Monod, Adolphe - Die Heiligung durch unverdiente Gnade
Römer 6,15
„Sollen wir sündigen, dieweil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?“
Man hat dem Evangelium einen Einwurf gemacht, auf den, da er einen Schein von Wahrheit hat, etwas erwidert werden muss. Man hat gesagt: das Evangelium sei der Sittlichkeit schädlich.
Wollen wir diesen Einwurf verstehen und würdigen, so müssen wir unserem Geist die Heilslehre des Evangeliums vergegenwärtigen; ich will sie euch in einem kurzen Abriss in Erinnerung bringen.
Gott hat dem Menschen zuerst die Rechtfertigung durch das Gesetz dargeboten. Er hat ihm ein Gesetz gegeben und zu ihm gesagt: Wenn du das Gesetz hältst, will ich dich belohnen und dir das ewige Leben geben; wenn du aber das Gesetz übertrittst, will ich dich strafen und sich zum ewigen Tod verdammen. Der Gehorsam sollte vollkommen sein; wer ein einziges Gebot übertrat, war des ganzen Gesetzes schuldig.
Alle Menschen haben gesündigt, das heißt, sie haben Gottes Gesetz übertreten; deshalb haben alle Menschen ohne eine einzige Ausnahme nach den Bedingungen der Rechtfertigung durch das Gesetz verdient, dass sie verdammt werden; und würden sie es, so hätte niemand ein Recht, sich darüber zu beschweren.
Als aber Gott sah, dass auf dem ersten Weg der Rechtfertigung das ganze menschliche Geschlecht ohne Hilfe verloren sei, hat er einen anderen eröffnet: den der Rechtfertigung aus Gnaden, der wesentlich von dem früheren verschieden ist. Da dies Mal Gott den Menschen retten will, in dem Menschen aber nicht den Grund zu seiner Rettung finden kann, so nimmt er diesen Grund aus sich selbst und befasst sich allein mit der Mühe, ihm sein Heil zu erwerben. Jesus Christus, der Sohn Gottes und des Menschen Sohn, erscheint zu diesem Zweck auf der Erde, erfüllt das ganze Gesetz und verdient dadurch das ewige Leben. Darauf stellt er sich zwischen den sündigen Menschen und den heiligen Gott: die Sünden des Menschen steigen nicht mehr bis zu Gott hinauf, sie bleiben stehen bei Jesus Christus; die Heiligkeit Gottes steigt nicht mehr bis zum Menschen herab, sie bleibt stehen bei Jesus Christus; in ihm begegnen sich diese beiden unversöhnlichen Gegner; durch ihr Zusammentreffen erfolgt ein furchtbarer Sturm, der mit seiner vollen Gewalt über dem Haupt des Mittlers losbricht. Dadurch wird Gott mit dem Menschen versöhnt und behandelt ihn fortan, als wäre er eben so heilig als Jesus Christus selbst.
Aber dieses Heil ist nicht für alle: es ist nur für die, welche an Jesum Christum glauben, das heißt für die, welche alle Hoffnung auf Heil aus eigenen Kräften aufgeben und sie allein auf Jesum Christum werfen; welche ihn mit denselben Gefühlen als ihren Heiland ergreifen, wie ein Mensch, der im Begriff ist, vom Wasser verschlungen zu werden, die Hand ergreift, die ihm zum Herausziehen entgegengestreckt wird.
Auch will Gott, obgleich er dem Sünder vergeben will, ihn doch nicht so, wie er ist, in sein Reich aufnehmen; deshalb schenkt er ihm, auf dass sein Werk nicht unvollendet bleibe, mit der Vergebung der Sünden eine zweite Gnade, ein umgewandeltes Herz. Er schafft in ihm ein neues Herz, aus welchem ein neues Leben hervorquillt, so verschieden von dem alten, dass man den Übergang vom einen zum anderen eine neue Geburt nennt.
Der Glaube und das wiedergeborene Herz sind Gaben Gottes. Keine menschliche Anstrengung kann sie ihm verschaffen: Gott muss sie durch seinen Geist ihm schenken; und so kommt im Gnadenwerk alles von Anfang bis zu Ende von Gott, und die Mitwirkung des Menschen, so sehr sie erforderlich ist, gibt weder Recht noch Verdienst.
Das ist das Evangelium. Der Einwurf aber ist folgender: Diese Lehre ist gefährlich. Überzeugt ihr einen Menschen, dass Jesus Christus ihm, wenn er glaubt, ein zubereitetes und erworbenes Heil verschaffe, wobei sein persönliches Verdienst nichts gilt, so steht zu befürchten, dass er, weil er keine Verdammnis mehr fürchtet, noch von guten Werken Gewinn sieht, in Sicherheit und Lauheit verfalle und nach dem Grundsatz lebe: ich will sündigen, denn ich stehe nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.
Ihr seid meine Zeugen, dass ich dem Einwurf seine ganze Kraft lasse. Man hat ihn überall und zu allen Zeiten dem Evangelium entgegengestellt; man braucht ihn heute gegen alle gläubigen Prediger; man brauchte ihn gegen die Apostel, sonst hätte Paulus ihn nicht bekämpft; man brauchte ihn gegen Jesus Christus selbst, den man beschuldigte, er sei der Freund der Zöllner und Sünder. Ich wende mich an diejenigen unter euch, die ihn heute erneuern, um ihn in meiner Rede zu widerlegen; nicht um des Evangeliums willen; das bedarf weder meiner Verteidigung noch eures Lobes; sondern um euretwillen, denn ihr bedürft zu eurer Erlösung des Evangeliums.
Um aber dieser Rede das Ansehen einer Kontroverspredigt zu nehmen, ziehe ich es vor, den Einwurf nicht unmittelbar zu widerlegen, sondern ihm eine Gegenbehauptung entgegenzustellen, vor welcher der Einwurf von selbst fallen wird: weit entfernt nämlich, dass die guten Werke durch den Glauben an die Gnade, welche das Evangelium darbietet, und welche ich der Kürze wegen unverdiente Gnade nennen will, verhindert werden, ist im Gegenteil kein einziges gutes Werk einem Menschen möglich, der nicht an die unverdiente Gnade glaubt. Das will ich jetzt beweisen.
