Monod, Adolphe - Bist du ein Totschläger?
2. Buch Moses. 20,13.
„Du sollst nicht töten.“
Die Wahl dieses Textes überrascht euch. Es will euch bedünken, ein solcher Gegenstand passe besser in einen übelberüchtigten Wald und für eine Räuberbande, als für eine Kirche und für eine Versammlung der anständigsten und rechtschaffensten Menschen. Und wie wäre es möglich, dass es unter dieser um mich versammelten Gemeinde Menschen gäbe, die dies Gebot: „Du sollst nicht töten,“ zu übertreten fähig wären?
Ich begreife euer Erstaunen, bitte euch aber, euch nicht zu übereilen. Man nimmt viele unwahrscheinliche Dinge bei aufmerksamer Betrachtung wahr. So wollen wir denn die Sache untersuchen; übrigens sollt ihr eure eigenen Richter sein. Ich will Niemanden richten, über Niemanden absprechen. Ich will mich darauf beschränken, euch Fragen vorzulegen, und überlasse einem Jeden die Sorge, für sich selbst in seinem Gewissen und vor Gott sie zu beantworten.
Bemerken wir zuerst, dass es zwei Arten gibt, das sechste1) Gebot zu übertreten. Man kann es im buchstäblichen groben Sinne übertreten; man kann es aber auch in einem geistigeren, weit umfassenderen Sinn übertreten. Vor den Menschen sind dies zwei sehr verschiedenartige Übertretungen, denn sie sehen nur die erste, nicht die letzte; aber vor Gott sind beide gleich verdammlich, denn er kennt ebenso gut das Innere als das Äußere. Gelegentlich eines besonderen Gebotes, von dem man es leicht auf alle andern ausdehnen kann, hat Jesus Christus den Grundsatz aufgestellt: Ich aber sage euch: wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen2). Es gibt einen Götzendienst mit den Knien und einen Götzendienst mit dem Herzen; man kann mit dem Mund lügen, man kann es mit dem Herzen; so kann man auch töten nach dem Buchstaben und töten nach dem Geist.
Demnach zerfällt die allgemeine Frage, die dieser Betrachtung zu Grunde liegt: habt ihr das sechste Gebot übertreten? in zwei besondere Fragen: habt ihr den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten? habt ihr den Geist des sechsten Gebots übertreten? Wir wollen sie nach einander erwägen.
Habt ihr den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten?
Habt ihr getötet? ist Jemand hier zugegen, der einen Menschen mit eigner Hand getötet hat? Es ist gerade nicht unmöglich, dass sich hier einer befinde, dem das begegnet ist. Ohne Zweifel nicht in der Weise, welche die Welt verdammt und die menschlichen Gerichte verurteilen, sondern auf eine Weise, die den menschlichen Gesetzen entgeht, und welche die Welt duldet, wenn auch nicht billigt; ich meine, im Zweikampf. Wäre ein solcher Mensch eurer Ansicht nach ein Totschläger? Ein Meuchelmörder ist er gewiss nicht, denn er hat einen vorher unterrichteten, bewaffneten Mann von vorne angegriffen. Ist er aber ein Totschläger? Ist ein Mensch nicht ein Mensch, und bleibt töten nicht töten?
