und erwachte neugestärkt, wie wenn nichts geschehen wäre.

Sein erster Gang war ins Krankenzimmer. Hier war alles still. Burkhardt lag entschlafen auf seinem Strohsack. Er hatte ausgekämpft. Ein Hauch des Friedens lag über seinen ausgezehrten Zügen. „Gott sei Dank!“ seufzte Pippin, „der ist wie ein Brand aus dem Feuer gerettet.“ Er betete still an seinem Lager. Dann erhob er sich und fragte den Wärter, wann der Kranke gestorben sei.

„Etwa eine Stunde, nachdem Sie uns verlassen hatten,“ erzählte dieser, „trat in dem Befinden des Kranken eine auffallende Veränderung ein. Krämpfe befielen ihn, und unter schauerlichen Tönen, die aus seinem Magen kamen, krümmte er sich in seinem Bette. Das dauerte aber nur etwa fünf Minuten lang. Dann ward er mit einemmale ruhig, legte sich still hin, faltete die Hände und sprach: „So, nun bin ich erlöst! Tod, wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg? Hallelujah!“ Diese letzten Worte waren begleitet von einem unheimlichen Getöse, es war, als fahre etwas zur Tür hinaus. Mir schauderte die Haut und ich besegnete mich. In diesem Augenblick tat der Kranke den letzten Seufzer und verschied. Damit war aber auch bei mir alle Furcht verschwunden, eine feierliche Stille herrschte in dem Gemach. Es war mir, als träten die Engel Gottes herbei und trügen die Seele des armen Sünders davon. Wenn er schon ein Verbrecher war, so wünsche ich mir einmal auch einen solchen Tod“, fügte der Krankenwärter bei und wischte sich eine Träne ab.

„Siehst du,“ sagte Pippin mit feierlicher Stimme zu ihm, „dass, wo die Sünde mächtig geworden, die Gnade noch viel mächtiger ist? Aber sparen wir die Buße doch nicht bis aufs Sterbebett, wie er. Wohl kommt kein reuiger Sünder zu spät, aber die Reue kommt nicht immer früh genug!“

„Ja, ja,“ bestätigte der Wärter, „das habe ich oft gesehen in den zwanzig Jahren, seitdem ich hier im Zuchthaus angestellt bin. Wie mancher ist mir da gestorben, ich merkte, dass er noch etwas auf dem Herzen habe, aber er konnte es nicht mehr sagen, er konnte nicht mehr beten, er hatte den Sinn nicht mehr, und so ging er hinüber in die Ewigkeit.“

„Und doch ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben und darnach das Gericht!“ betonte Pippin nachdenksam. - „Aber sage mir,“ fügte er noch fragend bei, „um welche Stunde war es denn, dass der Kranke verschied?“

„Es schlug gleich nachher auf dem Turm der Heilig-Geistkirche 2 Uhr.“

„Merkwürdig,“ sagte Pippin vor sich hin, während er das Sterbezimmer verließ, „also gerade in dem Augenblick, wo mich die Magenkrämpfe befielen; das ist doch sonderbar.“

Ja, und noch sonderbarer war's, dass von dem Tage an dieses Leiden, das sich zum erstenmal in der Todesstunde jenes Sträflings zeigte, der dem Pippin seine Erkenntnis des Heilandes verdankte, diesen nicht mehr verließ. Auf unerklärliche Weise, so dass es sich von keinem Genuss von Speise oder Trank herleiten ließ, überkam ihn von da an regelmäßig jeden Tag ein schreckliches Magenübel, während dessen Dauer er nicht arbeiten, nicht essen, nicht sprechen, ja auch nicht einmal beten konnte. Dabei musste er schauerliche Töne von sich geben, die für seine Umgebung widerlich, unangenehm, ja fast unheimlich wurden, wodurch er dann genötigt wurde, sich zu entfernen. Oft meinte er an den Krämpfen ersticken zu müssen, dann aber verließ ihn das Leiden nach kürzerer oder längerer Dauer ebenso plötzlich wieder, wie es eingetreten war und ohne jede äußere Veranlassung.

Er versuchte alle möglichen Mittel dagegen, aber umsonst. Einmal trank er auf den Rat eines Bekannten ein ganzes Glas voll Tabaksaft aus, ohne davon weder Nutzen noch Schaden zu verspüren. Ja, er verschluckte sogar im Speck eine Flintenkugel und stellte sich dann auf den Kopf, um einen Darm dadurch zu entwickeln, denn man schrieb sein Leiden einer Darmverschlingung zu; doch auch dieses gewaltsame Mittel blieb selbstverständlich ohne jeden Erfolg. Nur zweimal in seinem Leben trat in diesem Leiden eine kurze Pause ein; wie und auf welche Veranlassung, werden wir später erzählen. Einstweilen half alles nichts, und es ist begreiflich, dass Pippin dadurch schließlich auf den Gedanken kam, sein Leiden rühre von einem bösen Geiste her. Er verglich sich in diesem Stück mit dem Apostel Paulus, den ja auch ein Satansengel mit Fäusten schlug, dass er sich nicht überhebe. Er bekannte nämlich, dass er ob seinem gesegneten Wirken im Zuchthaus und besonders über seinen Erfolg an dem genannten Sträfling einige Eitelkeit empfunden habe, und da, glaubte er, habe es Gott zugelassen, dass der unreine Geist, der aus jenem ausgefahren sei, ihn nun plagen dürfe. Oft sprach er sich auch dahin aus, diese Zuchtrute sei über ihn verhängt, wegen seiner Neigung zum Spaßen. Pippin besaß nämlich eine bedeutende Dosis Witz, der ihm oft, wie wir noch zeigen werden, gut zu statten kam, aber auch ihm, wie den meisten, die mit dieser Gabe versehen sind, zur Gefahr werden konnte. Schon als er noch in Beuggen war, hatte ihm dort einst der fromme Pfarrer von Brunn aus Basel die ernste Bemerkung gemacht, er habe es mit dem Spaßen so, wie Petrus mit dem Fischen; der habe auch, als er längst Apostel gewesen sei, von dieser seiner Lieblingsneigung nicht lassen können. Immerhin hieß es bei Pippin: „Spaß apart!“ denn niemals ließ er sich verleiten, über irgend ein Wort der heiligen Schrift zu witzeln, obgleich ihm der Witz und Humor bei seinen Erklärungen oft trefflich zu statten kam. Jemand hat aber gesagt, jeder Christ, der mit einer außerordentlichen Gabe des Spaßmachens behaftet sei, werde vom Herrn auch in eine außerordentliche Leidensschule geführt, und es ist etwas daran, man achte nur darauf, obgleich man deshalb andere nicht richten soll, die etwas mehr Humor haben, als man selbst besitzt.

Kapitel 8

Ein Kolporteur von Gottes Gnaden

Über die Höhenzüge, welche die Aare und Emme von einander scheiden, hatte sich der erste Schnee gelegt. Ein Wanderer mit schwer bepacktem Tornister, den knorrigen Knittel in der Rechten, nahm seinen Weg der Straße entlang, die sich vom schmucken Dorf im breiten Tal der steilen Halde entlang dem Kirchlein zuwindet, dessen Turm man schon gleich beim Beginn der Steigung zu erblicken vermag. Von dort meint man's in einer halben Stunde erreichen zu können, aber der Weg wird dreimal so lang, bis der Fußgänger oben auf der Schwarzenegg angekommen ist. Man hat den gestreckten Berg nicht ohne guten Grund deshalb auch die Langenegg getauft.

Aus den drei halben Stunden können aber auch gar wohl sechse und neune werden, wenn eine respektable Last den Rücken des Wanderers drückt und derselbe die am Berg kunterbunt zerstreuten Häuschen nicht am Wege liegen lässt, wie der Priester und der Levit den, der unter die Mörder gefallen war. Mörder gibt's zwar unseres Wissens keine in dem friedlichen Ländchen, durch das unser Pilger zieht, und zudem hat er etwas in seinem Sack, um was sich die Leute - leider, müssen wir sagen - nicht eben reißen oder die Köpfe blutig schlagen, damit sie's kriegen.

Aber es gibt einen Mörder, der's nicht bloß aufs Geld, sondern auf die Seelen der Menschen abgesehen hat, und der ist überall anzutreffen, - im Oberland so gut wie im Seeland, am Strand der Aare, wie auf der Goldküste von Afrika, und er findet den Weg in die Hütte des Armen ebensowohl, wie in den Palast des reichen Schlemmers, denn er hat einen dünnen Kopf, wie die Schlange, deren Ebenbild er ist.