Ich könnte diesen Satz gleich durch das Ansehen der heiligen Schrift begründen. Sie erblickt einen so engen Zusammenhang zwischen den guten Werken und der unverdienten Gnade, dass sie die Gnade als einzigen Grund der guten Werke darstellt und die guten Werke als notwendige Folge der Gnade. Sie erklärt: „denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte“1) dich liebe, dir gehorche; um „den Weg der Gebote Gottes zu gehen2), muss „zuvor Gott das Herz trösten,“ muss man sich in Frieden mit Gott fühlen. - Ein Mensch, in dem sich alle christlichen Tugenden: „Mäßigkeit, Geduld, Gottseligkeit, brüderliche Liebe“ vereinigt finden, beweist, dass er „nicht faul noch unfruchtbar gewesen ist in der Erkenntnis Jesu Christi; der aber solches nicht hat, der ist blind und vergisst der Reinigung seiner vorigen Sünden“3). „Die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade“4). „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünden nicht mehr gedenken“5). „Gott hat uns erwählt in Jesus Christus, dass wir würden heilig und unsträflich“6). - „Jesus Christus hat unsere Sünden selbst geopfert an seinem Leib auf dem Holz, auf dass wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben“7). „Ihr seid teuer erkauft. Darum, so preist Gott an eurem Leib und in eurem Geist, welche sind Gottes“8). Und um nicht die ganze Bibel, die von Anfang bis zu Ende von dieser Lehre durchdrungen ist, anzuführen, lasst mich nur noch die Belehrung des Apostels Paulus an Titus erwähnen, in welcher diese ganze Lehre zusammengefasst ist. Paulus ermahnt den Titus, dass er predige: „Wir waren auch weiland unweise, ungehorsame, irrige, dienende den Lüsten und mancherlei Wollüsten; da aber erschien die Freundlichkeit Gottes nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig, auf dass wir durch desselbigen Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens nach der Hoffnung;“ er schließt dann so: „Solches will ich, dass die fest lehrst, auf dass die, so an Gott gläubig sind geworden, in einem Stand guter Werke gefunden werden“9).
Dies ist mehr als nötig, um zu beweisen, dass nach der Bibel der Glaube an die unverdiente Gnade die guten Werke nicht verhindert, sondern sie im Gegenteil hervorbringt und zwar er allein. Dieser Beweis müsste uns genügend sein. Es ist genug, dass Gott sagt: das ist der Zusammenhang des Glaubens mit den Werken; wir müssten dies aufs Wort glauben, ohne dass er uns Rechenschaft von seinen Gründen zu geben brauchte; zuweilen aber lässt er sich herab, uns einer Erklärung zu würdigen über das Wie und das Warum, und das tut er auch hier.
Er hat Paulus beauftragt in dem Kapitel, woraus mein Text genommen ist, den Einwurf: „Sollen wir sündigen, dieweil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?“ zu widerlegen, indem er uns zeigt, dass derselbe aus Unbedachtsamkeit und Unwissenheit herrühre. Wir wollen diesem Vorbild folgen und durch Schlüsse dartun, was ich soeben auf die Autorität gestützt habe, dass nämlich kein einziges gutes Werk irgend einem Menschen möglich sei, der nicht an die unverdiente Gnade glaubt.
Zuvörderst: wisst ihr, was ein gutes Werk ist? Die Bibel wie jede gesunde Philosophie lehrt darüber wie folgt: Wollen wir unterscheiden, ob ein Werk gut oder nicht gut sei, so müssen wir nicht bei dem Schein stehen bleiben, noch das Werk nach seinem äußeren Aussehen beurteilen wollen: wir müssen ins Herz hinabsteigen und das Werk nach der inneren Gesinnung beurteilen, aus der es hervorgeht und es ist. Ein Werk ist nur gut, wenn es aus einer guten Gesinnung hervorgeht. Und was ist eine gute Gesinnung? Es gibt nur eine Grundgesinnung, die in sich selbst und durchaus gut ist, das ist die Liebe zu Gott. Alles, was Liebe zu Gott ist oder Anwendung der Liebe zu Gott, ist gut; alles was nicht Liebe zu Gott ist oder Anwendung der Liebe zu Gott, ist nicht gut. Ein Werk ist also gut, nur wenn es aus der Liebe zu Gott hervorgeht. Fragt man euch also, ob ein Werk der Wohltätigkeit, eine rechtschaffene Rede, eine Tat der Aufopferung, ein über die Neigung errungener Sieg gute Werke sind, so müsst ihr antworten: wir wissen es noch nicht; sie können gut sein oder auch nicht; um das zu wissen, müssen wir die Gesinnung kennen, aus der sie hervorgegangen sind. Ist die Liebe Gottes ihre Triebfeder, so ist die Ausübung der Barmherzigkeit, die rechtschaffene Rede, die Tat der Aufopferung, der über die Neigung errungene Sieg ein gutes Werk; ist die Liebe Gottes ihre Triebfeder nicht, so ist ungeachtet allen Anscheins diese Übung der Barmherzigkeit, diese rechtschaffene Rede, diese Tat der Aufopferung, dieser über die Neigung errungene Sieg kein gutes Werk im Sinn des Evangeliums.
Ein gutes Werk ist also ein solches, dessen Triebfeder die Liebe zu Gott ist. Ist ein solches Werk euch, die ihr nicht an die unverdiente Gnade glaubt, möglich? Die Bibel antwortet mit nein: denn ihr könnt nicht Gott lieben; und ihr könnt dies nicht, denn da ihr euch als Sünder fühlt und seine Verzeihung noch nicht erhalten habt, so steht ihr vor Gott wie ein Verbrecher, der sein Todesurteil erwartet, vor seinem Richter.
