Monod, Adolphe - Der Kerkermeister zu Philippi.
Apostelg. 16, 22-34.
„Und das Volk ward erregt wider sie, und die Hauptleute ließen ihnen die Kleider abreißen und hießen sie stäupen. Und da sie sie wohl gestäupt hatten, warfen sie sie ins Gefängnis und geboten dem Kerkermeister, dass er sie wohl bewahrte. Der nahm solches Gebot an und warf sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Stock. Um die Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. Schnell aber ward ein großes Erdbeben, also, dass sich bewegten die Grundfeste des Gefängnisses. Und von Stund an wurden alle Türen aufgetan und aller Bande los. Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf fuhr und sah die Türen des Gefängnisses aufgetan, zog er das Schwert und wollte sich selbst erwürgen; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut und sprach: Tue dir nichts Übels, denn wir sind alle hier. Er forderte aber ein Licht und sprang hinein und ward zitternd und fiel Paulo und Sila zu den Füßen. Und führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was soll ich tun, dass ich selig werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du und dein Haus selig. Und sagten ihm das Wort des Herrn, und allen, die in seinem Haus waren. Und er nahm sie zu sich in derselbigen Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen ab; und er ließ sich taufen und alle die Seinen alsobald. Und führte sie in sein Haus und deckte ihnen einen Tisch und freute sich mit seinem ganzen Haus, dass er an Gott gläubig geworden war.“
Meine Brüder! Die Geschichte, die ich euch vorgelesen habe, ist reich an heilsamen Lehren. Gott lenkt durch seine Allmacht alles so, dass es zur Erfüllung seiner Absichten dient, sogar die Vorkehrungen, die getroffen sind, dieselben zu durchkreuzen; Gottes Barmherzigkeit legt ein so großes Gewicht auf das Heil der Seelen, dass er es weder durch Erdbeben, noch durch die Leiden selbst seiner Diener zu teuer erkauft glaubt; die treuen Apostel predigen das Wort „zur Zeit und zur Unzeit;“ ihre Gebete, ihre Lobgesänge erheben sich um Mitternacht in einem Kerker; dieser Aufenthalt der Schande bringt sie mit Seelen in Berührung, die Gott erwählt hat, und das Evangelium wird den Gefangenen gepredigt, nachdem es von den Obrigkeiten verworfen ist; jener Heide hat seine Stellung in der Nähe der Todespforten, auf dass er das ewige Leben empfange, und das Heil Eingang finde zu gleicher Zeit in sein Herz und in sein Haus; ein Austausch von Wohltaten findet statt unter den Gefangenen, die ihrem Hüter die frohe Gnadenbotschaft verkündigen, und dem Kerkermeister, der die Wunden seiner Gefangenen wäscht; dazu die Taufe einer ganzen Familie mitten in der Nacht, dies Mahl, diese Unterhaltungen, diese heilige Freude: wie viele Lehren finden wir in den wenigen Versen dieses Textes zusammengehäuft, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit allein schon hinreichend wäre zu zeigen, dies Wort sei nicht aus Menschenhand hervorgegangen.
Allein unter diesen Gegenständen ist der eine, die Bekehrung des Kerkermeisters, von größerem Interesse, als alle andern, und auf sie richte ich heute eure Aufmerksamkeit; nicht, damit ihr in unfruchtbarer Rührung die Gnade betrachtet, die Gott diesem armen Heiden bewiesen hat, sondern das mit ihr selbst, die ihr euch Christen nennt, bewogen werdet, dasselbe Heil zu ergreifen. Denn wisst, nicht nur die Heiden und die Gottlosen sind es, die der Bekehrung bedürfen, sondern jeder Mensch, wer er auch sei, also auch ihr. ja, auch ihr werdet weder durch Geburt noch durch Taufe zu Kindern Gottes, zu wahren Jüngern Jesu Christi. „Ihr müsst von neuem geboren werden.“ „So ihr euch nicht bessert, werdet ihr umkommen“1).
Zwei Dinge fallen uns in der Geschichte des Kerkermeisters von Philippi auf: seine Frage „Was soll ich tun, dass ich selig werde?“ und der Apostel Antwort: „Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du selig.“ Die Geistesverfassung, von der diese Frage zeugt, und die Lehre, welche die Antwort enthält, wirken beide zusammen zur Bekehrung des Heiden. „Was soll ich tun, dass ich selig werde?“ so hätte der Kerkermeister vergebens gerufen mit der Angst einer Seele, die nach Vergebung hungert und dürstet, wenn ihm nicht die Diener Jesu den Weg gezeigt hätten, auf dem er das Heil finden könne. Ebenso vergebens hätten die Apostel die Lehre des ewigen Lebens: „Glaube an den Herrn Jesum, so wirst du selig“, verkündet, wenn sie nicht bei ihrem neuen Schüler ein Herz gefunden hätten, das vorbereitet war, dieselbe aufzunehmen. Meine Brüder, diese beiden Dinge sind für eure Bekehrung ebenso notwendig wie für die seinige. Wie die Apostel dem Kerkermeister, so bin ich bereit, die reine Lehre von Jesus Christus euch mitzuteilen, vorausgesetzt, dass ihr mir ein Herz entgegenbringt, welches nach dem Heile seufzt, wie der Kerkermeister es den Aposteln brachte. Da aber den meisten von euch diese Vorbereitung fehlt, so muss ich mit derselben anfangen, und so kann ich euch, die ihr noch in euren Sünden seid, die Gnade Gottes nicht mit Erfolg verkündigen, wenn ich euch nicht zuvor den Zustand, in dem ihr bis jetzt gelebt, unerträglich gemacht habe. Möchte denn diese Rede unter dem himmlischen Segen dasselbe an euch wirken, was der rührende Auftritt, dessen Zeuge er wurde, an dem Kerkermeister wirkte; möchte sie euch von der Gleichgültigkeit zum Zittern und vom Zittern zur Erlösung führen.
Der Kerkermeister fragte nicht sogleich beim ersten Anblick der Apostel: „Was soll ich tun, dass ich selig werde?“ Als ein unwissender, ungläubiger Heide war er weit davon entfernt, die Gefahr zu kennen, der seine Seele ausgesetzt war; er wusste kaum, dass er eine erlösungsbedürftige Seele habe. Auf welchem Wege wurde er von Gott dahin geführt, dass er seinen traurigen Zustand erkannte und so heiß wünschte, aus demselben befreit zu werden? Einige Verse unsers Textes geben uns Aufschluss: „Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf fuhr und sah die Türen des Gefängnisses aufgetan, zog er das Schwert und wollte sich selbst erwürgen, denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut und sprach: tue dir nichts Übels, denn wir sind alle hier. Er forderte aber ein Licht und sprang hinein und ward zitternd und fiel Paulo und Sila zu den Füßen und führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was soll ich tun, dass ich selig werde?“
Diese Erzählung zeigt uns, welche Gedankenverbindung den Kerkermeister seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit entreißt und ihn zu der Frage bringt, die aus seiner geängstigten Seele hervordringt. Wir sehen, wie er zuerst aufmerksam auf sein Elend wird und hierauf anfängt zu erkennen, dass er einer Erlösung bedarf. Durch das Erdbeben plötzlich erweckt öffnet er die Augen und sieht die Türen des Gefängnisses aufgetan. Und was geschieht ihm bei diesem Anblick? Er wird unruhig, er glaubt sich verloren; verloren zwar noch nicht vor Gott, aber vor den Menschen. Er bezweifelt nicht, dass seine Gefangenen die Gelegenheit benutzt haben und entwichen sind. Er irrte sich: Paulus und Silas sind freiwillig an dem Ort als Gefangene geblieben, wo die Bosheit der Menschen sie eingeschlossen und von wo Gottes Macht sie befreit hatte; es lag ihnen mehr daran, ihre Unschuld darzutun, als den Schlägen ihrer Feinde zu entgehen; und ihre Mitgefangenen, so fremd sie solchen edlen Gesinnungen waren, blieben in Folge des Vorbildes der außergewöhnlichen Männer gleich ihnen an ihrem Platz wie gefesselt.
