Murray, Andrew - Wachset in der Gnade - 21. Unter der Gnade.
Röm. 6,14.
Die Sünde wird nicht herrschen können über euch; sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade.
Gottes Gnade befreit nicht nur von der Sünde, sondern auch von dem Gesetz. Ja, um überhaupt von der Sünde befreien zu können, ist sie genötigt, erst von dem Gesetz zu befreien. Dass so viele Gläubige die Kraft der Gnade, von Sünde zu befreien, nicht recht kennen lernen, liegt hauptsächlich daran, dass sie nicht begreifen, dass sie von dem Gesetz frei sind. Aus diesem Grund aber wird uns hier vorgehalten, dass wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade stehen und dass infolgedessen die Sünde über uns nicht herrschen darf.
Was bedeutet nun der Ausdruck: „nicht unter dem Gesetz“? Wir wissen, was uns die Schrift über das Gesetz lehrt. „Das Gesetz sagt Röm. 10,5, Gal. 3,12: Der Mensch, welcher diese Dinge tut, wird durch dieselben leben,“ und dem gegenüber: „Verflucht sei ein jeder, der nicht bleibt in alle dem, was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, danach zu tun.“ Das Gesetz kommt also mit einer Forderung. Es fragt den Menschen nicht, ob er es tun kann. Es gibt ihm auch nicht die Kraft dazu. Es kennt auch kein Mitleid, wenn er hinter dem, was es gefordert, zurück bleibt. Nein, es besteht auf seinem Recht, es verlangt unerbittlich seine Strafe. Aus diesem Grund ist ein Leben unter dem Gesetz sehr schwer, ein stetes Nicht-erreichen, Sich-selbst-verurteilen und Zittern, eine stets neue Anspannung aller Kräfte und eine stets wiederkehrende Enttäuschung. Und ist einmal auf irgendeinem Punkt ein Fortschritt zu sehen, gleich entdeckt man neue Tiefen von Sünde. Auf diese Weise aber führt das Gesetz nicht zur Gerechtigkeit. Im Gegenteil, es vermehrt nur die Sünde und das Elend. Röm. 4,15; 5,20; 7,5 u. 8.
Nun war es die große Absicht des Herrn, welche ihn auf diese Erde führte und in den Tod trieb, uns diesem Stand unter dem Gesetz zu entziehen, Gal. 4,5 und unter eine völlig andere Ordnung zu stellen, unter die Gnade. Gnade und Gesetz haben zwar denselben Zweck. Sie wollen nämlich dem sündigen Menschen gegenüber die Gerechtigkeit Gottes handhaben und in ihm ein gerechtes Wesen herbeiführen. Allein, was den Weg betrifft, auf dem sie dies bewirken wollen, stehen Gnade und Gesetz schnurstracks einander gegenüber. Gottes Gnade fängt damit an, dem Menschen zu sagen, dass sie weiß, dass er nichts kann, dass sie darum auch nichts von seiner Kraft erwartet. Sie sagt, dass sie alles für ihn tun will. Sie sagt, dass sie jeden Augenblick alles in ihm vollbringen will, was nötig ist, um Gott zu gefallen. So kommt sie, so fängt sie ein neues Leben in ihm an, so übernimmt sie es auch, dieses Leben zu erhalten.
Welch' ein Unterschied zwischen dem Leben unter dem Gesetz und dem Leben unter der Gnade! Das Leben unter dem Gesetz ist das Leben eines Sklaven, welcher es seinem Herrn doch nie recht machen kann. Das Leben unter der Gnade ist das glückliche und sorgenfreie Leben eines Kindes, welches durch die Gnade mit wunderbarer Liebe versorgt und erzogen wird.
Jetzt ist die Kraft der Beweisführung erkennbar. Die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr unter der Gnade steht, welche mächtiger ist, als die Sünde, und sich dazu verpflichtet hat, euch die Herrschaft über die Sünde zu geben, wenn ihr euch nur ihr anvertraut.
Nun lässt sich erkennen, weshalb die Sünde noch über so viele Christen herrscht. Sie stehen noch immer halb unter der Gnade und halb unter dem Gesetz. Sie meinen, sie müssten nun mit Hilfe der Gnade unter dem Gesetz immer getreuer und besser leben. Sie haben Gott gegenüber noch immer das Gefühl, als sei er ein Herr, welcher mehr verlangt, als sie leisten können, ein Gefühl unendlichen Zurückbleibens. Infolge dieses Gefühls werden sie mutlos und machen sie sich selbst Vorwürfe. Sie wissen ja nicht, dass Gott sie ganz und gar der Aufsicht und Herrschaft des Gesetzes entzogen und sie vollkommen der Aufsicht und Herrschaft der Gnade unterstellt hat. Gar viele Gläubige wissen dies nicht, obwohl Gottes Wort es klar und deutlich lehrt. So ausdrücklich, wie geschrieben steht: Ihr seid der Sünde gestorben, Röm. 6,2.11; Ihr seid von der Sünde befreit (V. 22), ebenso ausdrücklich findet sich auch das Wort: Ihr seid dem Gesetz gestorben Röm. 7,4; Gal. 2,19. Ihr seid von dem Gesetz befreit. Röm. 8,5. Wie der Tod des Herrn Jesus uns von der Macht der Sünde befreite, ebenso befreite er uns von der Macht des Gesetzes. Gal. 2,19. Ein Gesetz, welches vollkommenen Gehorsam verlangt und jeden, der es nicht hält, unerbittlich verflucht, ist ungeeignet, den Menschen zu einem Diener Gottes zu machen. Darum macht Gott Seine Kinder von dem Gesetze frei.
Dies zu verstehen, denke man einmal an den Unterschied zwischen Inhalt und Form. Ich gebiete einem Menschen etwas. Da er nicht mein Knecht ist, weigert er sich, es zu tun. Ich ersuche ihn herzlich darum. Und er tut es gleich. Der Inhalt des Gebotes und des Ersuchens war derselbe, aber die Form war verschieden. So bleibt auch der Inhalt des Gesetzes bestehen, während nur die Form eine Veränderung erleidet. Der Gläubige steht nicht mehr unter dem Gesetz, welches uns um jedes Fehlers willen verflucht. Gott hat nun einen ganz anderen Plan mit uns. Sein Wille, den Er uns in dem Neuen Testament, in Christo kund tut, ist viel höher als Sein Wille, wie Er ihn in dem Alten Testament geoffenbart hat. Und doch können wir ihn erfüllen, weil wir unter der Gnade stehen. Die Gnade verlangt ja von dem Kind nicht mehr, als es tun kann. Sie macht das Herz durch den Geist von innen heraus willig. Hebr. 8,7-8 u. 10; Gal. 5,18; Röm. 8,4. Ja, die Gnade gibt die Kraft und wirkt selbst das Wollen und das Vollbringen.
Lieber Christ! Dass du dies Wort: „Nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade,“ annimmst, ist viel wichtiger für dich, als du denkst. In ihm liegt die Kraft der Verheißung: Die Sünde wird über dich nicht herrschen. Trag darum dies Wort betend mit dir herum und sprich es gläubig aus: „Die Sünde wird über dich, meine Seele, nicht herrschen, denn du stehst nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“
Dieses Wort ist lebendig. Es wird Leben wirken, eine Kraft ausströmen und dich das unbegreiflich selige Leben kennen lernen lassen, in welchem die Gnade durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben herrscht.
„Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen volle Genüge habt und reich seid zu allerlei guten Werken.“