Habt ihr nämlich auch nicht das Sündenbewusstsein, welches nur durch den heiligen Geist kommt, so habt ihr doch ein allgemeines Gefühl, dass ihr nicht gesetzmäßig handelt, und dass ihr die Strafen Gottes verdient hat. Deshalb fühlt ihr euch ihm gegenüber nicht wohl; je näher ihr euch ihm fühlt, desto mehr sucht ihr euch von ihm zu entfernen, ihr fürchtet ihn, ihr flieht ihn; „ihr hasst ihn,“ sagt die Schrift. Dieser Vorwurf erscheint euch übertrieben, hart und ungerecht; vielleicht sagt sogar eine aufrichtige, denkende Seele: nein, das ist nicht der Fall; ich hasse Gott nicht; ich liebe ihn nur nicht genug, das mag sein, aber ich liebe ihn dennoch: ich denke gern an ihn, ich preise den Reichtum seiner Schöpfung und die Gaben seiner Vorsehung; ich hoffe auf ihn, bete zu ihm und fühle mich in Frieden mit ihm. Ach, es ist nur zu leicht nachzuweisen, dass die Bibel und ihr, dass ihr beide die Wahrheit sprecht, die Bibel, indem sie sagt, dass ihr Gott hasst, und ihr, indem ihr sagt, dass ihr Gott liebt. Hier habt ihr die Auflösung des Rätsels: es gibt zwei Götter; den wahren Gott, der den Menschen, und den falschen Gott, den der Mensch geschaffen hat. Der wahre Gott, der den Menschen erschuf, verlangt von diesem einen vollkommenen Gehorsam; er hält den, der das ganze Gesetz erfüllt, für einen unnützen Knecht, „und der ein einziges Gebot übertreten hat, ist des ganzen Gesetzes schuldig“; er will nicht, dass eine einzige Sünde unbestraft bleibe, dass ein sündiger Mensch den heiligen Gott sehe und lebe. Der falsche Gott, den der Mensch erschuf, ist so, wie er seiner bedurfte, um ruhig in seinen Sünden leben und sterben zu können; es ist ein Gott nach dem Bild des Menschen gemacht: er ist umgänglich, nachgiebig, richtet sich nach den menschlichen Schwächen, hat nicht den Mut, sie zu verdammen; er ist ein gefälliger Gott. Wenn die Bibel erklärt, dass ihr Gott nicht liebt, so will sie damit nicht sagen, dass ihr den falschen Gott, den gefälligen Gott nicht liebt; denn da er eure Schöpfung ist, muss er auch notwendig nach eurem Geschmack sein, und es ist euch unmöglich, ihn nicht zu lieben; vielmehr will die Bibel sagen, dass ihr den wahren Gott, den heiligen Gott nicht liebt, und den solltet ihr doch lieben, denn er ist es, der euch richten wird. Diese Behauptung erscheint euch um so falscher, je wahrer sie ist; ihr sträubt euch anzuerkennen, dass ihr den heiligen Gott nicht liebt, weil ihr euch so viel Mühe gegeben habt, von ihm euch zu entfernen, dass ihr am Ende selbst seinen Namen und sein Dasein vergessen habt; das ist euch so wohl gelungen, dass ihr jetzt, wenn ihr von ihm sprechen hört, sofort an euern falschen Gott denkt; und weil ihr diesen liebt, so bildet ihr euch in Folge dieser verderblichsten aller Begriffsverwirrungen ein, dass ihr den wahren Gott liebt. Wenn euch der wahre Gott mit seiner wahren Sprache, seinem wahren Gesetz, seinem wahren Gericht nur einen Augenblick erschiene, so würde das hinreichen, euren Irrtum zu zerstören. In Gegenwart des Heiligen der Heiligen, durchschaut bis in die innerste Tiefe euers Herzens von seinem durchdringenden, furchtbaren Blick, ganz angefüllt erfunden mit allem, was seinen ewigen Zorn auf sich zieht, würdet ihr erzittern und fliehen, aber keine Zufluchtsstätte finden, flöhet ihr noch so weit; ihr würdet euch in die Erde zu verbergen suchen und ausrufen: „Berge, fallt über uns, Hügel, bedeckt uns!“
Wollt ihr aus der Geschichte lernen, dass dies das Gefühl des sündigen Menschen sein würde, wenn er den heiligen Gott sähe? Betrachtet den Menschen am Tag seines ersten Falles, als er sich noch nicht so weit von Gott entfernt hatte, dass er ihn nicht wenigstens noch erkennen konnte. Derselbe Adam, der, ehe er gesündigt hat, in Eden mit aufgerichtetem Haupt und ruhigem Herzen einherschritt, was tut er, nachdem er gesündigt hat? er verbirgt sich eilig im Gehölz; und als ihn in seinem Zufluchtsort die ihm noch bekannte Stimme dessen erreicht, der noch vor kurzem sein Vater war, fortan sein Richter sein wird: „Adam, wo bist du?“ da antwortet er mit Zittern: „Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich, darum versteckte ich mich“10). Ebenso würdet auch ihr, wenn ihr wie Adam nur noch den ersten Schritt getan hättet und wenigstens den Gott noch erkennen könntet, den ihr beleidigtet, aus Furcht euch verbergen. Auch jetzt empfindet ihr, so wie ihr seid, dieselbe Furcht, wenn ihr sie auch nicht klar unterscheidet; auch jetzt verbergt ihr euch nicht freilich wie Adam in einem Gehölz, aber in den Finsternissen euers Herzens; und da ihr nicht wagt, Gott zu sehen, so wenig als euch einzugestehen, dass ihr Gott nicht sehen wollt, so erfindet ihr einen Abgott, den ihr zwischen ihn und euch stellt und mit seinem Namen benennt.
Das ist der Zustand eines jeden, der nicht an die unverdiente Gnade glaubt. Könnt ihr in diesem Zustand ein gutes Werk tun? Wie? ein gutes Werk mit zitterndem Herzen, mit unruhigem Gewissen, vor einem Gott, den ihr flieht! Da ist kein Friede mehr und keine Liebe. Hätte Gott dem Adam, als sich dieser im Gehölz verbarg, befohlen, ihn zu lieben und ihn zu bitten, ihm zu danken und ihm zu dienen, glaubt ihr, dass er dies gekonnt hätte? Er konnte zu Gott sprechen: ich liebe dich, aber es war von der Zeit an eine Lüge; er konnte auf den Knien zu ihm reden, aber ohne den Glauben des Gebetes; er konnte sich seiner Wohltaten erinnern, aber ohne Erkenntlichkeit; er konnte ihm wohl mit den Händen, aber nicht mit dem Herzen dienen; und hätte Gott darauf bestanden, gedrungen, gedroht, so würde dies nur dazu geführt haben, Adam durch das Gefühl seiner so schuldbeladenen wie unbesiegbaren Ohnmacht aufzureizen und so seine Furcht, seine Entfremdung, seinen Ungehorsam zu steigern; so hätte das Gesetz selbst ihn immer mehr zum Feind des Gesetzes gemacht. Ebenso auch ihr. Wenn euch Gott in eurem jetzigen Zustand befiehlt, ihr sollt ihn lieben, ihm gehorchen, gute Werke tun, barmherzig, ergeben, geduldig sein, - so befiehlt er euch etwas Unausführbares. Ihr könnt euch wohl dem Befehl unterwerfen, aber nicht ihm gehorchen; ihr könnt wohl Opfer bringen, aber ohne Selbstverleugnung; ihr könnt freigebig sein, aber ohne Barmherzigkeit; leiden, aber ohne Geduld; eure Neigungen besiegen, aber ohne Liebe; und wenn Gott in euch dringt, wenn er droht, so wird dies nur dahin führen, euch zu erschrecken, euch aufzubringen, euch immer tiefer in euern Ungehorsam zu versenken, wie geschrieben steht: „und es befand sich, dass das Gesetz mir zum Tod gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war“11). So werdet ihr aus der Furcht in die Sünde, aus der Sünde in die Furcht fallend euch immer mehr in euern Ungehorsam verwickeln; ihr werdet nicht nur Gott hassen, sondern dieser Hass wird immer größer werden; euer Leben wird eine beständige Sünde sein; so wie ihr seid, werdet ihr ewig leben können, ohne zu einem einzigen guten Werk fähig zu sein; und in euers Herzens Härtigkeit werdet ihr dahin kommen, solche Werke mit diesem Namen zu belegen, die ihr aus Eigennutz getan habt, Werke der Furcht, Sklavenwerke, die einzigen, die ihr zu tun vermögt.