Der Kerkermeister aber glaubt, sie wären alle auf der Flucht. Er denkt sogleich an den Unwillen der Oberen, die seiner Wachsamkeit die Gefangenen ganz besonders anempfohlen hatten; verwirrt, außer sich, zitternd bleibt ihm nichts übrig, als sich mit eigner Hand ein Leben zu nehmen, das der Rache der Gesetze verfallen ist: „Er zog das Schwert und wollte sich selbst erwürgen.“ Der Unglückliche! Welch trauriges Licht verbreitet sich plötzlich über seinen Zustand. Bis dahin galt er vielleicht für einen glücklichen Menschen; aber dieselbe Hand, welche die Erde öffnete, scheint auch dies lange verschlossene Herz geöffnet zu haben und enthüllt uns eine tiefe Bitterkeit, die bis dahin unter einer Art von Ruhe verborgen war und ihn selbst vor Allen getäuscht hatte. Seht ihn, wie er, der unglückliche Spielball der Begebenheiten, der Sklave von seiner Herren Launen, der zufrieden ist, sobald er sich ihrer Gunst erfreut, gleich in Verzweiflung gerät, sobald ihn ein Zufall ihrem gerechten oder ungerechten Zorn aussetzt. Seht, wie wenig er am Leben hängt, wie er es bei der ersten Furcht vor einer Verurteilung von sich wirft, als wollte er andern die Mühe ersparen, es ihm zu nehmen. Was wird nun aus den Freuden, die er in besseren Zeiten hat genießen können? Was gilt ein Glück, das von den Ereignissen, von Menschen, vom ersten Besten, kurz von allem abhängig ist, nur nicht von dem, der es zu besitzen glaubt? Hat der Kerkermeister von Philippi sich jemals für glücklich gehalten, so macht er jetzt die Entdeckung, dass er es niemals gewesen ist; er lernt eben so wenig Gewicht auf sein Glück zu legen, wie auf sein Leben, das er auf die Degenspitze setzt. Noch ruft er nicht: „Was muss ich tun, dass ich selig werde?“ Noch sucht er nicht bei Gott Vergebung; dies Bedürfnis fühlt er noch nicht. Aber er fühlt sich unglücklich, und das ist ein Anfang zur Erleuchtung, es ist der erste Schritt, den Gott ihn zur Erkenntnis seines eigenen Herzens tun lässt, bis dahin dass er dessen Wunden noch tiefer untersuchen wird.
Und ihr, meine Brüder, die ihr euer Herz noch nicht dem Herrn Jesus Christus gegeben habt, seid ihr glücklich? Ihr begreift wohl, dass ich hier nicht von jenem äußeren Glück spreche, welches die irdischen Güter geben; ich spreche von einem Glück, das in der Seele liegt; und um meine Frage zu vereinfachen, so setze ich voraus, dass ihr alles besitzt, was die Menschen in den Augen der Welt glücklich macht. Du bist, nehme ich an, mit Glücksgütern wohl bedacht, bist in der Gesellschaft geachtet, bist von einer liebenswürdigen Familie umgeben, die dich liebt: und nun frage ich dich: hast du Herzensfrieden? bist du glücklich?
Wenn du freilich einer von den Menschen bist, die der gewöhnliche Lauf ihrer Gedanken, während äußerlich alles ruhig erschien, zu demselben verzweifelten Entschluss gebracht hat, wozu den Kerkermeister von Philippi eine plötzliche Angst trieb; von denen, die mehr als einmal gerufen haben: „ich will lieber sterben, als leben!“ die wiederholt im Begriff gewesen sind, sich eine jener tausend Todesarten zu erwählen, welche der Selbstmord heutigen Tages erfindet, 0, dann ist es unnötig, dich zu fragen, ob du glücklich bist? Gibt es in dieser Welt einen schwärzeren Abgrund von Seelenangst, als das Herz eines Selbstmörders? Beruht der Trübsinn eines Menschen auf den äußeren Verhältnissen seines Lebens, so bleibt uns noch die Hoffnung, ihn davon durch einen Wechsel, der in seiner Lage eintreten kann, befreit zu sehen. Kommt aber der Trübsinn eines Menschen nur aus seinem eigenen Herzen; wird die Seele selbst der Seele Qual und das Leben selbst des Lebens Last, was können wir da tun, als unter Seufzen bekennen, dass hier dem Urteil der Welt nach nichts zu machen sei? Von einem solchen Menschen müssen wir sagen, dass er noch mehr zu beklagen ist, als jener Gefangene, den man uns schildert, wie er in der äußersten Hungersnot von seinem eigenen Fleisch isst, denn er ist so weit gebracht, dass er in dem Schrecken der Verzweiflung seine Seele selbst verzehrt. Was mag er ersinnen, um sich vor sich selbst wie vor seinem grausamsten Feind zu retten? Wird er überhaupt dazu im Stande sein? Ich frage nicht: „Wo soll er hingehen, Gott, vor deinem Geist, und wo soll er hin fliehen vor deinem Angesicht?“ Ich frage: Wo soll er sich verbergen vor seinem eigenen Geist? wohin entfliehen vor seinem eigenen Angesicht? wohin sich zurückziehen, ohne sich selbst dahin zu folgen? wo sich verstecken, ohne sich selbst zu finden? Verblendeter, der du ebenso töricht wie elend bist, wenn du dich getötet hast, wird man freilich sagen: er ist tot! aber nur Andere werden es sagen, nicht du selbst. Du wirst für dein Volk, für deine Stadt, für dein Haus tot sein. Aber ach, du selbst, was in dir denkt, was in dir leidet, wird immer leben! Siehst du denn nicht, dass du, um nicht mehr unglücklich zu sein, nicht deinen Aufenthaltsort, sondern dein Herz ändern musst? Ob du unter den Fluten verschwindest, ob ein mörderisches Blei deinen Kopf zerschmettre, ob durch ein feines Gift deine Adern stocken, was du auch tust, und wohin du auch gehst, überallhin musst du dich selbst, dein Herz, dein Elend mitnehmen. Ja, was sage ich? du gehst nur, um eine so viel größere Rechenschaft abzulegen, wenn du vor den Richterstuhl des großen Gottes treten wirst. Du gehst, um eine Ewigkeit mehr zu leiden, und mit so viel Zeit weniger, um dich zu bekehren. Bilde dir nur nicht gar ein, es folge diesem Leben kein anderes, weil das menschliche Auge nichts nach diesem Leben sehe. Nein, das kannst du nicht denken. Sollten alle andern auch denken, dass alles mit dem Körper sterbe, du kannst es doch nicht glauben. Du hast einen Beweis der Unsterblichkeit, der dir selbst angehört. Die Traurigkeit, die dich verzehrt, ist zu innig und zu tief, als dass sie sich mit deinen Gliedern auflösen könnte, und was fähig ist, so viel zu leiden, kann sich nicht in die Erde verlieren. Die Würmer erben den Staub deines Leibes, wer wird aber die Bitterkeit deiner Seele erben? Diese ungemessenen Wünsche und furchtbaren Qualen, die du in dir fühlst, diese Höhen des Himmels und Tiefen der Hölle, gibt es in der Welt etwas, was hoch und tief, ruhmvoll und schmachvoll genug wäre, um es statt deiner damit bekleiden zu können? Nein, du wirst niemals dich zu überreden vermögen, dass du ganz sterben könntest; oder vermöchtest du es dir zu denken, so wärest du nur um so törichter, um so elender!