Ihr sagt vielleicht: gewöhnlich tötet man nicht im Zweikampf. Das ist wahr, aber man läuft Gefahr zu töten. Und wenn man auch nicht tötet, was tut man? Man vergießt Blut. Ist das nicht die Hälfte eines Mordes? Steht nicht geschrieben: „das Leben ist im Blut“, und gibt es eine Sprache, in der Blut vergießen nicht gleichbedeutend ist mit töten? Genügt euch das noch nicht, so verweise ich euch auf eure Philosophen. Jean Jaques Rousseau antwortete einem Duellanten, der sich damit entschuldigte, dass er sich nur schlage, bis das erste Blut fließe: „Das erste Blut? und was willst du denn damit machen, du wildes Tier? willst du dieses Blut trinken?“
Mögt ihr euch nun aber auch niemals geschlagen haben, was ihr vielleicht mehr euerm Glück als euerm Willen verdankt, oder gehört ihr dem Geschlecht an, welches sich nicht schlägt: habt ihr wohl die Sache selbst gebilligt? Der Geist Gottes belehrt uns im ersten Kapitel des Römerbriefes, dass das Böse gutheißen schlimmer sei, als es begehen. Mit andern Worten sagt eine geistreiche Frau das Nämliche: „sie hasse die bösen Grundsätze noch mehr, als die bösen Handlungen“3). Wohl aus dem Grund, weil sich eine böse Handlung aus einer vorübergehenden Aufwallung erklären lässt, ein böser Grundsatz aber eine eingewurzelte Herzensverderbnis voraussetzt. Habt ihr nun den Zweikampf gut geheißen; habt ihr ihn geduldet? habt ihr gedacht, dass er unter gewissen Verhältnissen, bei gewissen Ständen nicht verbrecherisch sei? habt ihr euch der Pflicht entzogen, Verwahrung einzulegen gegen alle Anwendungen, gegen alle Formen eines Brauches, der eine ebenso traurige als seltsame Mischung ist von Schwäche und Mut, von Barbarei und Bildung; der um eines Wortes, um einer Bewegung willen mit guter Miene und wie spielend eine Frau in Trauer, eine Familie in Verzweiflung stürzt? Der, trägt er auch nicht diese traurigen Früchte, doch wenigstens und gleichsam, um sich für dieselben schadlos zu halten, durch blutige Spuren dartut und sich rühmt, dass er sie hätte tragen können? Hat eine Gesellschaft, in die das Duell eindringen, in der es sich bleibend befestigen konnte, in der es den Gesetzen der Bildung, dem gesunden Menschenverstand, den natürlichen Neigungen Zwang antun, in der es am Ende als Ehrenpunkt, als Notwendigkeit, als Tugend gelten konnte, hat diese ganze Gesellschaft den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten? - Aber wir wollen vom Zweikampf zu gewöhnlicheren Anwendungen übergehen.
Habt ihr getötet? Töten heißt nicht nur einem Menschen auf der Stelle den Tod geben; auch das ist töten, wenn man seinen Tod nach einer Woche, einem Jahr oder noch später verursacht; nicht bloß, wer Jemanden das Leben raubt, sondern auch wer es verkürzt, tötet ihn. Habt ihr je eines Menschen Tage verkürzt? habt ihr in der Hitze des Streites oder im Jähzorn einer Frau, einem Kind, einem Dienstboten wütende Streiche versetzt? oder habt ihr ihnen kaltblütig eine anhaltend schlechte Behandlung angedeihen lassen, die den Körper entstellt, indem sie das Gleichgewicht seiner Kräfte aufhebt und zerstört? habt ihr in euern Fabriken mit der Not des Armen und mit der Schwäche der Kindheit Missbrauch getrieben und sie mit übermäßiger Arbeit beladen, dass sie nur noch ein Pflanzenleben führten, dass sie dahinsiechten, erblassten und langsam starben? und das zum Nutzen eures Gewinns und eures Hochmuts? Habt ihr durch eure Habsucht, eure Härte, eure Ungerechtigkeit die Untergebenen bedrückt, den Gewerbefleiß entmutigt, den Wohlstand einer Familie untergraben, der Mutter ihren Schlaf, den Kindern ihr Brot geraubt? Habt ihr einen Gefährten, einen Freund! zu unmäßigem Genuss von Speisen und Getränken verleitet, oder zu fleischlichen Lüsten, die seine Gesundheit wankend machten, ja vielleicht für immer zerstörten? Habt ihr einen guten Ruf verleumdet, einen Hausstand gestört, ein zärtliches Herz durch eure Kälte gebrochen, Wohltaten mit Undankbarkeit erwidert, und so in die Brust eines Gatten oder einer Gattin, eines Vaters oder einer Mutter einen jener tiefen, unheilbaren Schmerzen gesenkt, die das Dasein zu Grunde richten, die des Körpers Kräfte brechen, die vor der Zeit in die Grube stürzen?