Wie aber kann man nun den Menschen, der zu jedem guten Werke unfähig ist, dazu tüchtig machen? Ohne Zweifel dadurch, dass man das Hindernis hinwegräumt, welches die guten Werke unmöglich machte. Er konnte sie nicht vollbringen, denn er liebte Gott nicht; und Gott liebte er nicht, denn weil er seine Strafen verdient hatte, so hatte er Furcht vor ihm. Diese Furcht muss von ihm genommen, diese Strafe muss ihm erlassen, ihm muss vergeben werden: und eben dies geschieht durch das Evangelium. Die Vergebung muss aber der Art sein, dass sie ihm gänzlich und auf immer seine Furcht benimmt. Wird dem sündigen Menschen die Vergebung angeboten unter der Bedingung, dass er, nun ihm einmal verziehen ist, das ganze Gesetz vollkommen erfülle, so hilft ihm die Vergebung nichts, denn sie lässt ihn in der Furcht, dass er aufs Neue sündige und so der Vergebung verlustig gehe. Oder wenn ihr dem sündigen Menschen seine Vergebung anbietet, aber unter der Bedingung, dass er gewisse gute Werke tun müsse, und erst nachdem er diese getan habe, so nützt ihm diese Vergebung nichts, denn sie lässt ihm die Furcht; es ist, als wolltet ihr seiner spotten: ihr legt ihm eine Bedingung auf, die er nicht erfüllen kann; gerade, als wenn ihr einem Blinden versprächt, ihm den Star zu stechen unter der Bedingung, dass er wenigstens gewisse Gegenstände sehen müsse, und erst nachdem er sie gesehen habe. Es muss alles, es muss ohne Bedingung, ohne Rückhalt, ohne Aufschub, es muss ein für allemal vergeben werden mit einer frei geschenkten Vergebung, bei der es durchaus nicht auf eigenes Verdienst ankommt. Und eben auf diese Weise verzeiht, wie das Evangelium lehrt, Gott dem, der an Jesus Christus glaubt: „Mir hast du Arbeit gemacht in deinen Sünden; aber ich, ich tilge deine Übertretung um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“ „Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ „So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretung von uns sein.“ „Er wird alle unsre Sünden in die Tiefe des Meeres werfen. Er vergibt die Sünde und erlässt die Missetat“12). - Aber ist es denn wirklich wahr? Ist es wahr, dass Gott durch eine von der menschlichen so verschiedene Gerechtigkeit den Gehorsam und die Leiden eines anderen mir anrechnet? dass mir um der Liebe Jesu Christi willen ohne Vorbehalt, so wie ich bin, gänzliche, unbedingte, ewige Vergebung bewilligt, dass mir das ewige Leben, dessen ich mich unwürdig gemacht habe, aus freier Gnade durch den Glauben geschenkt wird? Ja, es ist wahr, wenngleich ich nie etwas Ähnliches hätte fassen noch hoffen können. Es ist wahr, denn Gott hat es gesagt, und ich glaube seinem Worte. O der guten, o der herrlichen Botschaft! Wie sehr bedurfte ich gerade ihrer! Jetzt ist ihm abgeholfen, jenem unbestimmten Verlangen, das mich schon so lange gequält hat; ich selbst wusste nicht, was mir fehlte, aber Gott wusste es und hat es mir gegeben. Ich hatte keinen Frieden mit Gott; er hat ihn mir geschenkt, denn er hat mir vergeben. Mit welch anderem Auge schaue ich heute zu ihm auf! wie wohl fühle ich mich, wenn ich seiner gedenke! Welches Gefühl habe ich denn bis dahin gegen ihn gehegt! war es nicht Gleichgültigkeit, Undankbarkeit, Hass? Hätte ich ihn lieben können, als er mich verdammte? Wie aber wäre es möglich, dass ich ihn jetzt nicht liebte, da er mir vergeben hat? ja, je schuldiger ich bin, und je mehr er mir vergeben hat, um desto mehr liebe ich ihn. Ich will diesen versöhnten Gott leben, ich will mich ihm nähern; er ist mein Heil, und ich kann, wenn ich dem Trieb meiner Dankbarkeit und Liebe folgen will, ihm nicht nahe genug kommen. Auch was von ihm herstammt, ist mir alles teuer: ich liebe sein Wort, ich liebe sein Gesetz. Wenn ich früher dies heilige Gesetz betrachtete, so erschien es mir strotzend von schrecklichen Waffen, die mich zu durchbohren drohten; ich schauderte entsetzt zurück, und je mehr man in mich drang, um mich unter dies unerträgliche Joch zu beugen, um so größer und fühlbarer wurde meine Entfernung von ihm und seinem Urheber. Wenn ich mich aber heute diesem Gesetz nähere, da ein gnädiger, helfender Gott es seiner Schrecken beraubt hat, indem er sich statt meiner hat von ihm durchbohren lassen, so. betrachte ich mit Rührung und voll von Mitgefühl für die Leiden meines Heilandes diese blutigen Waffen, die nicht mehr gegen mich gerichtet sind; ich nehme es von selbst an, ich lade es freiwillig auf meine Schultern und spreche: „dein Joch ist sanft und deine Last ist leicht“13); denn es ist Liebe, die es auferlegt, und Liebe, die es aufnimmt. Was sage ich? das Gesetz liegt für mich nicht mehr im Gesetz, sondern ganz im Willen meines Erlösers; ich lese es in seinen Augen, die von Schmerz, aber noch mehr von Versöhnung und Liebe erfüllt sind. Er scheint mir zu sagen: Bedenke, was ich für dich getan habe; gibt es irgend etwas, was du dich weigern könntest, für mich zu tun? Willst du nicht in mir deinen Schöpfer und deinen Heiland lieben, da ich in dir mein Geschöpf und meinen Feind geliebt habe? Willst du nicht deine Sünden hassen, die mich gekreuzigt haben? die meinem Körper Qualen zugefügt haben, wie du sie nie gekannt, und meiner Seele Todeskämpfe, wie du sie nie empfunden hast? Gehorche meinem Gesetz! ich bin es, der dich beschwört aus Liebe zu deiner Seele: ich, der ich dich erkauft und dir den Frieden gegeben habe, ich, dein Heiland! - Nein, es gibt keinen Stein, keinen Marmor, der dadurch nicht gebrochen würde; der Stein, der Marmor meines Herzens ist dadurch gebrochen worden; und es gibt kein gläubiges Herz, das nicht gleichfalls dadurch wird gebrochen werden. Ja, mein Heiland, weil du mir den Frieden gegeben hast, liebe ich dich, und weil ich dich liebe, will ich deine Gebote halten. Mein Herz wird willig und ohne Anstrengung die guten Werke tun, die ihm früher keine Anstrengung entreißen konnte; ja mein ganzes Leben wird fortan ein beständiges gutes Werk sein, denn ich will nur für den leben, der für mich gestorben ist. „Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen“14).