Wir wollen aber diesen äußersten Fall, wenn man überall eine so allgemein gewordene Verblendung noch mit diesem Namen bezeichnen kann, bei Seite lassen; wir wollen uns zu euch wenden, die ihr niemals solche finstre Gedanken gehabt habt, und fragen: seid ihr glücklich? Wenn ihr bis dahin gegen jene Schicksalsschläge geschützt wart, die euer Glück zerstören können, wer sagt euch, ob sie euch nicht in der Zukunft treffen werden, wie sie so viele zu eurer Rechten, zu eurer Linken, in der Ferne, in der Nähe getroffen haben? Und reicht der bloße Gedanke, dass euer Glück jeden Tag „Flügel nehmen und davon fliegen“ kann, nicht hin, um euch auch heute schon den Genuss zu verkümmern, wo es noch bei euch verweilt? Aber selbst wenn es in eurer Macht läge, es zurückzuhalten, fühlt ihr nicht, dass Güter dieser Art euch nicht wahrhaft glücklich machen können? Betrachtet sie einmal näher, suchet tiefer: findet ihr etwas unter ihnen, was würdig wäre, Seelen wie die eurige zu befriedigen? etwas unermessliches, unendliches, dem Ozean ähnliches, in den ihr euch von quälender Sehnsucht getrieben hinabstürzen und nach allen Seiten hinwenden könntet, ohne seinen Grund noch seine Ufer zu finden? Nehmt eure schönsten und edelsten Freuden, die Familienbande, die zärtlichste Liebe des Gatten, des Vaters, des Kindes, ja, sie sind die Quelle vieler Freuden, ach und vieler Tränen. Ich will euch nicht daran erinnern, dass diese Freuden von dem Leben eurer Lieben abhängen, also von einem Hauch, einem Fehltritt, einem fallenden Stein, einer abgekühlten Luft, von den tausend kleinen Ursachen, die ein Menschenleben beenden können. Aber erfüllen denn wirklich jene Freuden dermaßen euer Herz, dass sie keine Leere darin zurücklassen? können sie euch alles ersetzen, euch über alles trösten? Und könnten euch auch die Herzensneigungen Trost für alles andre geben, wer tröstet euch denn in dem Kummer, der aus diesen Neigungen selbst hervorgeht? Beim häuslichen Mahl, wo ihr von den Gegenständen eurer so reinen und zärtlichen Liebe umgeben ward, nicht wahr, da kam es euch bisweilen vor, als mangle euch nichts? Wie aber, wenn ihr die Einsamkeit euers Zimmers wieder betreten hattet? fühltet ihr da nicht, wie eure Seele noch nach etwas anderem verlangt, was kein Geschöpf zu geben vermag? Nicht wahr, nur durch eine Art beständiger Betäubung gelingt es euch, dem Trübsinn zu entgehen, durch ein Mittel also, das schlimmer ist, als das Übel selbst? wenn ihr euch sammelt, wenn ihr über das Leben, über seine Güter und über seine Leiden nachdenkt, wenn ihr euch fragt, wo ihr seid, wohin ihr geht, und was ihr hienieden tut, so befällt euch alsbald eine düstre Stimmung, und wenn es euch gelingt, sie zu verscheuchen, so habt ihr nicht durch ein tieferes Nachdenken über sie gesiegt, sondern ihr habt sie durch Geschäfte oder Vergnügungen erstickt? Nicht wahr, die fröhlichsten Menschen sind nicht die, welche am meisten nachdenken; wenn sich aber ein Geist findet, der sich ernsthaften Betrachtungen zuneigt, so können wir im Voraus fast gewiss sein, dass er zur Schwermut hinneigt? zur Schwermut, die recht aufgefasst, öfter eine Kraft als eine Schwäche ist, die man ein Vorrecht nennen könnte, das einigen zu Teil wurde, damit sie das allgemeine Elend fühlen könnten; so dass also der Schwermütige auf die mitleidige Frage der Glücklichen: warum bist du so traurig? mit gutem Rechte antworten darf: wie? warum seid ihr nicht auch traurig? Ist Jemand unter euch, der behaupten könnte, dass dies alles nicht wahr sei? der in die Tiefe seines Herzens hinabsteigen könnte und dort den inneren, unveränderlichen, ruhigen Frieden fände, ohne welchen es kein wahrhaftes Glück für eine Menschenseele gibt?
Nun, meine Brüder, empfindet ihr jetzt euer Elend, so zweifelt nicht daran, dass es einen Weg gibt, euch davon zu erlösen. Noch ist es aber nicht an der Zeit, dass ich ihn euch zeige. Zuvor muss ich, damit ihr euch vollends kennenlernt, an der Wurzel des soeben enthüllten Übels euch ein anderes, noch tiefer liegendes aufdecken. Duldet diese schmerzhafte, aber heilsame Operation bis zu Ende: die Liebe fordert von mir, euch nicht zu schonen, und Gott selbst gibt uns dazu das Vorbild durch die Wege seiner Barmherzigkeit, die er den Kerkermeister führt.
Als der Kerkermeister die mörderische Hand an sich selbst legen wollte, wurde er plötzlich durch Pauli Ruf aufgehalten: „Tue dir nichts Übels, denn wir sind alle hier.“ Dieser Ruf scheint ein neues Licht in seiner Seele verbreitet, seinen ganzen Gedankengang verändert zu haben. Man begreift, was der Kerkermeister bei solchem Ruf in einem solchen Augenblick empfinden musste. Schon dass kein Gefangener entsprungen war, was alle so leicht hätten tun können, zeigte ihm hinreichend, dass hier etwas Ungewöhnliches vorgehe; und als er einmal darauf aufmerksam geworden war, was hat er wohl da in dem Ruf: „tue dir nichts Übels“, mehr bewundern müssen: den himmlischen Frieden, der die Seele des Paulus auch unter den grausamsten Qualen nicht verlassen hatte, und der so völlig entgegengesetzt war seiner eigenen Herzensunruhe; oder die übermenschliche Liebe, die den Paulus für seine eigenen Leiden unempfindlich machte, und seine ganze Aufmerksamkeit auf die Gefahr seines Hüters hinlenkte? Wie! musste der arme Heide denken, keine Klage für sich selbst und so viele Sorge für die Feinde! Wer sind diese von den andern so ganz verschiedenen Menschen, und woher kommen ihnen Gedanken, die ich nirgends, als bei ihnen gefunden habe? Sollte wirklich Wahrheit in der göttlichen Sendung sein, auf die sie sich berufen, und die mir wie allem Volk ein Werk der Lüge und der Verführung zu sein schien? Sind sie aber, was sie zu sein behaupten, was bin ich dann, ich, ihr Kerkermeister, ihr Henker? Wenn so schon Pauli Zuruf wohl geeignet war, den Kerkermeister zur Einkehr zu bringen, so musste eine noch viel mächtigere Stimme zu seinem Gewissen sprechen, wenn er die vorgegangenen Wunder betrachtete, das Erdbeben, die erschütterten Grundmauern des Gefängnisses, die von selbst aufgehenden Türen, die von den Händen der Gefangenen fallenden Ketten. Der augenscheinliche Schutz, den der Himmel den Aposteln verlieh, stellte die Ungerechtigkeit, mit der die Welt sie verfolgte, in ein noch gehässigeres Licht; den Kerkermeister aber bewog er, in seinem eigenen Betragen eine Freveltat nicht nur gegen vortreffliche Menschen, sondern auch gegen den allmächtigen Gott zu erkennen, der sie sandte und über sie wachte; - und so erweckte er in ihm die Furcht, die wir dem Herrn und der schrecklichen Majestät seines Gerichtes schuldig sind. Was wäre aus ihm geworden, wenn nicht eine barmherzige Stimme seine Hand, da sie schon aufgehoben war, zurückgehalten, wenn er dem Gericht Gottes ohne Reue und ohne Vergebung sich entgegen gestürzt hätte? Jetzt, im Angesicht nicht mehr der Obrigkeit und der menschlichen Gerechtigkeit, sondern Gottes und seines höchsten Gerichts erwacht allmählich sein Gewissen und erzeugt in ihm nach dem Gefühl seines Elends das noch tiefere Gefühl seiner Schuld und der Verdammung, die er sich zugezogen hat. Und gleichwie anfangs die Beweise für die göttliche Sendung der Apostel, die er gesehen hat, ihm dies Gefühl der Reue eingeflößt haben, so macht ihn wiederum dies Gefühl zugänglicher für jene Beweise, und das dringende Verlangen nach der Heilsbotschaft, welches er fühlt, bewirkt vollends, dass er von ihrer Wahrheit überzeugt wird. Auf diese Weise erhebt er sich zu immer höheren Gedanken: er begreift von jetzt an, dass er eine Seele in sich trage, die er retten müsse; er erinnert sich der Vergehungen seines vergangenen Lebens; er wird von Schrecken ergriffen, von Zerknirschung durchdrungen, aber er hofft zugleich, dass diese Menschen von Gott gesandt ihm einen Weg werden zeigen können „zu entrinnen dem zukünftigen Zorn“. Er wirft sein Schwert weg, er fordert Licht, er eilt, oder wie geschrieben steht, er springt in das Gefängnis, wird zitternd und fällt Paulo und Sila zu Füßen, er steht auf wie außer sich, führt sie heraus und ruft endlich mit der Angst einer Seele, die ihren Zustand vor Gott erkannt hat: „Liebe Herren, was soll ich tun, dass ich selig werde?“