Diesen Mörder fürchtete aber unser Wanderer nicht, sondern er war gerade ausgezogen, um ihm zu Leibe zu rücken, freilich nicht mit seinem Knotenstock, aber mit dem Schwert, das er bei sich trug und von dem er auch wie David von Goliats Schwert zu sagen pflegte: „Es ist seinesgleichen nicht.“

Gelegenheit, dieses Schwert zu brauchen, bot sich ihm denn auch bald. Dort lag ein Bauer über den untern Teil der halb geöffneten Haustüre hinaus, das Pfeifchen im Mund. Offenbar hatte ihm der etwas frühe Schnee einen Strich durch seine Rechnung gemacht. Er besann sich, welche Arbeit heute am schicklichsten zu machen wäre, b'schütten oder dreschen, Strohbänder winden für die nächste Ernte, oder holzen im Wald. Zum Holzführen war der Schnee noch zu weich und zu wenig tief. Den Bschüttikasten aber hatte der Wagner noch in Arbeit, oder auch noch nicht; es blieb also nichts übrig als das Dreschen. Mit dem fing er jedoch nicht gerne vor dem Montag an, heute aber war schon Donnerstag; bis man nun ein paar Talner zusammengetrommelt hatte, musste es Mittag werden, zum Anfangen war's also nicht mehr der Mühe wert; so blies er denn mittlerweile die Rauchwolken in die Morgenluft.

Der Mann mit dem großen Habersack kam auf ihn zu. „Wieder so ein Müsterler, ein Tagdieb, wie sie das Land ablaufen,“ dachte der Bauer und saugte stärker an seinem Rohr.

„Guten Tag,“ sagte freundlich der Wanderer, „hab' fragen wollen, ob Ihr eine Bibel brauchen könnt?“ -

„B, b,“ küsste der Bauer sein Pfeifchen und blies den Rauch in die Luft, der ihm zugleich aus Mund und Nase schoss. „Hm,“ sagte er langsam, „Bibeln hast du feil? Was gelten denn die?“

„Ich hab schon zu 15 Batzen das Stück, auch schönere, wenn man will.“ - Damit wollte er den Tornister herunternehmen, um seine Schätze vorzuweisen.

Doch der Bauer wehrte ab. „Häb nit Müej,“ sagte er, „gestern am Thun-Märit hab' ich einen Kalender gekauft, der mich nur drei Batzen gekostet hat.“

„Für drei Batzen hab ich auch ein Testament, wenn Euch eine ganze Bibel zu teuer kommt,“ erwiderte der Kolporteur.

„Meinetwegen,“ brummte der Bauer, „der Kalender ist meine Bibel.“

„Guter Freund,“ sagte der Bibelbote und schaute dem Manne ernst ins Gesicht, „am jüngsten Tage werden die Menschen nicht nach dem Kalender gerichtet, sondern nach der heiligen Schrift!“

Der Bauer musste sich getroffen fühlen, denn als Antwort schlug er die obere Hälfte der Haustür zu und polterte in die Stube hinein.

Der Kolporteur wandte sich seufzend ab. Das war kein gutes Omen für den heutigen Tag. Er schritt an mehreren Häusern vorbei, eh' er wieder anzuklopfen wagte. Da führte ihn sein Weg zu einem schönen Hofe, dessen Aussehen einen guten Eindruck auf den Wanderer machte. Er klopfte an. Eine Tochter, welche in der Küche beschäftigt war, öffnete die Tür und fragte ihn nach seinem Begehr. Sie sah recht niedergeschlagen aus, ein wehmütiger Zug lag in ihrem Angesicht. Der Kolporteur bot ihr seine Bücher an.

„Ach,“ sagte die Tochter, „es tut mir leid, aber an solchen Büchern fehlt's uns nicht. Wir haben Bibeln und Testamente genug.“

„Wieder nichts,“ dachte der Bote und ging schweigend davon. Er war aber noch keine zwanzig Schritte weit gegangen, als er jemand laut rufen hörte: „Vater, Vater, hol' doch den Mann dort zurück!“

Der Vater, der im Hofe Reiswellen machte, schaute sich um, sah aber keinen Mann.

„Wo ist er denn?“ fragte er.

„Dort neben dem Zaun geht er ja, ruf ihn doch!“

Der Bibelbote kehrte zurück vor das Haus. Hier kam ihm die Tochter entgegen mit der Bemerkung, es sei ihr plötzlich wie vom Himmel herab etwas eingefallen. Sie habe nämlich eine schwermütige Mutter, die man Tag und Nacht hüten müsse, dass sie sich nicht selbst das Leben nehme. Manchmal wolle sie mitten in der Nacht zum Fenster hinaus, einmal habe sie das Licht unter das Bett gestellt, um sich selbst, wie sie sagte, als ein Opfer für ihre Sünden zu verbrennen; dann wieder bringe man ihr nur mit der allergrößten Mühe Nahrung bei, da sie sich aushungern wolle. Der Herr Pfarrer besuche sie oft, auch der Schulmeister und andere Personen seien schon oft gekommen, sie zu trösten, aber sie sage immer, das sei nicht für sie. Nun habe sie gedacht, am Ende habe der liebe Gott ihn geschickt, dass er der armen Mutter etwas sage, was ihr helfen könnte; er möchte so gut sein und in die Stube kommen.

Der Fremdling trat ein. Bei seinem Anblick fuhr die Mutter erschrocken auf und flüchtete sich ins Nebenzimmer. Die Tochter lief ihr nach, nahm sie sanft beim Arme und sagte beruhigend: „Fliehe nicht, liebe Mutter, ich habe den Mann kommen heißen, damit er dich tröste.“

Die Mutter ließ sich beschwichtigen und nahm auf einem Stuhl dem Fremden gegenüber Platz, während die Tochter diesem erzählte, wie die Arme immer seufze und jammere, sie sei ewig verloren und es gebe keine Gnade mehr für sie, weil sie eine viel zu große Sünderin sei, und sie wolle auch deshalb nicht mehr länger leben.

„So, so, Mutter,“ sagte der Kolporteur, „Ihr seid verloren und es gibt keine Gnade für Euch? Wo steht das geschrieben? Wer sagt Euch das?“

„In der heiligen Schrift,“ sagte die Frau kurzweg.

„So, ich habe in der heiligen Schrift ganz das Gegenteil gelesen.“

„Wo, wo?“ fragte die Frau begierig.

„Hört,“ sagte der Mann und zog seine Taschenbibel hervor, die er immer bei sich trug, „hier, Lucas 19, Vers 10 steht geschrieben: „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Habt Ihr's verstanden, Mutter: was verloren ist!“

Die Frau rückte näher. Er las weiter, Hesekiel 34,16: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wiederbringen und des Schwachen warten, spricht der Herr.“

„Wo steht das? Zeigt!“, bat die Frau.

Er reichte ihr das Buch; sie las.

Der Mann schlug noch andere Stellen auf, wie 1.Timotheus 1,15: „Das ist ja gewisslich wahr - dass Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der Vornehmste bin.“ Die Frau las jede Stelle begierig und erheiterte sich zusehends. Zuletzt schlug er noch Offenbarung 7,9-17 auf und las von der unzählbaren Schar, die aus der großen Trübsal gekommen ist „und sie haben ihre Kleider gewaschen und haben sie helle gemacht im Blute des Lammes.“

„Ihr habt eine merkwürdige Bibel,“ sagte die Frau. „Soviel ich schon in der unsrigen gelesen habe, das habe ich nie darin gefunden.“

„Ihr habt sie eben mit der schwarzen Brille der Verzweiflung gelesen, nun hat euch der Geist Gottes das Licht des Glaubens aufgesteckt, drum seht Ihr es jetzt.“

„Gebt mir eine von Euren Bibeln,“ bat die Frau. „Trini, hol Geld,“ sagte sie, zur Tochter gewandt. „Ich will eine behalten zum Andenken an diesen Tag, da mir das Licht aufgegangen ist. Es dünkt mich, ich könne es besser verstehen da draus.“

Der Kolporteur, der dieser armen Schwermütigen wie ein rettender Engel erschienen war, durfte das Haus nicht eher verlassen, als bis er mit der Familie zu Mittag gegessen hatte. Mittlerweile wurde seine Anwesenheit in den benachbarten Häusern bekannt. Die Leute kamen herbei, um eins von den Büchern zu kaufen, die sich an der Nachbarin so trostkräftig erwiesen hatten. Man wisse nicht, meinten sie, was es einem noch geben könne im Leben. Es sei schon manches „teuf dry cho“ wie d'Lisebeth. Da möchte ein solches Buch einem kummlich sein, das die Schwermut vertreibe. Und allweg sei's besser, eins im Haus zu haben, es gebe einem minger (weniger) so etwas.

Der Ranzen des Kolporteurs war bedeutend leichter geworden und auch sein Herz, als er nach Mittag den Wanderstab wieder ergriff.

„Nun sagt mir aber auch noch, wie Ihr heißt und wann Ihr wieder vorbeikommen werdet,“ bat die Frau, als er Abschied nahm.

„Wann ich wiederkommen werde, das weiß der Herr, deß ich bin und dem ich diene. Meister Pippin sagt man mir, obschon ich eigentlich nur ein Jünger und kein Meister bin; ich lerne alle Tag. Anton hat man mich getauft. Weil ich aber längere Zeit in der bernischen Strafanstalt als Schustermeister angestellt war, bin ich jetzt unter jenem Namen bekannt. Vor einiger Zeit musste ich aus Gesundheitsrücksichten den mir liebgewordenen Posten verlassen, und da hat mir die Berner Bibelgesellschaft diesen Sack auf den Rücken gehängt, dass ich das Brot des Lebens im Land herumtragen soll.“

„Nun, Gott segne dieses Brot an mancher hungrigen Seele so, wie an mir,“ sagte die Frau; „b'hüet Euch Gott!“

Das war im Spätjahr geschehen. Als der Kolporteur im Frühling wieder des Weges kam und sich nach der Frau erkundigte, vernahm er, sie sei vor wenigen Wochen im fröhlichen Glauben an ihren Heiland heimgegangen.