Seht, so ist der Mensch im Stande, gute Werke zu tun; und was hat ihn dazu befähigt? Der Glaube an die unverdiente Vergebung. Dieser Glauben hat ihm Frieden, im Frieden Liebe und in der Liebe Gehorsam gegeben. O welche heilige Liebe, welche Barmherzigkeit, die uns reinigt, indem sie uns vergibt! O welche göttliche Weisheit, die uns das ewige Leben ohne unser Verdienst schenkt, und eben durch diese unverdiente Gabe die Erneuerung unseres Herzens vollbringt!
Sollte diese Darlegung bei euch noch irgend einen Zweifel übrig lassen, dass die guten Werke nur dem möglich sind, der an die unverdiente Gnade glaubt, so überzeugt euch schließlich davon durch die Gleichnisse, deren sich die heilige Schrift bedient, um euch diese Wahrheit augenscheinlich zu machen.
Lasst uns den Menschen, wie es das Evangelium tut, mit einem entwurzelten Baum vergleichen: seine Zweige verdorren, seine Blätter welken, und er ist im Begriff, unrettbar zu vergeben. Was wird das beste Mittel sein, um zu bewirken, dass dieser Baum aufs Neue Früchte trage? Etwa dass der Gärtner ihm befehle: entwurzelter, verdorrter Baum, trage Früchte, so will ich dich in ein gutes Erdreich pflanzen? Oder dass er so zu ihm sage: entwurzelter, verdorrter Baum, ich nehme dich, wie du bist, und versetze dich mit eigener Hand in ein besseres Erdreich: siebe, jetzt bist du umgepflanzt, so trage denn nun deine Früchte? Gerade so verfährt nach dem Evangelium Gott mit dem Menschen. Er spricht nicht zu ihm: sündiger, liebeleerer Mensch, liebe, gehorche, so will ich dich lieben; sondern er spricht zu ihm: sündiger, liebeleerer Mensch, ich habe dich zuerst geliebt, ich habe dich der Verdammnis entzogen: jetzt bist du gerettet, jetzt gib mir dein Herz und gehorche mir.
Betrachtet ferner den verlorenen Sohn. Hätte sein Vater, als er an seine Tür klopfte, so zu ihm geredet: Mein Sohn, ich will dich wohl aufnehmen, aber nicht so wie du jetzt bist; wie kann ich dich in mein Haus einlassen, da du doch in Lumpen gehüllt, in lasterhafte Gewohnheiten versunken bist, da dein Gesicht entstellt und dein Herz fern von mir ist? nein, erst gehe hin und mache dich meiner Vergebung würdig: lege anständige Kleidung an, stelle deine Gesundheit wieder her, nimm tugendhafte Gewohnheiten an, liebe mich; dann komm, und mein Haus steht dir offen! hätte der Vater so geredet, was wäre aus dem armen, verlorenen Sohne geworden? Ich bin im Elend und soll anständige Kleidung anlegen! Ich lebe in schlechter Gesellschaft und soll gute Sitten annehmen! Ich nähre mich wie die elenden Schweine und soll meine Gesundheit herstellen! Ich lebe unter dem Gewicht von meines Vaters Zorn und soll ihn lieben! ich denke ihn mir mit unwillig entflammtem Auge; er stößt mich zurück, wenn ich an seine Tür klopfe! Ach, ich sehe es wohl ein, er wird sie mir niemals öffnen; seine Einwilligung ist nur ein grausamer Spott: mir bleibt also nichts übrig als fortzuleben, wie ich bis dahin gelebt habe. Lebe denn auf ewig wohl, mein Vaterhaus, ich habe dich zum letzten Mal gesehen! Allein wie macht es der Vater des verlorenen Sohnes? Als er seinen Sohn erblickt, der noch weit entfernt ist, läuft er ihm entgegen: Komm in meine Arme, tritt in mein Haus, setze dich an meinen Tisch; ich gebe dir alles wieder, was du verloren hast, als du von mir gingst: statt der Lumpen findest du prächtige Kleider, statt schlechter Nahrung eine vortreffliche, statt lasterhafter Beispiele tugendhafte, statt meines Zornes meine Liebe, mit der ich dich überschütten, beschämen, überladen will, dass du mir die deinige nicht wirst versagen können! Seht, eben das tut Gott nach dem Evangelium für den Menschen. Er sagt nicht: ich will dir morgen vergeben, ich will dich morgen lieben, nachdem du etwas getan hast, das dich dessen würdig macht; sondern er sagt: ich vergebe dir heute, ich habe dich geliebt, als du noch mein Feind warst, ich habe alles gut gemacht, ich nehme dich aus Gnaden auf, in diesem Augenblick, so wie du bist, ganz von Sünden befleckt und bedeckt, auf dass du mich liebst und aus Liebe mir gehorchst.
So zeigen uns wohlangewendete Vernunftschlüsse, dass die guten Werke augenscheinlich nur aus dem christlichen Glauben hervorgehen, und nichts weniger als von ihm verhindert werden. Für diejenigen aber, deren Geist der gesunden Lehre so gänzlich verschlossen ist, dass auch diese Vernunftschlüsse ihnen unverständlich sind, bleibt uns noch ein Beweis übrig, und ich weiß nicht, was sie dem entgegensetzen können, wenn sie aufrichtig sind: die Erfahrung.