Nun komme ich auf euch zurück, meine lieben Brüder. Sollte man, wenn man euch das Evangelium verkündigt, so weit zurückgreifen, sollte man den Anfang damit machen müssen, euch, die ihr euch Christen nennt, erst noch zu überzeugen, dass die Apostel geredet haben, was ihnen der Heilige Geist eingab, und dass, was sie geschrieben haben, das Wort Gottes ist? Wie dem auch sein mag, denkt ihr vielleicht, falls ihr Beweise fordert2), wir könnten euch keine bieten, die so kräftig seien, als die, welche den Kerkermeister zu Philippi bekehrt haben? Vielleicht denkt ihr, die Beweise, die ihn überzeugt haben, hätten auch euch bekehrt, wenn sie euch zu Teil geworden wären. Lasst euch eines Bessern belehren. Das, was der Kerkermeister vor euch voraus hat, ist nicht eine deutlichere Erleuchtung, sondern ein empfänglicherer Sinn. Versetzt euch, so wie ihr seid, in die Gegenwart der Beweise, die den Kerkermeister überzeugt haben, und ihr werdet doch nicht dadurch überzeugt werden. Ihr werdet in dem Erdbeben eine natürliche Veranlassung, in der Geduld und Barmherzigkeit der Apostel einen geheimen selbstsüchtigen Beweggrund finden. Ihr werdet weder durch diese Beweise, noch durch irgend einen andern, und hättet ihr selbst ihn ausgewählt, überzeugt werden, weil ihr nicht überzeugt sein wollt. Und wenn ihr nicht auf die Zeugen hört, die Gott euch gegeben hat (Jesus Christus hat dies denen gesagt, die nur das Alte Testament hatten), „so werdet ihr auch nicht glauben, ob Jemand von den Toten auferstünde“3)). Stellt nun aber im Gegenteil den Kerkermeister zu Philippi den Beweisen gegenüber, die ihr für ungenügend erklärt. Zeigt ihm, wie die gleichzeitige Geschichte den Taten Jesu Christi ein glänzenderes Zeugnis ausstellt, als denen eines Cäsar und eines Pompejus; zeigt ihm, wie die Liebe, die er an Paulus und Silas bewundert, von allen Genossen ihres Werkes geteilt wird, wie übermenschliche Tugenden auf der Erde gewöhnlich geworden sind, und das Evangelium ebenso viele Märtyrer als Bekenner findet; zeigt ihm, wie dies so schwache, arme, verachtete Evangelium, dem sich Hindernisse ohne Zahl auf seinem Wege entgegenhäuften, sie alle hinwegräumte, sich die ganze Erde von einer Eroberung zur andern eilend unterwarf und hier in dem Herzen Galliens, auf der Stelle, wo der Druiden Götzendienst gefeiert wurde, einen Tempel gegründet hat, in welchem ein Diener Jesu Christi heute frei die Lehre Jesu verkündigen darf; zeigt ihm die Wunder, die diese Lebenslehre noch heute in den Herzen ihrer wahren Jünger wirkt, wie sie ihnen den Glauben in Schauen und die Verheißungen in Erfahrungen umwandelt und sie so zu dem Ausruf zwingt: „ich war blind und bin sehend geworden“; zeigt ihm, wie Jesus Christus in seiner Person alle Merkmale vereinigt, die den Messias bezeichnen sollten, und wie jedes Ereignis seiner wunderbaren Geschichte einen Zug aus jenen Prophezeiungen enthält, die bis zur Schöpfung hinaufreichen, und deren letzte Seite fünfhundert Jahre vor seiner Erscheinung geschrieben wurde; und vor allem zeigt ihm auch das Volk Israel, dieses so einzig dastehende Volk, welches bis auf den heutigen Tag vor euren Augen die dreitausendjährigen Verheißungen des ersten seiner Propheten wahr macht, welches sich zerstreut hat, um unter allen Zonen ein immer lebendes Zeugnis von der Ehre dessen zu geben, den seine Hände gekreuzigt haben; zeigt ihm dieses alles und behauptet dann, wenn ihr es wagt, dass er nicht überzeugt sein wird, oder vielmehr, dass er euch nicht um das Vorrecht eines Lichtes beneiden wird, welches so hellleuchtend ist im Vergleich mit dem schwachen Strahl, der zu ihm in die Finsternis eines heidnischen Gefängnisses drang. Und ihr? wollt auch ihr wie er zur vollständigen Einsicht gelangen? habt ihr den aufrichtigen Wunsch, von euern unbestimmten Zweifeln euch völlig loszumachen, die euch noch der Wahrheit und euch selbst zum Trotz verfolgen? Fragt wie er euer Gewissen. Erkennt auch ihr euern Zustand vor Gott. Und habt ihr dann gelernt, euch zu sehen, wie ihr wirklich seid, als Schuldige, Verdammte, Verlorene, ja, als Verlorene: dann glaubt mir, wird alles, was noch an Zweifeln über die Göttlichkeit des Evangeliums euch geblieben sein könnte, wie Schuppen von euern Augen fallen; euer Herz wird, erneuert durch die Heilsverkündigung des Evangeliums, euch über die göttliche Eingebung der apostolischen Schriften mehr sagen, als alle Beweisgründe der Welt es vermöchten.
Und nun frage ich euch, meine lieben Brüder, ob ihr euch in der Tat als solche erkennt, die schuldig, verdammt und verloren sind? Gehört ihr zu denen, die sich damit begnügen, der Bösewichter noch Gottlose zu sein, und die sich einbilden, der höchste Richter begnüge sich damit ebenso wie sie selbst? Kennt ihr ihn wirklich so wenig? kennt ihr euch selbst so wenig? Kann denn jemand von euch leugnen, muss nicht Jeder von euch es bekennen, dass er ein armer Sünder ist, der alle Gebote Gottes übertreten hat? Lasst uns einmal die Probe machen an den zehn Geboten, die euch jeden Sonntag vorgelesen werden, und die einen Abriss seines ganzen Gesetzes enthalten. Habt ihr keines derselben verlegt? oder habt ihr sie nicht vielmehr alle vom ersten bis zum letzten übertreten? Habt ihr niemals vor dem Angesicht des wahren Gottes andre Götter gehabt? habt ihr euch nie ein Bildnis gemacht und vor demselben angebetet? das will sagen, habt ihr nichts anderes mehr als Gott geliebt, habt ihr nicht euer Geld, euere Lüste, euere Leidenschaften zu Götzen gemacht? Habt ihr nie den Namen Gottes missbraucht, nie diesen hochheiligen Namen in leichtsinniges Geschwätz, in unwürdige Scherze, in hässliche Spöttereien gemischt? Habt ihr niemals den Tag des Herrn durch ungehörige Sorgen entweiht oder durch Vergnügungen, die der heiligen Gottesruhe widerstreiten? Habt ihr es nie an der Ehrfurcht fehlen lassen, die ihr euern Eltern schuldig seid? Habt ihr niemals getötet, das heißt nach dem Ausdruck des Apostels, habt ihr nie das Gefühl des Hasses oder der Rache genährt?4) Habt ihr niemals die Ehe gebrochen? das heißt nach der Erklärung des Herrn, habt ihr nie ein Weib angesehen, ihrer zu begehren?5) Habt ihr niemals gestohlen, nie um eures Vorteils willen einen Betrug oder eine Unredlichkeit begangen, wie sie im Verkehr so häufig sind? Habt ihr niemals falsches Zeugnis geredet, niemals verleumdet, gelästert, gelogen? Ließt ihr euch nie gelüsten eures Nächsten Hauses, noch seines Weibes, noch seines Knechtes, noch seiner Magd, noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles, was euer Nächster hat? - Säumt ihr noch euch selbst zu verdammen, so hört, was Gott von euch, von einem Jeden unter euch in seinem Wort sagt: „Da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer.“ „Er kann ihm auf tausend nicht eins antworten.“ „Sie sind allzumal Sünder“. „Auf dass aller Mund verstopft werde, und alle Welt Gott schuldig sei“6).