Hinter der Schwarzenegg dehnt sich ein ergiebiges Torfmoor aus. Der liebe Gott hat dafür gesorgt, dass die Erde, die kein Brot hervorbringt, verbrannt werden kann. Vielleicht ist dies eine Mahnung an alle Unfruchtbaren, dass ihrer ein ähnliches Schicksal harrt. Wenigstens steht geschrieben: „Welche aber Dornen und Disteln trägt, die ist dem Fluch nahe, welche man zuletzt verbrennet.“ An diesen Spruch - er steht Hebräer 6,8 geschrieben - wurde Meister Pippin erinnert, als sein Weg ihn an den Torfhütten vorbeiführte, in welchen die schwarze Erde zur Verbrennung aufgestapelt liegt. Vor einer dieser Hütten waren zwei Männer damit beschäftigt, einen Schlitten mit dem kostbaren Brennmaterial zu beladen, das der Sohn der Berge im Winter zu Tale zu führen pflegt.

„Ihr seid für den Winter gut versorgt,“ rief der Kolporteur den beiden Männern zu.

„'s wird's auch nötig haben, wenn der Winter schon so früh beginnt,“ sagten sie.

„Ich hab' da etwas bei mir, womit man sich die langen Winterabende wohl verkürzen kann,“ erwiderte Pippin und zog ein Testament hervor.

„Aha, du, der hat Betbüchlein feil,“ erklärte höhnisch der Mann, der auf dem Schlitten stand, seinem Kameraden in der Torfkammer drin.

„Hast auch solche Büchlein mit 32 Blättern?“ rief jener spöttisch aus und trat aus seinem Versteck hervor.

„Nein, guter Freund,“ war die Antwort, „und ich will dir gleich sagen, warum: Weil du am jüngsten Tag nicht nach dem Kartenspiel, sondern nach der Bibel gerichtet wirst!“

„Hets di?“ lachte der auf dem Schlitten laut auf, und der spöttische Frager zog sich beschämt hinter seine Turben zurück. Gekauft wurde aber nichts.

Pippin setzte seinen Weg fort nach dem Eggiwyl. Dort blieb er in einem Wirtshaus übernacht. Die Wirtin bereitete ihm ein Nachtessen. Als er sich zu Tische setzte, faltete er seine Hände und hielt sein stilles Tischgebet. Er pflegte das auch in den Wirtschaften immer zu tun.

Auf dem Ofentritt saß ein Fuhrmann neben seinem Schnaps. Als dieser den Kolporteur beten sah, fing er an, die entsetzlichsten Flüche auszustoßen. Pippin, der keine Menschenfurcht kannte, aß ruhig sein Abendbrot, ohne aufzuschauen. Nach dem Essen faltete er wieder die Hände und tat wie zuvor. Dann rief er der Wirtin zum Tisch und fragte sie:

„Frau Wirtin, beten Sie auch, wenn Sie zu Bette gehen?“

„He ja,“ erwiderte sie.

„Nun, was beten Sie denn?“

„He, dass der liebe Gott mich, meinen Mann, meine Kinder und unser Haus behüten wolle.“

„Und am Morgen, was beten Sie?“

„He, dass der liebe Gott uns ebenfalls behüten und segnen wolle.“

„Gut so, Frau Wirtin, Sie werden auch erhört. Der Mann da auf dem Ofen hat auch gebetet, und Gott wird auch ihn erhören.“

„Was beten! Wann habe ich gebetet?“ schrie dieser ihn an.

Pippin zog sein Schwert aus der Tasche, wie er seine Bibel nannte, schlug den 109. Psalm auf und sagte: „Do stohts von des Fluchers Gebet: „Und er wollte den Fluch haben, der wird ihm auch kommen; er wollte des Segens nicht, so wird er auch ferne von ihm bleiben. Und er zog an den Fluch wie sein Hemd, und er ist in sein Inwendiges gegangen wie Wasser, und wie Öl in seine Gebeine; so werde er ihm wie ein Kleid, das er anhabe, und wie ein Gürtel, dass er sich allewege mit gürte. So geschehe denen vom Herrn, die mir zuwider sind, und reden Böses wider meine Seele.“

„Hören Sie hier, was des Fluchers Gebet vermag?“ wandte er sich an den Mann auf dem Ofen. „Sie haben vorhin gebetet, Gott solle Sie strafen, das Donnerwetter solle Sie zerschlagen, der Teufel solle Sie holen. Da haben Sie um Fluch gebetet, der wird Ihnen auch kommen. Am jüngsten Gericht wird der Herr sprechen zu denen, die um Segen beten: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters!“ Zu denen aber, die um Fluch gebetet haben: „Gehet von mir, ihr Verfluchten!“

Wie vom Blitz getroffen, verstummte der Flucher ob dieser Erklärung, trank sein Gläschen aus, rief laut: „Dä Ma het recht!“ stand auf und ging zur Tür hinaus.

In ähnlicher Weise fertigte Pippin auf seinen Reisen als Kolporteur oft die Flucher ab. Er verstand es nach dem Erzählten ebensowohl, das Schwert des Geistes zu gebrauchen, wie den Balsam aus Gilead in die verwundeten Herzen zu träufeln. Sein Übel, das wir im letzten Kapitel geschildert haben, hatte ihn genötigt, seinen gesegneten Wirkungskreis im Zuchthaus zu verlassen, aber Gott hatte ihn dadurch nur zu einem noch brauchbarern Werkzeug gemacht. Es war im Jahre 1844, als er in den Dienst der Bibelgesellschaft trat. Die Jahresberichte dieser Gesellschaft aus jener Zeit beweisen, dass das Komitee durch den großen Absatz, den dieser Kolporteur für die Bibel fand, in Verlegenheit geriet, weil ein Neudruck der alten Piskator-Testamente nötig ward und große Vorräte an Bibeln angeschafft werden mussten.

Als das Emmental durchreist war, trug er das liebe Bibelbuch ins Entlebuch. Unter den Katholiken war Pippin erst recht in seinem Element. Er wusste aus eigener Erfahrung, was die Bibel aus einem solchen machen kann. Doch fiel er nicht mit der Tür ins Haus. Er setzte sich gemütlich zu den Leuten hin, ließ seine Tabaksdose zirkulieren, fing ein Gespräch über Landwirtschaft, Politik oder das Handwerk an, das sie gerade trieben. Als weitgereister Mann wusste er in allen möglichen Fragen Bescheid und ergötzte die Leute mit seinen Erzählungen. Da legte selbst, wer anfangs feindlich gesinnt gewesen war, seine Waffen beiseite und hörte ihm zu. Gewöhnlich endigte die Unterhaltung mit einer Lektion aus der heiligen Schrift, und die Leute kauften dann gerne das Buch, das der Kolporteur so interessant zu machen verstand.

Für die Katholiken trug Pippin das Neue Testament von Kistemacher bei sich, eine Übersetzung, welche die Kirche anerkennt. Die Bibelgesellschaft hatte für einen schönen Einband mit Goldschnitt gesorgt, so dass das Büchlein um so besser zog.

In Luzern nahm ihn der gewaltige Revolutionsmann Dr. Robert Steiger mit Freuden auf und richtete in seinem eigenen Hause eine Bibelablage ein, weil, wie er sagte, dies das wahre Buch sei für das Luzernervolk.

Als aber die Bibelverbreitung im Kanton Luzern im besten Gange war und man dem eifrigen Kolporteur noch viele Jahre solch gesegneter Wirksamkeit hätte wünschen mögen, standen die katholischen Priester mit aller Macht auf gegen das Werk, forschten in den Häusern den gekauften Büchern nach, belehrten die Leute, das seien Ketzerbücher, bewirkten auch, dass Pippin aufgegriffen, auf die Polizei in Luzern geführt und dann in der Nacht, bei viel Schnee und großer Kälte, über die Grenze nach Zofingen transportiert ward.

