Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Rückblicke - 3. Die Anwendung der Zeit.
(Den 27. Januar 1856.)
Meine Kräfte sind erschöpft, meine lieben Freunde, und ich habe mir die Frage vorgelegt, ob ich nicht dies Mal lieber schweigen sollte. Doch will ich Euch sagen, was ich Euch sagen wollte, indem ich mich nur darauf beschränke, die Gedanken bloß anzudeuten.
Einer der Punkte, welche den Christen, der sich seinem Ende nahe glaubt, beunruhigen oder ihn doch beunruhigen würden, wenn er nicht am Fuß des Kreuzes stände, ist die Art und Weise, wie er seine Zeit angewandt hat, und daraus folgt, dass er auch hierüber an seine im Leben bleibenden Brüder eine Ermahnung richten muss. Es steht geschrieben: „Kauft die Gelegenheit aus“ und diese Übersetzung ist genauer als die gewöhnliche „Kauft die Zeit aus.“ Auskaufen heißt nicht wiederkaufen, sondern mit allem Eifer kaufen: Kauft mit allem Eifer die Gelegenheit, welche Gott Euch bietet, denn es ist böse Zeit, und eine Gelegenheit, einmal verfehlt, kommt möglicherweise nicht wieder. Die gute Anwendung der Zeit an und für sich ist ein so erhabener Gedanke, dass er die Seele erschreckt; mehr Bescheidenheit liegt in dem Gedanken: ergreift eifrig die Gelegenheiten, welche Gott Euch bietet, je nachdem er sie Euch werden lässt. Wie viele Zeit, wie viele Gelegenheiten werden verloren aus Trägheit, Unglauben, Nachlässigkeit, Selbstsucht, Eigenwillen, Unentschlossenheit, durch Hang zur Sünde, und aus tausend andern Ursachen. Ich brauche mich dabei nicht aufzuhalten: es gibt keinen Christen, den sein Herz nicht darüber verurteilte, den sein Gewissen nicht in dieser Beziehung drückte! Ah! wie köstlich, wie hinreichend ist die Zeit, welche Gott uns gibt! Gott, der gerecht ist, misst die Zeit mit dem Werk und das Werk mit der Zeit, niemals gibt er uns ein gutes Werk zu tun, für das die Zeit uns mangelt, nie einen einzigen Augenblick in unserm Leben, wo wir nicht etwas Gutes zu tun hätten. Aber wie soll man dahin gelangen, die ganze Zeit so auszufüllen und wenigstens einen Teil des unendlich vielen Guten zu tun, welches ein einziger Mensch tun könnte, wenn er die Regel befolgte: „Alles was dir vor Händen kommt zu tun, das tue frisch,“1) und wenn er beständig damit beschäftigt wäre, dem Herrn zu dienen? Darüber möchte ich Euch zwei oder drei Andeutungen geben, und dann Eurem Gewissen die Sorge überlassen, sie weiter auszuführen.
1) Wir müssen von dem Gedanken durchdrungen sein, dass wir nicht uns selbst angehören, und dass unsere Zeit uns nicht mehr angehört, als alles Übrige. Unsere Zeit gehört Gott und folglich müssen wir immer bei Gott suchen, was wir zu tun haben, um die Zeit, welche er uns gibt, auszufüllen, und den Gelegenheiten, welche er uns bietet, zu entsprechen. Ich versichere Euch, die Krankheit gibt hierüber ganz kostbare Lehren, darüber meine ich, dass wir nicht uns selbst, sondern Gott angehören. Unser Herz ist von Natur, und da sitzt gerade die Wurzel der Sünde, dazu geneigt, sich selbst als den Mittelpunkt und das Ziel des Lebens hinzustellen. Wenn man aber krank ist und leidet, wie könnte man da den Trost finden, wenn man in sich selbst das Ziel seines Lebens suchte? Das Ziel des Lebens ist dann vollständig verfehlt. Die Krankheit lehrt uns das Ziel unseres Lebens anderwärts suchen, sie lehrt, dass wir leben, nicht um auf Erden glücklich zu sein, sondern dass wir leben, um Gott zu verherrlichen, was wir in der Krankheit ebenso gut tun können, wie in der Gesundheit, und oft noch besser. Aus der Krankheit, aus allen Leiden des Lebens und aus dem ganzen Wort Gottes lasst uns also die Lehre ziehen, dass unsere Zeit Gott gehört, und dass es sich für uns nur darum handelt, sie zu seiner Ehre anzuwenden.