Wenn ihr nun aber gesündigt habt, fürchtet ihr da nicht Gottes Gerechtigkeit? Was wird vor ihr aus euern Sünden? Glaubt ihr, dass sie dort unbeachtet bleiben, dass sie vergessen, geduldet werden? Ich beschwöre euch, welch verkehrten Begriff macht ihr euch dann von dem, „der aller Welt Richter ist“7). Werden sie aber heimgesucht und bestraft, was wird da euer Los sein? Wenn euch nicht bei diesem Gedanken schaudert, so hat das einen Grund, der euch keineswegs als Entschuldigung dienen kann, sondern der euch nur noch schuldiger macht. Ihr seid nämlich von eurer Geburt an dermaßen von der Sünde umstrickt, dass ihr sie gleich der Luft einatmet und gleich dem Wasser trinkt, dass sie euch zur zweiten Natur geworden ist; könnte sie sich euch zum ersten Mal zeigen, sie würde euch durch ihre furchtbare Neuheit mit Entsetzen erfüllen. Fasst sie einmal ins Auge. Seht, das göttliche Gesetz wird mit Füßen getreten, die Weltordnung wird verkehrt, das Geschöpf lehnt sich auf gegen seinen Schöpfer, der Mensch erhebt die Hand gegen Gott, und um das Maß seines Frevels voll zu machen, dieser verirrte, undankbare, gottlose Mensch rechtfertigt noch seinen Abfall, wenn er nicht gar darüber scherzt, und spricht in aller Ruhe: „was habe ich denn Übles getan?“ Und ihr, meine Brüder, säumt ihr etwa noch, euch selbst euer Urteil zu sprechen, so hört, was Gott jedem von euch in seinem Wort verkündigt: „Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibt in allem dem, das geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, dass er es tue“. „Der Tod ist der Sünde Sold“. „Die Verfluchten werden in die ewige Pein gehen“8). Ich weiß es wohl, dass wir die ewige Pein nicht erwähnen können, ohne bei gewissen Zuhörern ein ungläubiges Lächeln zu erregen. Aber nehmt euch in Acht! Ihr glaubt, dass es keine ewige Pein gibt, doch seid ihr dessen so gewiss? Wer hat es euch gesagt? Und fragt ihr uns, wer uns gesagt hat, dass es eine ewige Pein gibt, so antworten wir, Gott hat es in seinem Wort gesagt: „die Verfluchten werden in die ewige Pein gehen.“ Seid ihr dessen so gewiss, dass wo die Bibel bestätigt, und ihr verneint, der Irrtum auf Seiten der Bibel und die Wahrheit auf eurer Seite ist? Seid ihr so gewiss, dass ihr unparteiische Richter in eurer eigenen, in einer so furchtbaren Sache seid? Seid ihr gewiss, dass das heimliche Bewusstsein, auch ihr habet die ewige Pein, wenn es eine geben sollte, verdient, für nichts zu achten sei bei eurer Überzeugung, es gebe keine ewige Pein? Ach, strebt nicht danach, euch zu übertäuben; erkennt vielmehr, so lange es noch Zeit ist, mit dem Kerkermeister zu Philippi, dass ihr verdammte, verlorene Sünder seid, dass ihr gleich ihm Grund habt, Unruhe zu hegen in eurer Seele, die einer furchtbaren Gefahr ausgesetzt ist, der aber eben diese Gefahr zu der Erkenntnis verhilft, dass im Evangelium die Heilslehre enthalten ist, erkennt, dass ihr also Grund genug habt, in seine Frage einzustimmen: „Was soll ich tun, dass ich selig werde?“
Ich male mir aus, was Paulus und Silas empfinden mussten, als sie diese Worte aus dem Munde des Kerkermeisters hörten. O, welche Freude, welche Wonne für sie! Ich glaube sie zu sehen, diese treuen Jünger Jesu Christi, wie sie jetzt ihre Blicke auf den armen Heiden richten, der soeben noch ihr unbarmherziger Hüter war, fortan ihr gelehriger Schüler sein wird; wie sie nun wieder sich zu einander wenden, als wollten sie sich gegenseitig mit froher Miene beglückwünschen, wollten sich zurufen: welch ein Werk hat der Herr getan, wie ist er mächtig und getreu! Ich glaube sie zu sehen, wie sie die Augen zum Himmel erheben, von Gefühlen beseelt gleich den Engeln des Himmels bei der Bekehrung eines Sünders; wie sie vielleicht einen vorübereilenden Blick auch auf sich selbst werfen, auf ihre zerrissenen Kleider, auf ihre geschundenen Füße, auf ihre blutenden Wunden wie sie ihre Leiden segnen, die dem Herrn Jesus Christus eine Seele gewonnen haben. Wohl hat der Kerkermeister noch nicht die Erlösung gefunden, nach der er seufzt, aber er sucht sie mit aufrichtigem Herzen; und Paulus und Silas wissen, dass wer da sucht, der findet. Sie wissen, dass eine so vorbereitete Seele die frohe Heilsbotschaft nur noch zu hören braucht, um sie sofort aufzunehmen und zu erfassen mit dem Gefühl, welches der Prophet so anschaulich bezeichnet: „Dein Wort ist unsers Herzens Freude und Trost“9). Auch wir, meine Brüder, mit welchem Vertrauen würden wir euch die Gnade Jesu Christi verkündigen, wenn wir nur hoffen könnten, dass ihr soweit geführt wärt, sie von ganzem Herzen zu ersehnen und zu suchen. Ihr aber, ihr zerbrochenen und zerschlagenen Herzen, die ich nicht kenne, wohl aber Gott; ihr, die ihr euch mit dem Kerkermeister zu der Apostel Füßen hättet werfen und ausrufen mögen: „Was soll ich tun?“ beruhigt euch: ihr könnt in diesem Tempel darauf ebenso gut eine Antwort finden, als in dem Gefängnisse zu Philippi. Hat Jesus nicht zu uns gesprochen: „Ich bleibe bei euch bis an der Welt Ende?“ Sein Wort ist in unsern Händen, wie es in der Apostel Munde war. Paulus, wenn er gleich tot ist, so spricht er doch noch zu uns: „Glaube an den Herrn Jesum, so wirst du selig.“
Glaube! sagt das Evangelium und nicht: handle! dadurch unterscheidet es sich von allen menschlichen Satzungen. Alle Lehren, die vom Menschen erdacht sind, und alle falschen Auslegungen der göttlichen Wahrheit, die der Mensch ersonnen hat, von der Religion des Fakirs und des Braminen bis zur Lehre des Pharisäers und Rationalisten sagen zum Sünder: Tue dies, so wirst du leben. Bringe dein Leben, deine Gesundheit oder deinen Wohlstand zum Opfer; stürze dich unter die blutigen Räder des Wagens von Jaggernaut; setze dich auf die Erde und strecke den Arm aus, bis er steif wird und verdorrt; bewahre bis zum Ende deiner Tage ein gänzliches Stillschweigen, so soll dir die Vergebung deiner Sünden zu Teil werden. Oder auch: Verrichte Bußübungen, unternimm eine lange Wallfahrt, verlasse die Gesellschaft der Menschen und begrabe dich lebendig in eine traurige Einöde; faste, sei enthaltsam, geißele dich, kreuzige dich, so werden dir deine Sünden vergeben werden. Oder endlich: Tue gute Werke, stehe den Armen bei, besuche die Kranken, bekämpfe deine Neigungen, sei mäßig, gerecht, untadelhaft, - so wirst du die Vergebung deiner Sünden erlangen. Das alles sind verblendete Lehren, denn sie vermischen die Bedingungen des Gesetzes, das den sündigen Menschen verdammt, mit den Verheißungen des Evangeliums, welches den verdammten Menschen freispricht, „wollen der Schrift Meister sein und verstehen nicht, was sie sagen, oder was sie setzen“10)! Es sind ohnmächtige Lehren, denn sie wissen dem Kranken nur solche Ratschläge zu geben, an deren Befolgung ihn seine Krankheit selbst verhindert; sie sprechen zum Gichtbrüchigen: gehe! zum Blinden: sieh! und zum Sünder: sündige nicht! Zu gleicher Zeit aber sind es auch verderbliche Lehren, denn indem sie den Menschen auffordern, seine Erlösung in sich selbst zu suchen, so verwickeln sie ihn immer mehr in sein eigenes Elend; fügen den Sünden, die ihn verderbt haben, noch die größere Sünde des Hochmuts hinzu, der ihn zu dem Glauben verleitet, er könne sich selbst erretten, und machen so aus einem armen Kerkermeister von Philippi einen stolzen Pharisäer von Jerusalem! O, wie so ganz anders lautet die Sprache des Evangeliums: „Glaube“! Verzehre dich nicht mehr in unfruchtbaren Anstrengungen, aus eigenen Kräften deine Versöhnung mit Gott zu bewirken: es wird dir nie gelingen. Du hast dich selbst ins Verderben gestürzt, du kannst dich aber nicht selbst daraus erretten. Du kannst nichts hinzubringen, kannst nichts opfern, nichts vollbringen, womit du deine Seele könntest erlösen11). Siehe ab von dir selbst, blicke höher hinauf: glaube. Es bleibt dir ein Mittel übrig, das dich erretten kann: dann musst du aber an dir selbst gänzlich verzagen, du musst dich selbst ohne Rückhalt verdammen, musst dich an deinen rechten Platz stellen, nämlich an den des Sünders, der das ewige Feuer verdient hat; du musst zu Gott rufen: „Gott sei mir Sünder gnädig“12). „Denn aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben; und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf dass sich nicht Jemand rühme“13).