Kapitel 9

„Arzt hilf dir selber!“

Auf einem alten Turm der Schlossbesitzung Beuggen hatte ein Storchenpaar seine Erziehungsanstalt aufgeschlagen, lange bevor Vater und Mutter Zeller die verödete Stätte in einen blühenden Kindergarten verwandelten. Freilich kann niemand sagen, die wievielte Generation aus der Familie Langbein zu der Zeit gerade regierte, von welcher wir jetzt reden wollen. Das tut auch wenig zur Sache. Die Kinder fragen nicht nach dem Stammbaum; ob es nun der Vater sei oder der Sohn, der dem Storchennest vorsteht, ist ihnen einerlei, wenn sie nur fleißig klappern hören und sehen können, wie die Jungen etwas in den leeren Schnabel bekommen, was ja bekanntlich bei Kindern und jungen Störchen stets die Hauptsache ist. So war es auch jetzt, als die Anstaltskinder von Beuggen eben im Hofe ihr z'Nüni verzehrten, ein riesiges Stück Brot; da machten sie sich keine Gedanken darüber, dass jetzt schon seit zwei Jahren ein neuer Inspektor die Anstalt leitete. Blieb ja doch alles so ziemlich, wie es von Anfang gewesen, auch nachdem die Väter entschlafen waren; der Storch führte heute seine Jungen, die eben flügge zu werden begannen, gerade noch so auf der hohen Dachfirst spazieren, wie in der guten alten Zeit, wo noch Vater Zeller das Hausregiment führte und Mutter Zeller die Haushaltung dirigierte, von der ihr Mann zu sagen pflegte: „Was ich lehre, das lebt sie.“

Aber halt, heute kommt da im Schlosshofe doch etwas vor, was nicht alle Jahre passiert! Ein lautes Hallo ertönt und alle Knaben stürzen sich nach einer Stelle hinter dem Hause hin, die Mädchen ihnen nach. Bald verwandelt sich das Hallo in ein „O weh!“, denn auf der Erde liegt - ein junger Storch, der seine ersten Flugversuche, ähnlich wie jener Berliner Schneidermeister, mit einem Sturz auf das Pflaster gebüßt hat, nur mit dem einzigen Unterschied, dass der Storch von der Vorsehung zum Fliegen bestimmt ist, der Schneider aber zum Sitzen auf der Boutique.

Die Knaben suchen das arme Tier für sein Missgeschick mit Streicheln zu entschädigen, wogegen sich dieses der ungewohnten Liebkosungen mit seinem schon recht kräftigen Schnabel zu erwehren versucht; andere halten ihm natürlich als Herzenströster ihr Stück Brot hin, wovon aber der dumme Vogel in gänzlicher Verkennung der Samariterdienste nichts nehmen will. Zum Glück kommt einer der Schullehrerzöglinge herbei, die ja mit den Kindern unter einem Dache wohnen und diese auch in der Pause zu beaufsichtigen haben. Da wird nun der verunglückte Vertreter des Tierreichs seinen Meister wohl finden; ist doch der Zögling im Besitze eines Lehrbuchs der Zoologie und weiß den Kindern zu sagen, dass der Storch zu der Klasse der Stoßvögel gehört, dass er aber auch ein Sumpfvogel ist und darum nicht sowohl Brot, als vielmehr Frösche und Fische frisst, in Ermangelung solcher jedoch auch Mäuse, ja sogar Maulwürfe und Schlangen nicht verschmäht.

Eben wollen einige Knaben nach dem Burggraben springen, um dort Frösche zu suchen, da kommt Herr Nathan, der Bruder des Inspektors, der Ökonomieverwalter der Anstalt, herbei und hört die gelehrte Vorlesung seines Zöglings. „Bruder Superklug,“ fällt er ihm ins Wort: „alles hat seine Zeit, auch die Zoologie; wir wollen doch den armen Kerl zuerst aus seiner beängstigenden Lage befreien, ehe wir über seinem Leib Vorträge halten, wie ein Professor bei der Vivisektion.“ Damit hebt er den Vogel in die Höhe und sucht ihn auf die Beine zu stellen. Aber jetzt erst sieht man, dass das arme Tier sich übel verletzt hat bei seinem Sturz; es kann nicht mehr stehen. Ein Bein hängt ganz schlaff am Leib; wie der Verwalter näher zusieht, bemerkt er, dass es gebrochen ist.

„Da wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als den armen Verunglückten zu töten,“ bemerkte Herr Nathan kopfschüttelnd. „Was will man anders machen mit so einem Tier?“

„Wir wollen's dem Meister Pippin bringen!“ ruft eine helle Stimme aus der Knabenschar.

„So, du willst den Schuhmacher auch noch zum Viehdoktor machen?“ entgegnete lächelnd der Herr Verwalter.

„Nun, Ihr könnt's ja meinetwegen probieren; möglicherweise weiß der Meister Hämmerli auch da noch einen Rat.“

Gesagt, getan. Eines der Mädchen muss seine Schürze hergeben. Da wird der Vogel sorgsam dreingebettet und mit einer ansehnlichen Deputation zur Schuhmacherei geleitet.

Meister Pippin sitzt in seiner Fensternische, die durch die 6 Fuß dicke Mauer des alten Schlosses gebildet wird und klopft das Leder. Seine Aufgabe ist es, die 120 Hausgenossen, große und kleine Füße, mit Schuhwerk zu versorgen. Selbstverständlich gibt es bei so vielen Kindern viel zu flicken; der gewissenhafte Mann besorgt dies mit einer Pünktlichkeit und Sparsamkeit, wie er sie bei der Armenanstalt angebracht findet, deren Fonds, wie einmal jemand gesagt hat, in den Schoppen liegen, die ihre Freunde nicht trinken. Meistens ist er allein; nur ab und zu an den freien Nachmittagen helfen ihm einige der größeren Knaben und Schullehrerzöglinge, die er etwas in seinem Handwerk unterrichtet. Trotzdem findet er Zeit, neben den Schuhen auch noch alles zerbrochene Werkzeug, das es etwa in dem großen Haushalt gibt, zu reparieren, und namentlich macht es ihm, dem alten Junggesellen, das größte Vergnügen, den Kindern die Spielsachen zu flicken. Inspektors dreijähriger Alfred hat das bereits kapiert; wenn seinem Ross der Kopf abgeht, oder wenn seine kleine Schwester der Puppe einen Arm ausgerissen hat, so tröstet er sich und sie mit den Worten: „Wir wollen's dem Pippin bringen.“ Dieser Trost war bereits zum Losungswort geworden unter der Beuggener Kinderschar, und so kam er denn auch dem gebrochenen Storchenbein zu gut.

Meister Pippin wundert sich denn auch nicht allzu sehr über die neue Zumutung, welche die Kinder an ihn stellen. Es ist zwar ein gewisser Unterschied zwischen einem hölzernen Ross und einem lebendigen Storch; aber nicht nur jeder praktische Arzt, sondern auch jeder Handwerker hat so eine Art Universalmittel zur Hand, das nahezu alle Schäden heilt, mit Ausnahme natürlich des Todes, gegen den ja kein Kraut gewachsen ist. Der Schreiner verklebt sich seine Wunden mit Leim, der Fuhrmann versichert, dass nichts besser sei zu diesem Zweck, als Wagensalbe, und der Schuster, der, - und der hat Pech! Aber wenn er auch oft Pech hat, besonders dann, wenn ihm ein Kunde mit unbezahlten Schuhen durchbrennt, so muss ihm das Pech doch auch oftmals zum Besten dienen. Meister Pippin wenigstens wichste damit nicht nur seinen Zwirn, sondern er befestigte auch Alfreds Rosskopf mit Pech, und heute umgab er sogar das Storchenbein mit einem Pechverband! - Was aber noch wunderbarer, Pippin hatte Glück mit seinem Pech; der kluge Vogel fügte sich in das Unvermeidliche, was man nicht gerade von jedem zweibeinigen Patienten sagen kann. Pippin und der Storch waren bald gut Freund mit einander, trotzdem man sonst den Junggesellen gewöhnlich nachsagt, sie mögen den Storch nicht und seien nur aus Furcht vor ihm ledigen Standes geblieben; aber Meister Pippin liebte ja die Kinder, er musste also folgerichtig auch den Storch gerne haben. Überdies nehmen Junggesellen und alte Jungfern auch gerne Gesellschaft an; in Ermanglung einer Kaffeeschwester begnügen die letztern sich sogar nicht selten mit einer Katze; warum sollte also nicht auch ein Storch einmal dieselben Dienste tun? Klappern ist ja auch sein Zeitvertreib.

Meister Pippin behielt nun freilich nicht aus Freude am Klappern den Storch mehrere Wochen lang in seiner Werkstatt, sondern nur, weil das Bein desselben trotz des vorzüglichen Peches nicht früher geheilt war. Pippin liebte sonst die Stille und die Einsamkeit. Den Feierabend und die stillen Stunden des Sonntags brachte er meist hinter seiner Bibel zu. Er war nicht nur ein Bibelleser, sondern ein Bibelforscher. Deshalb hatte er sich schon vor Jahren Richters erklärte Hausbibel angeschafft, welches sechsbändige Werk der Schuster mehrere Male in seinem Leben ganz durchstudierte! - Daneben war Arndts wahres Christentum seine tägliche Speise und überdies hielt er sich mehrere christliche Zeitschriften; denn er hatte ein reges Interesse an allem, was im Reiche Gottes vorging, besonders für die Heidenmission, über deren Fortschritte er sich durch das Calwer Missionsblatt auf dem Laufenden erhielt. So eng sein Wirkungskreis in Beuggen war, so behielt er sich doch ein weites Herz und einen weiten Blick; er hatte zuviel von der Welt gesehen, um sich nicht für alles zu interessieren.