Man glaubt, dass die evangelischen Grundsätze den Menschen zur Ausübung guter Werke träge machen. Darüber kann man sich leicht Gewissheit verschaffen; es bedarf dazu nur der Augen: seht einmal, wie die Menschen leben, welche diese Grundsätze angenommen haben. Sind sie nachlässiger als die anderen in der Ausübung guter Werke, dann mögt ihr schließen, dass ihre Grundsätze an dieser Vernachlässigung Schuld sind; sind sie aber darin eifriger als die anderen, so müsst ihr auch schließen, dass ihre Grundsätze sie zu den guten Werken treiben. Nun wohl! Seht euch um, wie die Christen leben, das heißt gemäß der Schrift diejenigen Menschen, die an die unverdiente Gnade durch Jesus Christus glauben.
Ich weiß wohl, dass es wenig wahre Christen gibt, aber doch gibt es einige, und da sie in allen Ständen vorkommen, so kann jeder, der es will, sie kennen lernen. Beobachtet sie denn: treiben sie die guten Werke mit weniger Eifer als andere? sind sie weniger mildtätig mit ihren Gütern? weniger geduldig in ihren Leiden? weniger zuverlässig und gewissenhaft in ihren Geschäften? weniger bereit zu Dienstleistungen? weniger sanft, aufrichtig, demütig, tätig, uneigennützig? Ihr könnt das gewiss nicht behaupten. Wie oft höre ich euch nicht im Gegenteil in gewissen unwillkürlichen Ergießungen der Unparteilichkeit gestehen, dass diese Leute besser sind als ihr, und wie viel öfter gesteht ihr wohl dasselbe im Grunde eures Herzens. Was sie ihre Bekehrung nennen, und was euch als Spiel ihrer Einbildungskraft erscheint, ist wirklich von einer Veränderung ihres Charakters begleitet gewesen, die ihr euch nicht erklären könnt. Ein leichtsinniger, eitler, weltlicher Mensch ist nach seiner Bekehrung ernst, gesetzt und streng geworden; ein anderer, der die Beute der Schwermut und Traurigkeit war, lebt nach seiner Bekehrung genügsam und in Frieden; jener Jüngling, der sich früher seinen bösen Neigungen überließ, gibt nach seiner Bekehrung allen seinen Freunden ein Vorbild von Sittenreinheit und Wohlanständigkeit im Reden. Fügt diesen euren eignen Beobachtungen noch eine andere hinzu, die ihr vielleicht noch nicht gemacht habt, die aber unbestreitbar ist: dass nämlich die Christen unter allen Menschen die einzigen sind, welche sich fortentwickeln. Verlasst einen Weltmenschen ein Jahr, zwei Jahre, zehn Jahre, ihr werdet ihn unverändert wiederfinden: die Farbe seiner Haare hat sich verwandelt, seine Züge sind gealtert, vielleicht haben sich einige Gewohnheiten seines äußeren Lebens umgestaltet: aber der Grund seines Herzens ist derselbe geblieben; dort findet ihr dieselben Eigenschaften, dieselben Fehler; was er einmal ist, das bleibt er für immer, vorausgesetzt dass er sich nicht bekehrt, und er bewahrheitet genau das furchtbare Wort eines Schriftstellers im vorigen Jahrhundert: „Man bessert sich niemals“15). Verlasst dagegen einen Christen zehn Jahre, zwei Jahre, ein Jahr, oder sogar noch kürzere Zeit, und ihr werdet in ihm neue Auffassungen, neue Gefühle vorfinden, die er aus der Quelle des Wortes Gottes und seiner Gnade geschöpft hat. Was sagt ihr zu diesem Beweis aus Tatsachen? sind Tatsachen etwa auch trügerisch? Antwortet nicht: das sind Ausnahmen; Christen, die ihrer Pflicht treu sind, leben so nicht kraft ihrer Grundsätze, sondern trotz derselben in Folge ihrer natürlichen Güte. Ihr könnt das nicht behaupten. Ein Mensch kann nicht gegen seine Grundsätze leben, denn das Leben eines Menschen ist nur die Offenbarung seiner Grundsätze, wie die Frucht eines Baumes nur die letzte Entwicklung seines Keimes ist. Und wenn ihr nun noch genauer zuseht, so werdet ihr erkennen, dass die wahren Christen, ohne alle auf gleicher Stufe zu stehen, doch alle gleich eifrig in guten Werken sind, und dass das die Regel ist, was ihr eine Ausnahme nennt. Und so müsst ihr denn zugeben, dass, weil die Frucht gut ist, auch der Baum es ist; dass, weil ihre Werke heilig sind, ihr Glaube sie zur Heiligung führt.
Aber diese Christen haben ihre Fehler, sagt ihr; und wenn ihre guten Werke uns dahin bringen sollen, anzunehmen, ihr Glaube sei heiligend, so halten ihre Fehler das Gegengewicht gegen diesen Beweis und zeigen, dass er nicht heiligt. Mitchristen! ehe ich auf diesen Einwurf antworte, wollen wir uns bis zur Erde demütigen, weil wir einsehen, dass wir durch unsere Schwachheiten und Sünden der Welt Waffen gegen unseren Herrn leihen, der uns geliebt hat bis zum Tod am Kreuze. Ja, wir wollen es aufrichtig und mit Schmerz anerkennen: obgleich der Grund unsers Wesens heilig und dem Gesetze Gottes gemäß ist, was wir ohne Stolz sagen können, ja sogar zum Ruhm der Gnade Gottes sagen müssen, denn wir haben nichts, was uns nicht gegeben wäre, so hat doch die Natur noch tiefe Spuren in uns zurück gelassen; der alte Mensch ist nicht in uns getötet, er ist nur zum Tode verwundet; wir fallen noch alle Tage in die Sünde.16)
Dieses Bekenntnis zeugt aber nur gegen uns, nicht gegen den christlichen Glauben. Es ist ihm im Gegenteil günstig, und wir wollen den Gegnern beweisen, dass die Fehler der Christen ebenso gut wie ihre Tugenden die heiligende Macht ihres Glaubens bezeugen. Das klingt euch seltsam, und doch ist es wahr; ich will mich durch eine Vergleichung erklären.