Durch den Glauben wurde Abraham, der Vater der Gläubigen gerettet. „Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“ Denn, fügt der Apostel hinzu: „dem, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnaden zugerechnet, sondern aus Pflicht. Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit14). Durch den Glauben wurden Abel, Henoch, Noah und alle Heiligen des alten Bundes gerettet. Durch den Glauben wurden Paulus, Petrus, Johannes und alle Heiligen des neuen Bundes gerettet. Durch den Glauben ist alles gerettet, was seit Anbeginn der Welt gerettet worden ist. Durch den Glauben wird alles gerettet werden, was gerettet werden wird bis zum Ende der Zeiten. Durch den Glauben kannst auch du, wer du auch sein magst, gerettet werden. Rechne weder auf deine Werke, noch auf deine Gaben, weder auf deine Opfer, noch auf deine Tugenden, rechne auf nichts, was in dir oder was an dir ist. Aber glaube an Gott und vertraue einzig auf ihn, damit du durch seine Gnade gerechtfertigt werdest, damit du Ohnmächtiger, Unwürdiger das ewige Leben empfängst als reine Gnade aus seiner allmächtigen, allbarmherzigen Hand, damit du durch ein Heil errettet werdest, das von Anfang bis zu Ende nicht dein Werk, sondern Gottes Werk ist!
Was muss ich aber glauben? wo ist dieses unverdiente Heil, das Gottes Gnade uns anbietet? Die Apostel unsres Textes antworten uns darauf: „Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du selig.“ An den Herrn Jesum Christum glauben, das ist ein Wort, was ihr so oft gehört, was ihr euch selbst von eurer zartesten Kindheit an so oft wiederholt habt, dass es euch kaum in den Sinn kommt, dasselbe bedürfe noch einer besonderen Erklärung für euch. So sollte es freilich sein, eine solche Erklärung sollte nur für einen Heiden, nicht für einen Christen notwendig sein. Aber ach, besinnt euch wohl: würdet ihr in diesem Augenblick aufgefordert, Rechenschaft von euerm Glauben zu geben, käme ein Suchender wie der Kerkermeister zu euch mit der Frage: was diejenigen glauben, die an Jesum Christum glauben, fühltet ihr euch dann so gut vorbereitet, dass ihr ihm eine feste, deutliche Antwort geben könntet, eine Antwort, die ihn befriedigen und ihm zur Seligkeit verhelfen könnte? Wir dürfen uns also nicht damit begnügen, euch zu sagen: glaube an den Herrn Jesum Christum; wir müssen euch vielmehr diesen Lehrsatz entwickeln; wir müssen euch das Wort des Herrn auslegen, wie Paulus und Silas es bei dem Kerkermeister taten. Erwartet hier keine langen und verwickelten Erklärungen. Es ist eine ganz einfache Sache, die ein Kind begreifen kann, und gerade deshalb zum Teil begreifen die meisten sie nicht, denn sie haben zu viel Hochmut, um sich mit einem Heil zu begnügen, das alles äußeren Glanzes entbehrt; sie sind jenem stolzen Naeman zu vergleichen, dessen Diener ihm mit großer Wahrheit sagten: „Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes hätte geheißen, solltest du es nicht tun? Wie viel mehr, so er zu dir sagt: wasche dich, so wirst du rein“15). Wir brauchen nur unserm heiligen Erzähler zu folgen; bald nach unserm Text finden wir Aufschluss über Pauli Predigt, denn einige Tage später entwickelt er denselben Gedanken in der Judenschule zu Thessalonich. „Sie kamen gen Thessalonich, da war eine Judenschule. Nachdem nun Paulus gewohnt war, ging er zu ihnen hinein und redete mit ihnen auf drei Sabbaten aus der Schrift, tat sie ihnen auf und legte es ihnen vor, dass Christus musste leiden und auferstehen von den Toten, und dass dieser Jesus, den ich euch verkündige, ist der Christ“16).
Ihr hört es aus Pauli Mund: an Jesus Christus glauben, heißt glauben, dass Jesus von Nazareth, der vor 1800 Jahren in Jerusalem gekreuzigte und gestorbene, der Christus, der Messias, der im ganzen Alten Testament verheißene Heiland ist. Unmittelbar nachdem „die Sünde in die Welt gekommen war und durch die Sünde der Tod“, verhieß Gott dem sündigen Menschen, so sehr er ihn auch verdammte, für die künftigen Zeiten einen Heiland, nämlich „den Weibessamen, der der Schlange den Kopf zertreten solle“17), oder wie der Apostel Johannes es ausdrückt: „den Sohn Gottes, der die Werke des Teufels zerstören solle“18). Abel glaubte an die Verheißung und brachte Gott als Zeugnis seines Glaubens das erste Opfer dar; er bekannte damit, dass er den Tod verdient habe, vertraute aber zugleich auf die Gnade Gottes, dass sie eines unschuldigen Opfers Blut statt seines eigenen annehmen werde. Von da stammen die drei großen Gedanken: die Sünde des Menschen, die Gnade Gottes und das Blut eines Versöhners, der zwischen beiden vermittelt; diese Gedanken sind dann fort und fort erläutert, entwickelt, von Jahrhundert zu Jahrhundert fruchtbarer geworden und haben zu allen Zeiten den Glaubensgrund des erwählten Volkes gebildet, welches Gott am letzten Tage zum ewigen Leben berufen wird: „Versammelt mir meine Heiligen, die den Bund mehr achten denn Opfer“19).
Zweitausend Jahre vergeben, vor dem Herrn sind sie gleich zwei Tagen20). Gott beruft den Abraham aus einer heidnischen Familie, erwählt ihn aus Gnade und macht ihn zum Wahrer der göttlichen Gnadenverheißung. Von nun an heißt der Messias nicht mehr bloß Nachkomme des Weibes, sondern seine Herkunft ist bestimmt, er ist ein Nachkomme Abrahams und stammt aus dem Land, das Gott diesem zum Erbteil gegeben: er ist also der verheißene Messias aus der verheißenen Familie in dem verheißenen Land. Während sich so alles zur Erfüllung der Verheißung vorbereitet, wird das Gesetz auf dem Sinai verkündet und mahnt die bestürzten Völker, dass es für sie nur Drohungen hat, dass sie also ihren Blick anders wohin richten müssen, um vor Gott gerechtfertigt zu werden21). Zugleich treten die Propheten auf, bezeichnen von Jahrhundert zu Jahrhundert immer unverhüllter das auserwählte Geschlecht, aus dem der Messias hervorgehen soll, geben denen, die ihn suchen, Zeichen, woran sie ihn werden erkennen können, immerfort wachsend an Zahl und Deutlichkeit in dem Maß, wie sich die bestimmten Zeiten nähern. Wie Abel erwartet ihn die Kirche des Alten Testaments und stellt vorbildlich durch Darbringung ihrer Opfertiere das große Opfer dar, welches für die Sünde genug tun soll.