Der Inspektor kannte und schätzte diese Gesinnung seines Anstaltsschusters, und wenn er darum irgend etwas Altes oder Neues fand, was den Gottesgelehrten im Schurzfell interessieren konnte, so versäumte er's nicht, ihm davon mitzuteilen; das gesunde Urteil des nüchternen Mannes war ihm sehr wertvoll.

Eines Tages, während der junge Storch noch in Pippins Behandlung war, steckte Herr Zeller ein Traktat zu sich und begab sich nach der Schusterwerkstatt. Der Storch konnte jetzt bereits wieder auf beiden Beinen stehen, während er sonst oft stundenlang nur auf einem einzigen balancierend seinem Wohltäter zugeschaut hatte.

„Ihr seid doch ein Tausendkünstler,“ sagte der Inspektor, als er den Vogel sah; „ich hätte wirklich nicht geglaubt, dass der davon käme.“

Meister Pippin wollte eben auf dieses Lob antworten, als ein Anfall seiner Magenkrämpfe ihn nötigte, für einige Minuten das Zimmer zu verlassen. Der Inspektor, der die Natur dieses Übels kannte, wartete geduldig, bis sein Schuster wieder kam. Als er eintrat, sah er ganz erschöpft aus, hatte aber doch seinen unverwüstlichen Humor nicht verloren. „Nicht wahr, Herr Inspektor,“ meinte er, „mir könnte man auch sagen, „Arzt hilf dir selber!“

„In der Tat,“ entgegnete dieser; „aber es ist nun eben einmal dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen und dass unsere menschliche Kunst ihre unüberschreitbaren Grenzen hat. Doch,“ setzte er nach einigen Momenten des Schweigens hinzu, „was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich!“ Bei diesen Worten zog er das Traktat hervor, den er vorhin zu sich gesteckt hatte. „Da, leset einmal,“ sagte er zu Pippin, „dieses herrliche Schriftchen. Es ist zwar nichts Neues; ich habe es unter den alten Papieren meines seligen Vaters gefunden. Gedruckt ist es im Jahre 1822; ich vermute, es stamme von dem lieben Antistes Spleiß in Schaffhausen, der, wie Ihr wisst, viel mit meinem Vater verkehrt hat und ein regelmäßiger Besucher unserer Jahresfeste war.“

„Ach ja,“ sagte Pippin, „der kleine, merkwürdige Mann, mit dem klaren, durchdringenden Blick, von dem unsere Kinder sagten, er sehe einem alles Böse an, was man je getan, so dass sie ihm deshalb schon auswichen!“

„Eben der,“ sagte der Inspektor; „er hat in seiner Gemeinde in Buch eine so herrliche Erweckung erlebt. Er war ein vom heiligen Geiste besonders erleuchteter Mann, und da er mehr Licht hatte, als viele andere, so halte ich es für wahrscheinlich, dass er dieses Schriftchen geschrieben hat. Von wem es aber auch stammen möge, jedenfalls enthält es eine köstliche Wahrheit, die uns, die wir ja beide kranke Leute sind, wohl zu ernstlichem Nachdenken bewegen darf.“

Pippin nahm das Schriftchen und las: „Etwas zur Aufmunterung des Glaubens an Jesum - den Arzt.“

„Das ist in der Tat etwas für mich! Danke Ihnen, Herr Inspektor! Morgen ist Sonntag, da will ich's in aller Stille durchgehen.“

„Gott segne es an euch, wie es mir zum Segen geworden ist!“ wünschte der Inspektor und entfernte sich; er wusste, dass Pippin nach seinen Anfällen der Ruhe bedürftig sei. Der gute Alte, der jetzt schon hoch in den Sechzigen stand, war seiner Zeit durch sein Magenübel leider gezwungen worden, den gesegneten Beruf eines Bibelkolporteurs nach vierjähriger Tätigkeit darin aufzugeben und zu seinem Leisten zurückzukehren. Mehrere Jahre hindurch hatte er dann in der Stadt Bern das Schusterhandwerk ausgeübt, bis er endlich im Jahre 1853, einem Rufe des alten Inspektors Zeller folgend, wieder in das Amt eines Anstaltsschusters von Beuggen eintrat. Schon ein Jahrzehnt versah er jetzt wieder diesen Dienst. Sein wahrhaft frommer Wandel und sein freundlich stilles Wesen war für alle Hausgenossen eine Erbauung und ein Segen. Wie hätte man ihm doch so gerne Befreiung von seinem Leiden gegönnt!

Als Mutter Zeller im Winter 1857/58 schwer krank an der Wassersucht darniederlag, da wurde sie von der lieben Jungfer Trudel aus Männedorf besucht, durch deren Vermittlung ihr Samuel von einem hartnäckigen Flechtenübel geheilt worden war; und was mehr, dieser Sohn, der ja später der Nachfolger von Jungfer Trudel geworden ist, hatte durch diese vom Herrn so wunderbar ausgerüstete Person den entscheidenden Anstoß zu seiner Bekehrung erhalten. - Jungfer Trudel besuchte also im Februar 1858 die kranke Mutter Zeller und verbrachte bei ihr eine ganze Nacht im Gebet, leider ohne dass sich irgendwelche Besserung bei der Kranken zeigte; sie ward nur aufgeregter. Die Ärzte hatten ihr Morphium gegeben; sie war daran schon zu sehr gewöhnt und als sie nun in jener Nacht auf Jungfer Trudels Wunsch darauf verzichtete, da hatte dieser unfreiwillige Verzicht die genannten Folgen. Gewiss war die liebe Mutter Zeller auch lebensmüde, nicht mehr zu weiterm Wirken auf Erden bestimmt, weshalb der Herr, der sie im Leidenstigel vollenden wollte, auch die Gebete um Genesung nicht mehr erhören konnte. Etwas anderes war es bei unserm Meister Pippin. Er hoffte immer noch auf Heilung und benützte darum gerne die Gelegenheit, die sich ihm durch Jungfer Trudels Anwesenheit bot, von ihr eine Handauflegung zu erhalten. Er wusste, dass es dem Herrn schon oft gefallen hatte, durch diese äußerlich so unansehnliche, bucklige Person seine Heilkraft bei vielen Kranken an Leib und Seele zu offenbaren. Wirklich verspürte auch er einige Erleichterung; aber das Übel wollte nicht weichen.

Nun waren seitdem wieder fünf Jahre verflossen. Pippin hatte sich den Gedanken ganz aus dem Sinn geschlagen, dass es für ihn noch Heilung gebe; - er hielt sein Leiden für den Pfahl im Fleisch, den er nun einmal behalten müsse, auf dass er sich nicht überhebe. Das Schriftchen, das ihm Herr Inspektor Z. eingehändigt hatte, erweckte jedoch in ihm andere Gedanken. Es behandelte die Frage der Heilung von einer für ihn ganz neuen Seite. Es fanden sich darin Sätze, wie die folgenden:

„Man sollte keinen Unterschied machen zwischen dem Wunderglauben und dem einfachen Glauben. Der mit Wahrheit so genannte einfache Glaube ist auch ein Wunderglaube; denn ist es nicht ein größeres Wunder, die Seele retten, als einen Berg versetzen? Beides geschieht durch denselben Glauben, und wer beides zugleich vermag, der hat den völligen Glauben. Sollte der Lebensfürst, der zugleich die Auferstehung und das Leben ist, nicht noch fort und fort seine Lebensmitteilung an seinen Gläubigen durch plötzliche oder allmähliche (jedoch klar als von Ihm kommend erkannte) Heilung ihrer kranken Leiber äußern, und zwar, je mehr als wir sehen, dass sich der Tag nahet? Wer einmal das ewige Leben ergriffen hat, sollte der nicht eben deswegen weit weniger leiblichen Übeln unterworfen sein, sollten nicht die Kräfte des Todes also in ihm vermindert werden, dass er nicht mehr ihrer Herrschaft und ihrem freien, ungehemmten Auftauchen unterworfen wäre? - Es ist eine Einseitigkeit des Glaubens, wenn der Christ sich seinem Heiland nicht mit dem Leib, wie mit der Seele kreditiert (anvertraut) und zutrauensvoll übergibt. Nicht nur überhaupt, sondern in jedem besondern Notfall sollte ein Akt zwischen ihm und seinem Heiland vorgehen, wie wenn ein Gläubiger einem andern ein Kapital zu freier Verfügung also übergibt, dass er's nicht mehr in seiner Hand und Gewalt behält. Hat er ein krankes Glied, so kreditiert er's dem Heiland gänzlich als seinem eigenen, getreuesten Arzt ohne alle Bedenklichkeit, überlässt es seinem heiligen Willen zu freier Disposition; und da dieser kein anderer ist, als dass geholfen werde, so kann der Erfolg nicht zweifelhaft sein, und ist sein Glaube groß, so kann ihm zur Stunde geholfen werden, so kann er wenigstens an sich dieselben Werke tun, die sein Vorläufer und Meister getan hat. Je vielseitiger der Glaube eines Christen ist, desto mehr Gutes kann und wird er von Oben herab empfangen. Christus ist alles in Allen.“

Es ist begreiflich, dass diese und ähnliche Gedanken, die Pippin in der genannten Schrift ausgesprochen fand, einen tiefen Eindruck auf ihn machten. Er sprach aber mit niemand darüber, sondern bewegte das Wort in seinem Herzen. Etwa 14 Tage später jedoch, als er Hrn. Zeller im Hofe traf, nahm er diesen bei Seite und sagte mit strahlendem Gesicht: „Herr Inspektor, ich kann es Ihnen nicht länger verschweigen, was für eine große Barmherzigkeit Gottes mir widerfährt: Ich bin frei von meiner Krankheit! Ich habe es noch keinem Menschen gesagt vor Freude und zugleich vor Furcht, es möchte nur eine Täuschung sein. Es sind nun 18 bis 20 Jahre vergangen, seitdem ich an diesem schrecklichen Übel leide, das mich keinen Tag verschont hat. Aber seit vierzehn Tagen fühle ich keine Spur mehr davon!“

„Wie kommt denn das?“ fragte der Inspektor begierig.