2) Lasst uns immer mit Eifer die Gelegenheiten ergreifen, welche Gott uns bietet: sie werden uns nicht mangeln; und wir werden vor uns ein Leben finden, ganz durchwirkt mit guten Werken, welche ganz für uns vorbereitet sind, in welche wir nur hineinzugehen haben, welche sich so leicht aneinander reihen und gegenseitig hervorrufen werden, dass unser Leben nur ein gutes Werk, nur ein Gehorsam sein wird, und folglich, wie eben gesagt wurde, nur Friede und Freude im heiligen Geist. Man muss deshalb die Augen beständig geöffnet und auf Gott gerichtet haben und zu ihm sprechen: Herr, hier bin ich, was willst du dass ich tun soll? und wenn etwas vollbracht ist: Herr, was willst du dass ich nun tun soll? es darf nie ein Augenblick sein, der nicht von dem Gehorsam ausgefüllt wäre, den wir Gott schuldig sind. Gott wird uns im rechten Maß Gelegenheit bieten, unaussprechlich viel Gutes zu tun. Man kann nicht berechnen, wie viel Gutes in dem Leben eines einzigen, so gesinnten Menschen Raum finden könnte; dies bezeugt der Mensch Jesus Christus. In irdischen Dingen sind Menschen, die am meisten gewirkt haben, immer diejenigen gewesen, welche nach dem Grundsatz lebten, die Gelegenheit zu ergreifen. Wenn Ihr mit Aufmerksamkeit das Leben der Menschen betrachtet, welche zahlreiche Werke von weitgreifender Bedeutung verrichtet haben, wie z. B. Calvin, Luther, Bossuet, so werdet Ihr finden, dass sie taten, was sich ihnen darbot, gerade wie es sich ihnen auf ihrem Weg darbot; ihr werdet finden, dass es Männer sind, welche sich durch die Gelegenheit ganz leise haben rufen lassen, um ihre Werke zu vollbringen; wie Bossuet durch das Bedürfnis bei der Erziehung des Dauphin dazu kam, seine besten Werke zu verfassen; wie Calvin und Luther ihre besten Schriften verfasst haben, durch die Umstände dazu veranlasst. Dagegen die gewöhnlichen Menschen, welche wenig tun, sind diejenigen, welche die Gelegenheit nicht zu ergreifen wissen, um davon Gebrauch zu machen; sie hätten vielleicht gerade ebenso viel tun können, als die Menschen, welche Viel getan haben, aber ihnen fehlte die Kunst, die Gelegenheit zu ergreifen; und die wahre Kunst, die Gelegenheit zu ergreifen, ist die christliche, die Augen immer auf den Herrn gerichtet zu haben, jedes Werk zu nehmen, wie er es uns darbietet, und wenn es vollbracht ist, an ein anderes zu gehen. Es ist erstaunlich, was ein Menschenleben auf diese Weise vollbringen kann, wenn es einfach dem Weg folgt, den der Herr einem Jeden von uns vollkommen eröffnet hat.
3) Man muss nach einer festen Ordnung und Methode handeln, ohne dem Zufall die Anwendung der Zeit zu überlassen, welche Gott uns gibt. Ich habe vor einigen Tagen gesagt, wir sollen uns unseren Plan nicht selbst machen; aber es ist kein Widerspruch, wenn ich jetzt sage, dass wir nach einer Methode handeln müssen, vorausgesetzt, dass diese Methode in dem Herrn gewählt ist. Um zu tun, was Gott uns zu tun gibt, müssen wir eine Methode, eine Regel hineinbringen. So ziemt es sich z. B., dass wir bestimmte Stunden haben zum Aufstehen und zur Arbeit, dass wir, soweit es möglich ist, pünktliche Menschen seien in den Stunden unserer Mahlzeiten und aller unserer verschiedenen Beschäftigungen: das Leben ist dann viel einfacher, viel ruhiger, viel leichter auszufüllen; es gleicht einem gut zubereiteten Rahmen, in welchem der Herr nun nur noch zu handeln hat. Die Menschen, welche am meisten getan haben, sind solche, die mit Ruhe und Festigkeit ihr Leben zu regeln verstanden, besonders wenn sie mit dieser Festigkeit eine Geistesfrische, eine Seelenwärme verbinden konnten, die nicht immer mit einem solchen Geist der Ordnung und Methode Hand in Hand