Abermals verfließen zweitausend Jahre, und der Herr kommt in die Welt in der Person Jesu von Nazareth. Er kommt „in der Gestalt des sündlichen Fleisches“22). Er erfüllt das ganze Gesetz, und dann stirbt er, er, der „Lebensfürst“, damit wir, die wir den Tod verdient, das Leben haben: „er hat unsre Sünden selbst geopfert an seinem Leib auf dem Holz; an ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden“23). Gott erweckt ihn am dritten Tag von den Toten, erkennt ihn Angesichts der ganzen Welt für seinen Sohn und nimmt seinen Tod als ein Opfer für die Sünde an: „Welcher ist um unserer Sünde willen dahin gegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt“24). Damit ist alles erfüllt. Jesus fährt auf zum Himmel und setzt sich zur Rechten Gottes; und nunmehr lässt sich der Heilige Geist herab auf die Erde und vollendet die Gründung des Reiches Gottes. Seht, das ist unser Glaube. Für uns ist der Messias gekommen, und dieser Messias ist Jesus. Wir glauben an das Zeugnis, das er sich selbst gegeben hat, als er zu der harrenden Welt sprach: „Ich bin es“25). Wir stimmen dem einfachen Bekenntnis bei, das Philippus dem Nathanael ablegte: „Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn von Nazareth“26). Für uns ist Jesus der Weibessame, der der Schlange den Kopf zertreten soll. Für uns ist er der Nachkomme Abrahams, in dem alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen. Für uns ist Jesus „der Christ, der in die Welt kommen sollte, der Herr“. ja der Herr, geboren von der Jungfrau Maria, empfangen durch den heiligen Geist“; „Menschensohn“ aber „Gottessohn“; Menschensohn, das heißt Mensch; Gottes Sohn, das heißt Gott; „Gott mit uns;“ der Gott des sündigen Menschen, „unser Herr und unser Gott“27). Wir glauben an den Herrn Jesum Christum: beachtet wohl die ganze Kraft dieses Ausdrucks. Wir glauben nicht nur alles das von dem Herrn Jesus Christus, sondern wegen alles dessen glauben wir an den Herrn Jesum Christum. Wir vertrauen, wir verlassen uns ganz auf diesen Heiland, um durch ihn allein selig zu werden. Der Ausdruck Pauli hat in der Ursprache eine besondere Kraft, die wir nicht ganz so in der Übersetzung wiederzugeben vermögen. Er bedeutet: „Glaube auf den Herrn Jesum Christum.“ Versteht ihr das, meine Brüder? Stütze auf ihn die ganze Hoffnung deines Heils; baue auf ihn, baue ohne Bedenken, er ist „der Fels der Ewigkeit“; hüte dich nur, auf etwas anderes zu bauen, denn außer ihm findest du nur fliegenden Sand. Oder wie der Heilige Geist sich sonst ausdrückt: glaube „in Jesum Christum“; dringe ein in ihn, bekleide dich mit ihm und zeige dich vor Gott nicht anders, als völlig eingehüllt in die Gerechtigkeit seines Sohnes. Ja, du armer Kerkermeister von Philippi, und du, Teilnehmer an gegenwärtiger Versammlung. wer du auch seist, so glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du selig.
Du wirst selig! So glauben und dann selig werden! Welches Verdienst hat denn dieser Glaube, dass er uns selig macht? Merkt wohl auf unsere Antwort, die nicht von uns herrührt, sondern vom heiligen Geist: „Die Gerechtigkeit muss durch den Glauben kommen, auf dass sie sei aus Gnaden.“ „Aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben. Nicht aus den Werken, auf dass sich nicht Jemand rühme“28). Gerade weil uns so ohne all unser Verdienst das Heil zu Teil wird, hat Gott dies Mittel zu unsrer Seligmachung erwählt, damit wir zu unserer Beschämung und zu seiner Ehre erkennen, dass unsere Erlösung Gottes Werk und nicht Menschenwerk ist, dass ihm allein dafür die Ehre gebührt; dass wir, wenn wir erlöst sind, nichts getan haben, was uns der Seligkeit würdig macht, sondern dass der barmherzige Gott es ist, der uns Unwürdige erlöst, indem er uns durch seine unverdiente Gnade rechtfertigt. Nicht wir haben durch unsre Werke das ewige Leben verdient; der Vater ist es, der uns erwählt hat, damit er uns das ewige Leben aus Gnaden durch den Glauben schenkte. Ehre sei dem Vater! Nicht wir haben das Lösegeld für unsre Sünden gezahlt; der Sohn ist es, der das Sühnopfer für unsre Sünden mit seinem Blut dargebracht hat. Ehre sei dem Sohn! Nicht wir haben unsre Herzen erneuert: der Heilige Geist ist es, der in uns ein neues Herz und einen neuen Geist geschaffen hat. Ehre sei dem heiligen Geist! Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist!
Aber vielleicht nehmen einige meiner Zuhörer Anstoß an eben der Unverdientheit, die wir an der Heilsverkündigung des Evangeliums verehren! Vielleicht fühlen sie sich versucht zu dem Einwurf, dass die Lehre von einer Seligkeit, die durch den Glauben und nicht durch gute Werke erlangt wird, ihre Bekenner gegen gute Werke gleichgültig machen und zur Sünde ermutigen müsse? Mein Gott, ich habe noch nie gehört, dass man die Sonne beschuldigt, sie verdunkle die Natur; oder das Wasser der Flüsse, es trockne das Land aus: weshalb muss ich denn hören, dass man deine heilige und heiligende Lehre beschuldigt, sie ermutige die Sünde? Aber solltet ihr, die ihr eine solche Sprache zu führen wagt, wohl gehörig darüber nachgedacht haben? Könnte es in unsrer Mitte wirklich ein so undankbares Herz geben, welches zu denken fähig wäre: wenn ich glaubte, Gott habe mich so sehr geliebt, dass er mich aus Gnaden durch das Blut seines eingeborenen, geliebten Sohnes selig macht, so würde ich mich nicht mehr vor seinem Missfallen fürchten? Wäre es möglich, dass Jemand unter euch mit solchen Gedanken an Jesum Christum glaubte, so wisse er, dass sein Glaube ihn nicht selig machen kann. Denn es steht geschrieben: „Der Glaube ohne Werke ist tot;“ und auch: „Ohne Heiligung wird Niemand den Herrn sehen.“ Er wisse aber auch, dass wenn er in solchem Sinn die Lehre, die wir predigen, aufnimmt, er nicht unsre Lehre angenommen hat, sondern eine andre Lehre, die seine Vorurteile ihr untergeschoben haben. Jedenfalls erkennt man den Baum an seinen Früchten: und hätte jemand von der Lehre meines Heilandes so unwürdige Vorstellungen, so wollest du selbst, o Herr, sie verteidigen; du bedarfst meiner schwachen Hilfe nicht! Sie klagen dich der Unfruchtbarkeit an, antworte ihnen, Baum des Lebens, dadurch, dass du auf ihr undankbares Haupt die Früchte herabschüttest, mit denen du beladen bist. Reizte die Lehre von der Gnade etwa den Kerkermeister von Philippi zur Sünde, als er die Diener Gottes, die er früher eingeschlossen und gequält hatte, in sein Haus führte und an seinem Tisch speiste; als er ihnen mit zärtlicher Sorgfalt ihre Wunden wusch, die er bis dahin durch seine Grausamkeit nicht nur vernachlässigt, sondern noch verschlimmert hatte; als er sich mit seiner ganzen Familie von ihren Händen taufen ließ ungeachtet des Volkes, welches sie noch gestern verfluchte, ungeachtet der Oberen, die ihm befohlen hatten, sie in enger Haft zu halten, die ihm noch vor einem Augenblick solchen Schrecken einflößten, dass er sich, um ihrer Strafe zu entgehen, selbst den Tod geben wollte? Reizte diese Lehre Paulus und Silas zur Sünde, als sie alles verließen, allem Trotz boten, alles erduldeten, jeden Augenblick bereit waren zu sterben, um ihren Mitmenschen Anteil zu verschaffen an der Seligkeit, die sie selbst genossen; als sie von Schlägen zerfleischt, mit gefesselten Händen und Füßen demselben Gott, um dessentwillen sie litten, Loblieder sangen; als sie gleichgültig gegen ihre eigenen Leiden nur durch die Gefahr ihres Wächters erregt wurden und ihm zugleich Leib