„Als Sie mir vor vierzehn Tagen das Büchlein gaben,“ erzählte Pippin, „habe ich dasselbe sogleich durchgelesen. Während des Lesens wurde ich mit einem so zuversichtlichen Glauben erfüllt, dass Jesus, der große Arzt, auch mich heilen könne und wolle, dass ich sogleich in meine Schlafkammer eilte, nicht um erst um Heilung zu bitten, sondern Ihn dafür zu preisen, dass Er auch mich gesund gemacht habe. Von der Stunde an bis jetzt bin ich ganz gesund geblieben.“

Der Inspektor freute sich über diese Mitteilung um so mehr, als auch er, der ja fast seit Antritt seines Amtes ein kranker Mann gewesen ist, durch das nämliche Schriftchen in der Hoffnung auf Heilung bestärkt worden war. Er ermahnte den Schuhmachermeister, anzuhalten in stiller Dankbarkeit; denn es heiße: „Gott, man lobet Dich in der Stille zu Zion.“ Mit unbeschreiblicher Freude nahm er auch wirklich wahr, dass Wochen vergingen, ohne dass Meister Pippin wieder von dem Leiden befallen wurde.

Aber was geschieht? Eines Tages, etwa sechs Wochen nach obiger Unterredung, steht Pippin während des Mittagessens vom Tische auf und erklärt vor versammelter Hausgemeinde, er könne sich nicht länger mehr enthalten, zu bezeugen, welch große Gnade ihm widerfahren sei; Gott habe ihn von seinem zwanzigjährigen Leiden befreit, und er fordere alle auf, mit ihm dafür zu danken. - Und siehe da, am Abend desselben Tages stellte sich das Leiden wieder ein, um ihn nie wieder zu verlassen. -

Merkwürdigerweise ist auch der Inspektor selbst von seinem eigenen Leiden nie geheilt worden. Er litt seit dem Jahre 1862 an einer von den Ärzten für unheilbar erklärten Gicht, die ihn mit zunehmenden Jahren immer mehr lähmte. Trotzdem hat weder das Erlebnis mit seinem Schuhmacher, noch seine eigene Erfahrung ihn in seinem Glauben je wankend gemacht. Zehn Jahre nach jenem Erlebnis mit Pippin veröffentlichte er im Beuggener Monatsblatt den Inhalt jenes Schriftchens, indem er es seinen Lesern vorlegte „zu ernstem Nachdenken, wenn auch nicht zu unbedingter Annahme aller darin enthaltenen Gedanken und Überzeugungen. Ich empfehle dasselbe sehr,“ so schrieb er damals, „obwohl selbst schon zehn Jahre krank und trotz vielem gläubigen Gebet meiner selbst und anderer Kinder Gottes nicht geheilt. Die scheinbar der heiligen Schrift widersprechenden Erfahrungen einzelner Christen heben die biblische, göttliche Wahrheit nicht auf!“

Kapitel 10

Ein Meister im Dienen

Sein Pfahl im Fleische war für Pippin wohl ein Hemmschuh, aber im Grunde doch kein Hindernis. Seinen verantwortungsvollen Posten als Anstaltsschuster konnte er bis in sein 79. Jahr bekleiden. Was für ein Segen dieser Mann für die Anstalt war, davon geben die folgenden Mitteilungen, die aus der Feder seines Inspektors stammen, den besten Begriff. Derselbe schreibt:

„Stelle sich vor, wer kann, welch unangenehme, ermüdende Arbeit bei so viel Schullehrer-Zöglingen und Kindern, die bei ihren Landarbeiten und ihren lebhaften Spielen im großen Hofraum so viel Schuhe zerreißen, nur allein das beständige Schuhflicken ausmacht! Nun, dieser lästigen Arbeit unterzog er sich bis an sein Ende, das letzte Jahr ausgenommen, mit unverdrossener Treue und Hingebung, ohne Klagen und Murren, wenn er auch manchmal auf größere Strenge zur Anwendung von mehr Sorgfalt und Schonung drang. Es ist von allen wahren Christen anerkannt, dass der wohlgefälligste Gottesdienst im Leben nicht in außerordentlichen, selbsterwählten, glänzenden, bewunderten Werken besteht, sondern im Fleiß und in der Treue im nächsten, engsten, täglichen Berufe mit freudigem Herzen um Gottes willen. - Dies Zeugnis der Treue im Kleinen hat er jedenfalls von seinen menschlichen Vorgesetzten, die es ihm mit großer Freudigkeit und herzlicher Dankbarkeit für die geleisteten Dienste geben. Er suchte nie sein Interesse, sondern sah, in Ermangelung einer eigenen Familie, die Anstalt als seine Familie an, für die er wie ein Vater zu sorgen habe. Ich zweifle nicht, dass er nicht nur das menschliche, sondern auch am Tage der Erscheinung Jesu das göttliche Zeugnis erhalten werde: „Ei, du frommer und getreuer Knecht; du bist über wenigem getreu gewesen; ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude.“

„Bei dieser schweren Aufgabe war er von Herzen zufrieden und dankbar mit einem sehr kleinen Lohne, nämlich 2 Fr., später und bis an sein Ende 1 fl. (2 Fr. 15) in der Woche. Er hatte nicht das Bedürfnis, sich durch allerlei Vergnügungen und Abwechslungen das eintönige Leben zu versüßen. Sein tägliches Leben bewegte sich in den drei einzigen Abwechslungen: Am Morgen die gemeinschaftliche Bibelstunde im alten Lehrsaal, die Arbeit in der Werkstatt, die gemeinschaftlichen Mahlzeiten im Speisezimmer. Erst in den letzten Jahren erlaubte er sich auf unser Zudringen ein halbes oder ganzes Stündlein Spaziergang nach dem Mittagessen im Garten. Er führte ein wahrhaft evangelisches Einsiedlerleben. Seine liebe Werkstatt nannte er seine Klause. Die Wirtschaften besuchte er nie. Geraucht hat er nie, wohl aber mäßig geschnupft; es war ihm eine seiner kleinen Freuden, seine altbekannte Dose in kleinen und großen Gesellschaften herumgehen zu lassen. Auch sonst hatte er in Essen und Trinken, Kleidern und Lebensart keinerlei Bedürfnisse, die über das einfachste Leben hinausgehen. Von jährlichen Erholungen und Vakanzen wusste er nichts. Seine nächsten Verwandten besuchte er je nach dringenden Umständen, seine Freunde in Bern nur auf besonders herzliche Einladung und Aufmunterung von unserer Seite, etwa in zehn oder fünfzehn Jahren einmal. Trotz seines schweren Magenleidens wollte er durchaus nie berücksichtigt und gepflegt sein mit anderer Speise oder Trank; auch nahm er nie das dringende Anerbieten an, in seinem einsamen alten Schloss einen Schlafkameraden zu haben.

„Ohne im Entferntesten geizig zu sein, wie wir hernach hören werden, war er im höchsten Maß sparsam und einfach, wie auch aus dem Vorhergehenden schon zu ersehen ist. Durch seltene Reinlichkeit und Ordnungsliebe erhielt er seine Kleider viele Jahrzehnte hindurch. Es grenzte ans Fabelhafte und reizte zum Lachen, wenn er erzählte, wie lange er seine verschiedenen Kleidungsstücke und seine andern Habseligkeiten schon habe. Und auch nach Jahrzehnten war noch kein Flecken und keine schadhafte Stelle an seinen Kleidern zu erblicken. Er war stattlich und feierlich anzusehen, wenn er Sonntags nach der Kinderlehre aus dem gothischen Tor des alten Schlosses hervortrat, um seinen gewöhnlichen Sonntagsspaziergang anzutreten, in seinem dunkelblauen guten Tuchrock, den er schon 40 Jahre lang trug, in Stiefeln von 30 Jahren, in jener Weste, die er von der Tochter seiner Meistersfrau in Avignon erhalten hatte, und mit seinem spanischen Meerröhrlein von gleichem Alter. Ein ehrwürdiger Anblick war auch seine leibliche Gestalt: Eine schöne Schädelbildung, schöne männliche Gesichtszüge, gesunde Gesichtsfarbe, trotz seines fast vierzigjährigen Leidens, schneeweißes, glänzendes, wellenförmiges Haupthaar, starker, schneeweißer Bart, nur eine unbedeutende Glatze am Hinterkopf, der Gang im Alter etwas gebückt.