Ein Arzt verschreibt seinen Kranken den Gebrauch eines gewissen Wassers, welches, wie er ihnen sagt, sie gänzlich heilen werde. Sie trinken davon, alle fühlen eine merkliche Wirkung, ihre Kräfte kehren zurück, ja ihr ganzer Gesundheitszustand ändert sich aus dem Grund, dank der Kraft des Wassers und der Weisheit des Arztes. Aber siehe da, ich erfahre, dass alle in ihrem neuen Zustand einige mehr, andere weniger tiefe Spuren ihres früheren an sich tragen. Bei dieser Nachricht bin ich im Begriff, meine Bewunderung für das Wasser wie für den Arzt etwas zu schmälern. Ich erkundige mich nun genauer und höre, dass keiner der Kranken das Wasser in dem vom Arzt verschriebenen Maße getrunken hat; einige haben sich dem Maß mehr, andere weniger genähert, und mancher an gewissen Tagen mehr als an anderen. Ich erfahre ferner, dass, wenn man diese Kranken in drei Klassen teilt, sodass die erste die umfasst, welche die geringsten Spuren ihres alten Übels, die dritte die, welche die tiefsten Spuren, und die dazwischen liegende die, welche ein mittleres Maß behalten haben, - die ersten dann diejenigen sind, die am meisten von dem verordneten Wasser getrunken haben, die letzten solche, die am wenigsten getrunken haben, und die dazwischen liegenden Stufen mit ihrer Wiederherstellung ebenfalls in genauem Verhältnis zu dem Maß des genossenen Wassers stehen. Endlich höre ich, dass, wenn man bei einem und demselben Individuum die Tage in drei Klassen teilt, und die erste die Tage in sich schließt, an denen er am wenigsten, die dritte diejenigen, wo er am meisten sein Übel gefühlt hat, die dazwischen liegende Klasse aber die dazwischen liegenden Stufen seines Wohlseins umfasst, die Tage der ersten Klasse diejenigen sind, wo er am meisten, die der dritten, wo er am wenigsten von dem verordneten Wasser getrunken hat, die dazwischen liegenden Stufen seines Wohlseins aber genau der genossenen Menge Wassers entsprechen. Das erfahre ich, und Dank, mehr Dank als je der Kraft des Wassers und der Weisheit des Arztes! Die Übel, die bei diesen Kranken zurückbleiben, geben dafür ein eben so klares Zeugnis, als die, von denen sie geheilt sind: denn die geheilten Übel zeigen, wie viel man gewinnt, wenn man das Wasser trinkt, die zurückbleibenden, wie viel man verliert, wenn man es zu trinken versäumt.
Dies mag euch begreiflich machen, wie sogar die Mängel der Christen, wenn man den Ursachen derselben nachforscht, ein Zeugnis von der heiligenden Kraft des christlichen Glaubens geben; denn diese Mängel entsprechen dem Mangel an Festigkeit im Glauben. Teilt man die Christen in drei Klassen, und umfasst die erste die heiligsten, die dritte die am wenigsten heiligen, die dazwischenliegende die mittleren Grade von Heiligkeit, so wird man finden, dass die ersten die festesten, die letzten die schwächsten sind im Glauben an die unverdiente Gnade, und dass die dazwischen liegenden Grade von Heiligkeit im genauen Verhältnis stehen zu den dazwischen liegenden Graden von Festigkeit in diesem Glauben. Und desselbigen Gleichen, teilt man die Tage eines einzelnen Christen (ihr könnt euch dessen vergewissern, wenn ihr einem wirklich aufrichtigen Christen diese Frage vorlegt) in drei Klassen, wovon die erste die Tage begreift, an denen er am fleißigsten in guten Werken gewesen ist, die letzte die, an denen er es am wenigsten war, und die mittlere die dazwischen liegenden Grade dieses Fleißes, so sind die ersten diejenigen, an denen er das Bild seines Heilandes, der für ihn gekreuzigt ist, der das ganze Gesetz für ihn erfüllt, der die Strafe für ihn erlitten, der ihn ohne sein Verdienst erlöst hat, unumwölkt erblickte; die letzten sind diejenigen, wo sich eine Wolke zwischen ihm und seinem Heiland erhoben hatte, wo er glaubte, selbst etwas zu gelten, wo Jesus Christus nicht seine einzige Hoffnung war; die dazwischenliegenden Grade aber des Eifers in guten Werken stehen in genauem Verhältnis zu den dazwischenliegenden Graden der Klarheit und Festigkeit seines Glaubens an die unverdiente Gnade. Dank denn mehr als je dem christlichen Glauben! Die Fehler der Christen bezeugen nicht weniger klar als ihre Tugenden selbst seine heiligende Kraft: denn ihre Tugenden zeigen, wie viel man gewinnt, wenn man diesem Glauben anhängt, ihre Fehler, wie viel man verliert, wenn man sich von demselben fern hält.
Wenn nun die Schrift, die Vernunft und die Erfahrung auf gleiche Weise feststellen, dass die Lehre des Evangeliums nur zur Heiligung führt; woher rührt es denn wohl, dass so viele Menschen dasselbe einer entgegengesetzten Wirkung beschuldigen? Gern möchte ich diese Beschuldigung nur auf ihre Unwissenheit schieben, aber ich bin durch das Zeugnis Jesu Christi selbst gezwungen, ein strengeres Urteil über sie zu fällen.
Jesus Christus sagt: „Das Licht ist in die Welt gekommen, aber die Menschen liebten die Finsternis mehr denn das Licht; denn ihre Werke waren böse.“17). So stehe ich nicht an, den Gegnern zu erklären: das Licht ist unter euch gekommen, ihr aber habt die Finsternis mehr als das Licht geliebt, weil eure Werke böse sind. Wie die Juden den Herrn der Lüge beschuldigten, gerade weil er die Wahrheit sagte18), so klagt ihr diese Lehre an, sie führe zur Erschlaffung, gerade weil sie zur Heiligkeit führt. Ach würde sie wohl so viel Widerspruch erfahren, wenn sie die schlechten Neigungen des Menschen begünstigte? Weil sie aber heilig ist, darum wollt ihr sie nicht; und weil ihr doch einen anständigen Vorwand haben müsst, um sie verwerfen zu können, so schützt ihr vor, sie sei gefährlich. Gefährlich, o mein Gott! …. und doch, ich gebe es zu, sie ist gefährlich, ist gefährlicher, als ihr denkt: gefährlich eurem Geiz, denn sie zwingt euch zur Mildtätigkeit; gefährlich eurer Rachsucht, denn sie zwingt euch zur Vergebung; gefährlich eurer Sinnlichkeit, denn sie zwingt euch zur Mäßigkeit; gefährlich eurer Trägheit, denn sie zwingt euch zur Tätigkeit. Ja, ihr habt Recht sie zu fürchten; Satan fürchtet sie noch mehr als ihr, und eure Furcht kommt von ihm. ja Satan, überall, wo diese Lehre gepredigt wird, wird dein Reich bedroht: du siehst vorher, dass die Orte, in deren ruhigem Besitz du bis dahin warst, von der christlichen Heiligkeit dir werden entzogen werden. Du gerätst in Unruhe und Aufregung, du brichst in Angstgeschrei aus, und weil du in deinem eigenen Namen nicht zu schreien wagst aus Furcht, dieser entsetzliche Name könnte alle erschrecken und ihnen die Augen über deine Absichten öffnen, so verkleidest du dich in einen Engel des Lichts und rufst: das Reich Gottes ist in Gefahr! Aber deine Verstellung ist unnütz, denn wir haben es vom Gott der Wahrheit gelernt, wie wir deine List vereiteln können; sprich nur offen und sage, dass von der Gefahr nur dein eigenes Reich bedroht werde.