geht, die aber, wenn sie mit ihm verbunden ist, einen Menschen in Stand setzt, das Erstaunlichste zu tun. Man erzählt, dass der Philosoph Kant sich manchmal die Freude machte, seinen Bedienten zu rufen und ihn zum Zeugen zu nehmen, dass er seit 40 Jahren jeden Tag um 4 Uhr aufgestanden wäre: stellt Euch nun vor, was ein Mensch tun kann, der alle Morgen um 4 Uhr aufsteht! Noch mehr, wieviel wirkt schon die Macht der Methode, ganz abgesehen von der Stunde des Aufstehens! Schon dadurch allein, dass man eine bestimmte Stunde zum Aufstehen hat, wie viel mehr Zeit hat man nicht für den Dienst des Herrn aus dem ganz einfachen Grund, dass ich, wenn ich alle Tage zu einer bestimmten Stunde aufstehe, diese Stunde mit Gebet vor Gott geregelt habe, zugleich in christlicher Klugheit und Weisheit; wenn ich dies aber dem Zufall überlasse, so hängt die Stunde meines Aufstehen von dem Antrieb des Augenblickes ab, d. h. von vielen Umständen, deren ich hätte Herr sein können: von der Trägheit, von dem Verlangen „noch ein wenig zu schlummern, die Hände noch ein wenig in einander zu schlagen; und die Armut wird dich übereilen wie ein Fußgänger“2), nicht nur die Armut an Geld, sondern an Arbeit und Geist und an Gottesdienst. Also die Methode, ein in Frieden vor dem Herrn geordnetes Leben, ist etwas höchst Wichtiges, um es zu lernen, viel für den Dienst Gottes zu tun.
Und nun genug dieser Überlegungen! lasst uns Leib und Geist so bewahren, dass sie einem solchen guten Gebrauch der Zeit und der Anwendung unserer Gaben nach Gottes Willen kein Hindernis in den Weg legen! Die Traurigkeit, die Ungleichheit der Gemütsstimmung, der Zug des Eigenwillens, die Selbstsucht, das Verlangen nach Ruhm vor den Menschen, sind ebenso viele Hindernisse, die uns umgeben, uns unaufhörlich reizen und über die wir ernstlich suchen müssen zu triumphieren. - Und auch den Leib lasst uns nicht vernachlässigen! Eine schlechte Gesundheit, ein schwacher Körper ist oft ein großes Hindernis bei dem Vollbringen unseres Werkes vor Gott. Wir müssen es hinnehmen, wenn Gott es schickt; aber es gehört mit zu unserer Pflicht vor Gott, auch unserem Körper die nötige Erholung zu verschaffen und die nötige Vorsicht anzuwenden, um ihn stark zu machen zum Dienst und zur Ehre Gottes. Dieser Gedanke erhebt und heiligt Alles. Es gibt viele Menschen, die viel mehr zur Ehre Gottes hätten tun können, als sie getan haben, wenn sie sich nicht einer mehr frommen als vernünftigen Tätigkeit hingegeben hätten, die sie schon in früher Jugend aufgerieben hat; und diejenigen, welche frühzeitig sterben, haben zu untersuchen, ob sie sich nicht Vorwürfe zu machen haben; ob sie nicht gewisse einfache Vorsichtsmaßregeln vernachlässigt haben, die an sich leicht, aber schwer sind beharrlich durchzuführen, und die ihnen erlaubt hätten, viel länger im Dienst des Herrn zu arbeiten. Vor Allem aber lasst uns Geist und Seele kräftigen und Alles vermeiden, was dem Werk, das Gott in uns und durch uns vollführen will, Eintrag tun könnte.
Meine Freunde, Keiner von uns kennt die Zeit, welche Gott uns noch lässt, aber wir kennen die, welche er uns gegeben hat und wieviel Vorwürfe wir uns über den Gebrauch derselben zu machen haben. Lasst uns die, welche noch vor uns ist, ergreifen, stark oder schwach, krank oder gesund, lebend oder sterbend; wir haben einen Heiland, bei dem jeder Augenblick ausgefüllt war mit Gehorsam gegen Gott; lasst uns in seinen Fußstapfen wandeln zur Herrlichkeit durch das Kreuz, so werden wir zuletzt das liebliche Wort hören: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über Wenigem getreu gewesen; ich will dich über viel setzen, gehe ein zu deines Herrn Freude.“3)