„So sehr er die Gesellschaft der Menschen liebte und ein sehr guter Unterhalter war, der aus seinem Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen Altes und Neues hervorholen konnte, so war ihm doch von Gott die Befriedigung dieses Bedürfnisses durch seinen Beruf, seine Stellung und seine Verhältnisse nur in spärlichem Maße vergönnt, und seine Einsamkeit liebte er nicht aus natürlicher Vorliebe und aus Hang dazu, sondern weil er sich von Gott dazu angewiesen sah. Er erkannte darin ein sehr köstliches, göttliches Verwahrungs- und Zuchtmittel gegen eine ihm stets drohende Gefahr und Versuchung. Es war ihm nämlich in hohem Maß ein übersprudelnder Witz und heiterer Humor angeboren, welchen in gottwohlgefälliger Weise im Zaum zu halten und zu heiligen ihm sehr schwer fiel, und der oft über die feinen Schranken der Würde hinausging. Ohne es zu wissen und zu wollen, reizte er die ganze Umgebung zum Lachen. An einem Sommerabend kündigte er einst allen Umstehenden auf morgen einen schönen Tag an. Auf die Frage, woraus er auf das schöne Wetter schließe, sagte er: „Es ist ja Abendrot.“ Man schaute sich ringsum, konnte aber nirgends eine Spur von Abendrot finden. Da deutet er auf einen Knaben mit roten Haaren und fragte: „Ist's denn hier nicht am Abend rot?“ In einer Predigt stieß er einen schlafenden Nachbar mit dem Ellenbogen und sagte: „Man sagt einem auch vorher Gute Nacht! ehe man schlafen geht.“ Dass solche und andere Scherze sowohl ihm als den Zuhörer zwar wohl unterhaltend und belustigend, aber doch mit dem Geistesleben nicht wohl verträglich, sondern meist hindernd und störend seien, erkannte er tief und bekannte oft mit Wehmut und Beschämung seine Scherze als Schwachheit. Darum war ihm seine angewiesene Abgeschlossenheit sehr willkommen, ja er erkannte oft sein Körperleiden als ein sehr notwendiges und heilsames Gegenmittel gegen das aufschießende Unkraut. „Wie eine Schwarzwälderuhr,“ pflegte er zu sagen, „ein Gewicht braucht, um zu gehen, und wie sie augenblicklich stehen bleibt, wenn man ihr das Gewicht abnimmt, so erfordert auch mein Geistesleben ein Gewicht, und wenn es von mir genommen würde, so würde meine Uhr stille stehen.“

„Wenn Jesus sagt: „Geben ist seliger als nehmen,“ so steht Pippin als Beweis von der Wahrheit dieses Wortes da, und zugleich als ein Beweis, dass man kleinen Lohn haben, sehr arm sein und dennoch mit dem Wenigen viel Gutes tun kann. In gewissen Fällen gab er bares Geld und zwar verhältnismäßig große Beträge. War irgendwo in der Nähe oder Ferne ein Unglücksfall und eine dringende Not, z. B. eine Armenanstalt abgebrannt, ein armer Familienvater gestorben, eine große Überschwemmung usw., so war er es, der eine blecherne oder hölzerne Büchse an einem öffentlichen Ort aufstellte, überschrieben mit der Bestimmung der zu sammelnden Liebesgaben, und der mit dem ersten gewichtigen Beitrag zur Nachfolge aufmunterte. Ein fröhlicher Geber war er für die verschiedensten Anstalten der inneren und äußeren Mission. Ebenso beschenkte er reichlich seine Taufpatenkinder, auch arme dürftige Personen, die mit ihm in näherer Berührung standen, auch ehemalige Pflegeknaben, die sich in bedrängten Umständen an ihn wandten. Am allermeisten Freude machte es ihm, sein Geld zum Ankauf von Bibeln zu verwenden, und unzählige Leute mit Bibeln oder Testamenten zu versehen. Der bei weitem häufigste Abnehmer in meinem Bibeldepot war er; den größten Teil dessen, was das Jahr durch verkauft worden war, hatte er geholt, und zwar suchte er mit Vorliebe die schönsten Einbände aus. Immer das Schönste in meinem Bibelkasten hat er genommen; alle Testamente mit Goldschnitt und gelbem Blechbeschlag und Klammern, die hat er alle herausgefischt. Er wollte die Bibel gern auch äußerlich geehrt sehen. „Man muss die Kinder (die meisten schönsten Testamente waren für arme Kinder bestimmt), und ferne stehende, noch unwissende Leute auch mit einem schönen äußern Gewand zur Bibel locken,“ pflegte er zu sagen. Nebst der Bibel kaufte und verschenkte er am häufigsten Arndts wahres Christentum.

„Ich bekenne, dass, wenn ich oft so in der Stille ihn in aller seiner Liebestätigkeit, soweit sie zu meiner Kenntnis kam, belauschte und seine Fünflivres ausfliegen sah, so konnte ich mich des Staunens und der Verwunderung nicht enthalten und musste mich fragen: Wo kommen denn alle diese Taler her? Es ist ja, als ob sie aus der Erde herauswüchsen! Die Erklärung zu dieser seltsamen Erscheinung hat der Herr selbst gegeben in dem Wort: „Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euern Schoß schütten.“ Luk. 6,38. Es ist eben ein geheimnisvoller Segen im Geben; je mehr man im Glauben und in der Liebe ausgibt, desto mehr wird wieder oben eingeschüttet. Es ging ihm mit seiner kleinen Kasse, wie der Witwe zu Sarepta. Weil sie selbst in der äußersten Armut und mit dem letzten Bissen so mitteilend und wohltuend war, bekam sie die Verheißung: „Das Mehl im Topf soll nicht verzehret werden, und dem Ölkrug soll nichts mangeln. Und das Mehl im Topf ward nicht verzehrt, und dem Ölkrug mangelte nichts, nach dem Wort des Herrn.“ 1. Kön. 17,14.16. So hatte er nach allen seinen reichlichen Ausgaben immer wieder etwas zum Ausgeben.

„Noch möchte ich,“ fährt Zeller fort, „einige Eigenschaften nennen, die teils Natureigentümlichkeiten, aber durch den Geist Gottes geheiligt, teils unmittelbare Früchte des Geistes waren: Er hatte eine ungemeine Freude an kleinen Kindern und sah mit innigstem Wohlgefallen ihrem Treiben zu; er konnte sich so gut zu ihrer geringen Fassungskraft herablassen und sich auf ihren niedrigen Standpunkt stellen. Das merkten auch die Kinder bald und fühlten sich zu ihm hingezogen. Mit stillem Wohlgefallen sah ich oft zu, wie unsere kleinsten Mädchen nach dem Nachtessen gerne die Gelegenheit benützten, ihm im Vorbeigehen die Hand zu geben und Gute Nacht zu sagen, und mit welchem Wohlwollen er den Gruß erwiderte. Eine wahre Freude war es ihm, ihnen kleine Dienste zu erweisen, und es wird wohl schwerlich eines sein, das er mit seinem Anliegen abgewiesen hätte. Noch mehr konnte er den Knaben sein, die er zu sich in die Werkstatt als Lehrknaben nahm, und den Schullehrer-Zöglingen, die täglich in den Nachmittagsstunden bis 4 Uhr in seiner Werkstatt als Schuhmacher oder Buchbinder arbeiteten. Vielen unter ihnen wurde er, je nachdem sie Bedürfnis und Empfänglichkeit hatten, Lehrer und Seelsorger, und sie werden ihm in Zeit und Ewigkeit dankbar bleiben, nicht allein für seine guten Worte, sondern für sein stilles Beispiel der Gottseligkeit. Endlich sei noch bezeugt, dass er nicht nur demütig und wegwerfend von sich redete, sondern aufrichtig demütig, bescheiden, anspruchslos war und wirklich nichts aus sich machte, und nichts von sich hielt, daher auch so zufrieden und dankbar für jede Kleinigkeit, die man ihm erwies. Und obgleich er bei weitem der älteste im Hause war seit meines Vaters Tode, so ist er doch seinen jungen Vorgesetzten, die bei seinem ersten Aufenthalte hier noch Knaben waren, willig untertan und gehorsam gewesen, obgleich ihm doch ohne Zweifel vieles nicht angenehm war.“

Kapitel 11

Feierabend

(Du kannst durch des Todes Türen träumend führen.)