Streiter Jesu Christi, wollt ihr für den Herrn gegen seinen Feind kämpfen? Wollt ihr Satan die Seelen entreißen, um sie Jesu Christo zu gewinnen? Christen, der Herr rechnet auf euch. Er hat euch alle als Wachen in Israel aufgestellt, sie zu wecken, sie zu warnen, sie zu retten: euch befehle ich die Seelen dieser Kirche, die noch tot sind. Jedem befehle ich insbesondere die Seelen, die ihm die nächsten sind. Christliche Eltern, euch befehle ich die Seele eurer Kinder; christliche Kinder, euch befehle ich die Seele eurer Eltern; christliche Männer, euch befehle ich die Seele eurer Frauen; christliche Frauen, euch befehle ich die Seele eurer Gatten; christliche Brüder und Schwestern, euch befehle ich die Seele eurer Brüder und Schwestern; christliche Freunde, euch befehle ich die Seele eurer Freunde; christliche Herren, euch befehle ich die Seele eurer Diener; christliche Diener, euch befehle ich die Seele eurer Herren. Sucht sie durch eure Reden, durch eure Gebete, vor allen Dingen durch die Heiligkeit eures Wandels zu gewinnen; rechtfertigt die Weisheit als Kinder der Weisheit19). Zeigt mit liebevoller Kühnheit alles, was ihr seid; zeigt, dass das, was euch von den Weltkindern trennt, nicht eine einfache Meinungsverschiedenheit, eine abweichende Gefühlsweise, eine verschiedene Stufe der Frömmigkeit ist, sondern der ewige, unversöhnliche Gegensatz, der zwischen der Wahrheit und dem Irrtum, zwischen Gutem und Bösem, zwischen Gott und Satan besteht. Zerstört das verderbliche Vorurteil, dass das Evangelium nur die Vervollkommnung der menschlichen Weisheit und die Gnade die Vervollkommnung der Natur sei; als ob das Licht nur die vervollkommnete Finsternis, das Leben nur der vervollkommnete Tod, Gott nur der vervollkommnete Satan wäre. Erklärt und macht offenbar, dass das Evangelium eine zweite Geburt, dass die Gnade eine gänzliche Erneuerung ist. Kinder Gottes, die ihr unter den Kindern der Welt zerstreut seid, lasst eure Grundsätze von den ihrigen, eure Sprache von ihrer Sprache, euer Leben von ihrem Leben sich unterscheiden, wie sich eine weiße Linie auf schwarzem Grund abhebt. Jeder von euch sei ein wirkliches Evangelium, eine lebendige Antwort auf alle Einwürfe, auf alle Zweifel, so dass, wer euch gehen, handeln, sprechen sieht, glaube, er sehe einen Zeugen Jesu Christi und der Wahrheit gehen, handeln, sprechen. Christliche Frauen, „seid untertan euern Männern in dem Herrn;“ christliche Männer, „liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche;“ christliche Kinder, „seid gehorsam den Eltern in dem Herrn;“ christliche Diener, „seid gehorsam euern leiblichen Herren gleichwie Christo;“ „ihr Herren, was recht und gleich ist, das beweist den Knechten und wisst, dass ihr auch einen Herrn im Himmel habt“20). Alle, so viele euer sind, seid Vorbilder von guten Werken in allen Dingen; überbietet alle anderen an Eifer für das geistige sowohl, als auch für das zeitliche Wohl aller Menschen. Überwindet den Unglauben durch die Heiligkeit und die Ungerechtigkeit durch die Liebe. Spottet man über euch, so betet für die Spötter; hört man euch nicht an einem Ort, so geht an einen anderen; verflucht man euch, so segnet; hasst man euch, so liebt.
Mein Heiland, der du mich in diese Kirche geschickt hast, um sie zu erwecken und zu mahnen, dass sie zu dir zurückkehre, stütze mich durch deine Gnade und gib, dass, während die Christen der Herde ein Vorbild sind, der Hirte ein Vorbild der Christen sei. Gib mir wie dem Timotheus, „dass ich sei ein Vorbild den Gläubigen im Wort, im Wandel, in der Liebe, im Geist, im Glauben, in der Keuschheit“21), in allen Dingen. Lehre mich, „dass ich Acht habe auf mich selbst und auf die ganze Herde, unter welche mich der heilige Geist als Prediger gesetzt hat, zu weiden die Gemeine Gottes, die du dir durch dein eigenes Blut erworben hast“22); dass ich mein Werk tue als ein guter Streiter Jesu Christi23); dass ich gerne leide, wenn nur dein Wort nicht gebunden ist; und derer keines achte, auch mein Leben selbst nicht teuer halte, auf dass ich vollende meinen Lauf mit Freuden und das Amt, das ich empfangen habe von dem Herrn Jesu, zu bezeugen das Evangelium von der Gnade Gottes“24); damit einst, nachdem ich das Evangelium in meinen Reden gepredigt, in meinem Leben bezeugt habe, wenn du mich aus dieser Welt abrufst, ich um mein Todeslager die Häupter dieser Herde versammeln und mit gleicher Wahrheit wie Paulus vor Jesus Christus an den Grenzen der Ewigkeit sagen könne: „ihr seid meine Zeugen, dass ich ein treuer Hirte war; ich bin rein von eurem Blut und von dem Blut der Eurigen.“ Amen!