und Seele retteten? Reizte sie einen Polykarpus, Ignatius, Irenäus und alle jene ruhmreichen Märtyrer der ersten Kirche zur Sünde, als man sie zwang, zwischen Abtrünnigkeit und Folter, zwischen dem Götzendienst und den ausgesuchtesten Todesqualen zu wählen, und sie Folter und Todesstrafen erwählten und gleich ihrem Meister ihren letzten Seufzer unter Gebeten für ihre Henker aushauchten und in sie drangen, sich zu bekehren? Reizte sie unsre gottseligen Reformatoren, einen Luther, Zwingli, Calvin zur Sünde, als sie das ewige Evangelium vor den Augen der Völker wieder aufrichteten; als sie durch ihre Predigt Familien, Städte, ganze Völker wieder erweckten; als weder Drohungen sie zu erschüttern, noch Versprechungen sie zu verführen vermochten; als der eine von ihnen, Luther, vor jene Reichsversammlung berufen, wo die Mächtigsten der Welt tagten, zum Widerruf und zu einer andern Lehrweise gedrängt wurde und keine andre Antwort fand als diese: „Hier stehe ich. Im Namen Gottes, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen“? Und um es kurz zu sagen, reizte sie einen Chrysostomus, Augustin, Bernhard, Wikleff, Hus, Hieronymus von Prag, Pascal, Claudius Brousson, Zinzendorf, Whitefield und alle die strahlenden Leuchten des evangelischen Glaubens zur Sünde, als sie das Licht ihrer guten Werke vor den Menschen leuchten ließen, als sie nur zur Ehre Gottes und für den Dienst des Nächsten lebten; als sie die Welt mehr noch durch ihre Heiligkeit wie durch ihre Lehre in Erstaunen setzten; als einer von ihnen, Lord Cobham, da er den Glauben seines Lehrers Wikleff gegen dieselbe Beschuldigung verteidigte, die wir eben jetzt zurückweisen, am Tag vor seinem Märtyrertod so zu seinen Richtern sprach: „Ich verstehe nichts von allem, was ihr sagt. Eins aber weiß ich, nämlich dass ich niemals die Sünde verlassen habe bis zu dem Tag, wo ich an diese feine so sehr verkannte Lehre geglaubt habe“? Aber wozu so viele Zeugnisse aus der Geschichte vorführen? Ist es nicht genügend, euch, die ihr den abgenutzten Einwurf der Weisheit dieser Welt gegen die Lehre von der unverdienten Gnade zu erneuern wagt, an euer eignes Gefühl zu verweisen? Seid gegen euch selbst aufrichtig: fühlt ihr nicht in eurem Innern, dass, wenn ihr diese Lehre annähmet, sie, weit entfernt euch. zur Sünde zu reizen, euch vielmehr zwingen würde, ihr zu entsagen? Habt ihr vielleicht gar eben deshalb einen Widerwillen gegen ihre Annahme? Da sollt ihr eine so große Sinnesänderung vornehmen, so vielen Sünden entsagen, so viele zweifelhafte Vergnügungen aufgeben und ein christliches Leben führen, das für euch nur aus Entbehrungen und Opfern zu bestehen scheint; ja, wäre das nicht am Ende der wahre Beweggrund, der Manche vom Glauben abhält? ein Grund, den man aber nicht einzugestehen wagt, den man lieber ohne Scheu unter einer Art von Eifersucht gegen eben die Heiligkeit verbirgt, von der man nichts wissen will? Sollte es so um euch stehen, meine teuren Zuhörer . . . . Aber ich verschone euch; ich will euch heute nur zeigen, wie schlecht ihr den christlichen Glauben kennt, wenn ihr ihn für einen Feind eures Glücks haltet.
Das ist gewiss, dass ihr kein christliches Leben führen könnt, ohne durchaus mit der Sünde zu brechen. Ebenso wenig könnt ihr es führen, wenn ihr nicht sowohl der Welt, als auch, was dem natürlichen Menschen noch schwerer wird, euch selbst entsagt. Gerade dies Leben der Entsagung und der Heiligkeit aber, das ihr euch so ernst und unerträglich denkt, ist im Gegenteil mit Freuden erfüllt, die besser sind, als alle Weltfreuden. Ich nehme noch einmal den Kerkermeister zum Zeugen. Wer hat mehr zu ändern, mehr zu verlassen, mehr zu dulden vielleicht, als ein Heide, der sich für das verhasste, verfolgte Evangelium erklärt? Aber wünscht er etwa sein vergangenes Leben zurück; fürchtet er die heilige Laufbahn, die sich vor ihm eröffnet? Nein: „er freut sich mit seinem ganzen Hause, dass er an Gott gläubig geworden ist“. Ferner nehme ich zum Zeugen den Kämmerer aus Mohrenland, der als er geglaubt und die heilige Taufe empfangen hatte, „fröhlich seiner Straße zog“29). Auch den Herrn selbst nehme ich zum Zeugen, ihn, der Niemanden je getäuscht hat: er sagte zu seinen Jüngern kurz zuvor, ehe er sie verließ: „Solches rede ich zu euch, auf dass meine Freude in euch bleibe, und eure Freude vollkommen werde“30). Und statt alles Weiteren nehme ich euch selbst zu Zeugen, ja, euch selbst. Was, denkt ihr, war das Beste für den Kerkermeister zu Philippi: die Gunst seiner Herren, der Beifall einer gottlosen Welt, der Leichtsinn eines irregeführten Gewissens, oder die innere heilige Freude, die er zum ersten Mal empfand, als er die Apostel losband, als er ihre Striemen wusch, als er sich mit all den Seinen von ihnen taufen ließ? Was, denkt ihr, war das Beste für Paulus und Silas: war es die Ruhe, das Wohlbefinden, vielleicht das Leben, das sie aufs Spiel setzten, oder war es die innere heilige Freude, die ihre Herzen selbst unter den bittersten Schmerzen erfüllte, die sie zu Lobgesängen begeisterte in einem Augenblick, wo ihr an ihrer Stelle vielleicht nichts zu tun gewusst hättet, als zu klagen und zu verzweifeln? Was, denkt ihr, meine teuren Brüder, was ist für euch selbst das Beste: sind es die Weltehren, die Weltfreuden, die Weltbefleckungen, die das Evangelium als Opfer fordert, oder ist es die innere heilige Freude, der Friede des Gewissens, die Zuversicht der Sündenvergebung, die Geduld in Prüfungen, die Ruhe im Tod, die ihr nur dann erfahrt, wenn ihr das Evangelium annehmt und euch dem Herrn Jesu Christo ganz hingebt? Und was ist dies unvollkommene Bild, das ihr euch davon ausmalen könnt, gegen die Wirklichkeit, deren beseligende Erfahrung wir euch wünschen, wir für euch von Gott erflehen? Ach, wenn ihr wüsstet, was es heißt, Gott als Vater, Jesum Christum als Bruder, den heiligen Geist als Tröster und Führer zu haben! Wenn ihr wüsstet, was es heißt, jeden Morgen beim Erwachen sich sagen zu können: meine Sünden sind mir vergeben! und jeden Abend beim Einschlafen: wenn mir diese Nacht meine Seele abgefordert wird, so werde ich bei Gott sein. Wenn ihr wüsstet, was es heißt, Gott immer zugänglich, immer gegenwärtig, immer gnädig zu wissen, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht sich mit ihm unterhalten zu können, wie ein Kind mit seinem Vater, wie ein Freund mit seinem Freund! Wenn ihr wüsstet, was es heißt, Jesum Christum zu kennen, ihm zu dienen, für ihn zu leiden, in ihm zu leben und in ihm zu sterben: O, wenn ihr das wüsstet, so würdet ihr euch ihm hingeben, wäre es auch nur wegen der Seligkeit, die euch im christlichen Leben sicher wäre!
Zögert denn nicht länger! Seid getreu: getreu euerm Gott und getreu euch selbst. Flieht den zukünftigen Zorn. Meidet das verkehrte Geschlecht. Glaubt noch heute, „so werdet ihr heute selig“, so werdet ihr euch heute freuen, an Gott gläubig geworden zu sein. Bei Gott ist es nicht unmöglich, euch aus diesem Gotteshaus als Gläubige heimkehren zu lassen, mögt ihr es auch vielleicht als Ungläubige betreten haben, - ebenso wenig als es ihm unmöglich gewesen ist, den Glauben mit seinen schönsten Früchten in dem Herzen des Kerkermeisters zu erwecken in eben der Nacht, wo er die verbrecherische Hand gegen sich selbst erhoben hatte; eben so wenig auch, als es ihm unmöglich gewesen ist, Lydia am Fluss, Zachäus auf dem Baum, den Schächer am Kreuz zu bekehren. Amen!