Mit zunehmendem Alter nahm leider bei Meister Pippin das Gehör bedenklich ab; der Inspektor sah sich genötigt, einen Nachfolger für ihn zu suchen. Es dauerte lange, bis ein passender Mann gefunden wurde; die christlichen Erziehungsanstalten haben immer große Mühe, die richtigen Leute zu bekommen. Meist erlauben es die Verhältnisse nicht, dass solche Angestellte sich verheiraten; darum verlassen sie gewöhnlich ihren Posten schon nach wenigen Jahren wieder. Dann ist es leider auch gar nicht immer der Fall, dass mit der durchaus erforderlichen entschieden christlichen Gesinnung bei den Petenten sich auch die nötige erzieherische Begabung und die berufliche Tüchtigkeit verbindet. Bei Pippin war dies alles in seltener Harmonie vereinigt gewesen.

Endlich fand sich für ihn ein tüchtiger Nachfolger und, was fast ebenso wunderbar war, Pippin fand sich bereit, diesem seinen Posten abzutreten. Zu seiner Freude wurde ihm erlaubt, in der Anstalt zu bleiben bis an sein Lebensende; unter Beibehaltung seines geringen Lohnes durfte er das Gnadenbrot essen. Er konnte nun ganz nach Belieben arbeiten oder spazieren gehen, lesen, oder etwas „bäscheln“, wozu er ja natürlich Gelegenheit genug fand bei seinem bekannten Geschick zu allerlei Reparaturen. Es gab kein Gebiet der häuslichen Arbeit, worin der freundliche Alte sich nicht nützlich zu machen wusste, sei es als Sattler, Korbmacher oder Spengler. Oft nötigte ihn freilich sein Leiden zur Ruhe; sobald er aber davon frei war, konnte er nicht ohne irgend eine Beschäftigung bleiben.

So ging es bis zum Sommer des Jahres 1875, wo sich zu seinem alten Magenübel ein Asthma gesellte, offenbar herrührend von einer Lungenerweiterung. Das Atmen wurde ihm immer schwerer, seine Spaziergänge im Garten immer kürzer. Bei eintretendem Winter blieb er ganz im Zimmer und verbrachte einen großen Teil des Tages im Bette.

Es war vierzehn Tage vor Weihnachten des genannten Jahres, als nachts um 1 Uhr ein Schullehrerzögling, der die Wache bei dem alten, treuen Diener hatte, den Inspektor mit der Nachricht weckte, Meister Pippin liege im Sterben. Der Inspektor, der selbst schon längst nicht mehr gehen konnte, ließ sich durch zwei Zöglinge an das Sterbebett hinübertragen, begleitet von seiner Frau und seinem Bruder Nathan. Der Kranke röchelte schon, war aber noch bei vollem Bewusstsein. Er konnte allerdings nur noch lallen; seine Augen waren starr auf einen Punkt gerichtet, als sähe er etwas, was seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Herr Zeller rief ihm von Zeit zu Zeit ein Bibelwort zu; man merkte aber nicht, dass er etwas davon verstehe. Die etwas schwache Stimme vermochte eben sein Ohr nicht mehr zu durchdringen.

„Bruder Stöckli,“ sagte der Inspektor zu einem der Zöglinge, „du hast eine gute Bassstimme; dich muss er verstehen, wenn er überhaupt noch etwas verstehen kann. Sage mir einmal die Worte nach, die ich vorspreche und rufe sie ihm hart ins Ohr!“

„Ich freue mich im Herrn und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott!“

Der Bruder rief diese Worte dem Kranken ins Ohr. Und siehe da, Pippins Auge fing an zu leuchten, und er wiederholte ziemlich vernehmlich: „Ich .. freue .. mich“ -

„Denn Er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit bekleidet,“ fuhr der Inspektor fort und sein Dolmetscher wiederholte es.

Bei diesen Worten drehte sich der liebe Alte um, blickte seinen Tröster dankend an und bestätigte mit Kopfnicken das Gesagte; ja man merkte sogar, dass er den Satz mit einer kleinen Variation wiederholte: „Er .. hat .. mich .. eingewickelt .. in .. das Gewand .. Seiner .. Gerechtigkeit!“ - „Hallelujah!“ rief Herr Zeller. „Ja,“ setzte er hinzu: „Sie haben ihre Kleider gewaschen und helle gemacht im Blute des Lammes!“

Auch diese köstliche Wahrheit bestätigte der Alte mit leuchtenden Blicken, als sähe er schon die unzählbare Schar „derer, die des Lammes Thron, nebst dem Chor der Seraphinen, schon bedienen mit dem reinsten Jubelton.“

Die Umstehenden konnten sich nicht enthalten, das Lied zu singen, das in einem seiner herrlichen Verse diese selige Situation beschreibt und in der kräftigen, ursprünglichen Fassung, in welcher sie es sangen, also lautet:

Unter Lilien jener Freuden
Sollst du weiden,
Seele, schwinge dich empor!
Als ein Adler fleuch behende!
Jesu Hände
Öffnen schon das Perlentor.

Lass mich gehen, lass mich laufen
Zu dem Haufen derer,
Die des Lammes Thron,
Nebst dem Chor der Seraphinen
Schon bedienen
Mit dem reinsten Jubelton.

Löse, erstgeborner Bruder
Doch die Ruder
Meines Schiffleins, lass mich ein
In den sichern Friedenshafen,
Zu den Schafen,
Die der Furcht entrücket sein.

Nichts soll mir am Herzen kleben,
Süßes Leben,
Was die Erde in sich hält.
Sollt' ich noch in dieser Wüsten
Länger nisten?
Nein, ich eil' ins Himmelszelt!

Herzens-Heiland! Schenke Glauben
Deiner Tauben
Glauben, der durch alles dringt;
nach Dir girret meine Seele
In der Höhle,
Bis sie sich von hinnen schwingt.

O wie bald kannst du es machen,
Dass mit Lachen
Unser Mund erfüllet sei;
Du kannst durch die Todestüren
Träumend führen,
Und machst uns auf einmal frei.

Du hast Sünd' und Straf' getragen,
Furcht und Zagen
Muss nun ferne von mir gehn.
Tod, dein Stachel ist zerbrochen,
Meine Knochen
Werden fröhlich auferstehn.

Herzenslamm! Dich will ich loben
Hier und droben,
In der zartsten Liebsbegier.
Du hast Dich zum ew'gen Leben
Mir gegeben!
Hole mich, mein Lamm, zu Dir!

Der alte Pippin sollte es in der Tat erfahren, dass der Lebensfürst Jesus die Seinen durch des Todes Türen träumend führen kann. Zwar erholte er sich merkwürdigerweise nach dem Gesang und Gebet der Umstehenden in derselben Nacht noch einmal so weit, dass er selbst laut beten und danken konnte. Ja, zu seiner Verwunderung vernahm der Inspektor am Morgen, dass es ihm wieder auffallend besser gehe. Der Alte konnte während des Vormittags in seinem Bette aufsitzen und erzählte ganz munter von der lieblichen Erfahrung der Nacht. Er aß sogar noch zu Mittag. Bald nach dem Essen stellten sich jedoch die Vorboten eines neuen Anfalls wieder ein und er gab seiner Befürchtung Ausdruck, es möchte eine schwere Nacht geben. Doch der Herr machte es gnädig mit ihm. Nachmittags um 3 Uhr erhielt er den Besuch eines lieben Freundes aus der Nähe, der von dem Vorfall in der Nacht gehört hatte. - Meister Pippin richtete sich auf, um den Freund zu grüßen. In demselben Augenblick kam ein starker Anfall seines alten Magenleidens. Er entschuldigte sich noch, dass er nicht reden könne, sank ins Kissen zurück, tat noch einige schwere Atemzüge und …… hatte ausgelitten!

Zwei Monate fehlten noch, so hätte Pippin sein Alter hinieden auf 80 Jahre gebracht. Inspektor Zeller hielt ihm die Leichenrede; mit Wehmut, weil, wie er sagte, infolge seines Hinschieds ein Friedenskind und Segensmensch weniger in der Anstalt Beuggen sei, und das in einer Zeit, wo solche Gottesmenschen nur schwer zu ersetzen seien und ihre Lücken leicht offen blieben. Aber er gab doch auch seiner Freude Ausdruck darüber, dass der treue Knecht nun zu seines Herrn Freude habe eingehen dürfen und zwar mit der gewissen Hoffnung seiner Vollendung in der „ersten Auferstehung“. Sein Wunsch war, dass das Gedächtnis dieses Gerechten im Segen bleiben möge, und der Erfüllung dieses Wunsches will auch das nunmehr beendigte Büchlein dienen. Der Verewigte hat übrigens sich selbst noch dadurch ein Denkmal gesetzt, dass er der Anstalt, der er während seines Lebens so uneigennützig gedient hatte, nach seinem Tode durch sein Testament tausend Franken zukommen ließ, die er sich trotz seines geringen Lohnes und seiner Freigebigkeit zu erübrigen gewusst hatte.

Gehe hin, lieber Leser, und tue desgleichen, wenn es dir möglich ist! Die Anstalt Beuggen könnte es sehr gut brauchen. Wünschest du aber, dass dein Leben werde, wie Meister Pippins Leben und dein Ende seinem Ende gleich, so schöpfe auch du aus der Quelle, deren Wasser ins ewige Leben quillt und die er dir auf dem Titelblatt dieses Büchleins zeigt.

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