Ich könnte diese Fragen noch weiter ausdehnen. Ist es nicht eine Art des Tötens, wenn man Jemanden sterben lässt? Heißt es nicht die Tage eines Menschen verkürzen, wenn man sie verlängern könnte und dies unterlässt? Habt ihr durch eure Abweisungen, eure Vernachlässigung, eure Kargheit arme Leute gleich Lazarus an eurer Türe vor Krankheit und Elend verschmachten lassen, die durch die Brosamen eures Tisches hätten am Leben erhalten werden können? habt ihr in leichtsinnigen, wenn auch nicht verbrecherischen Vergnügungen Güter verschwendet, mit denen ihr einen Gefangenen hättet befreien, einen Kranken hättet heilen, einen Verhungernden hättet speisen können? Unglückliche, deren Schmerzenslaute zur selben Zeit gen Himmel stiegen, als das Geräusch eurer Tänze und eurer Konzerte sich erhob?
Habt ihr getötet? Töten heißt nicht nur Andere töten, sondern auch sich selbst. Habt ihr eure eignen Tage verkürzt? Habt ihr den Schatz eurer Gesundheit und eurer Kräfte durch Unsauberkeit, Unmäßigkeit, Weichlichkeit vergeudet? oder durch maßlose Betreibung irgend eines Vorhabens oder auch nur durch übermäßige Anstrengungen im Dienst nicht eurer Pflicht, sondern eures Eigenwillens?
Ich würde nicht zu Ende kommen, wollte ich mich in alle die einzelnen Arten einlassen, wie man den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten kann. Betrachtet denn die angedeuteten und fügt andere, die ich eurem eigenen Suchen überlasse, selbst hinzu; und dann erwägt diese Fragen:
Habt ihr den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten? Ist Einer unter euch, der den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten hat? Ist Einer unter euch, der den Buchstaben des sechsten Gebotes nicht übertreten hat? Ich richte nicht; ich urteile nicht; ich stelle nur Fragen. Ich überlasse Jedem die Sorge, selbst zu antworten.
Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten?
Ich könnte euch von vornherein sagen, dass ihr den Geist desselben übertreten habt, wenn ihr anders irgend ein sonstiges Gebot, das dem sechsten. noch so ferne steht, z. B. lass dich nicht gelüsten, mit Bedacht übertreten habt. Erstaunt ihr über diese Behauptung? Leider erstaunt ihr immer über das Wort Gottes. Jakobus sagt: „Denn so Jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an Einem, der ist es ganz schuldig“4). Welche Übertreibung! denkt ihr. Aber lest nur weiter, so wird sie euch durch eine sehr einfache und zugleich sehr tiefe Betrachtung erklärt werden: „Denn der da gesagt hat: du sollst nicht ehebrechen, der hat auch gesagt: du sollst nicht töten. So du nun nicht ehebrichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes.“
Wir wollen uns den Gedanken des Apostels durch ein Gleichnis aus dem gewöhnlichen Leben näher erklären. Ein Vater sagt zu seinem Sohn: Mein Sohn, du wirst heute zweierlei für mich besorgen: du wirst in meinem Weinberg arbeiten und eine Botschaft tun. Der Sohn antwortet ihm: Mein Vater, deine Botschaft will ich nicht ausrichten; aber in deinem Weinberg will ich arbeiten; und er tut dies wirklich. Nun lege ich euch die Frage vor: gehorcht der Sohn, da er im Weinberg arbeitet, seinem Vater? Ja, dem Buchstaben nach wohl, aber auch dem Geist nach? Mit den Händen gehorcht er, aber auch mit dem Herzen? Er tut, was der Vater ihm befohlen hat, tut er es aber, weil sein Vater es befohlen hat? Nein, denn er würde dann ebenso gut das zweite tun, weil der Vater es ihm ebenso gut befohlen hat. Warum gehorcht er denn dieses Mal? Offenbar weil der Befehl seines Vaters mit seinem eigenen Willen übereinstimmt. Hätte er irgend einen Widerwillen dagegen empfunden, so hätte er sich des einen so gut geweigert wie des andern. Im Geist aber weigert er sich nun doch. Er gehorcht nur sich selbst und nicht seinem Vater, obgleich er ihm zu gehorchen scheint. Indem er einen seiner Befehle verwirft, verwirft er das väterliche Ansehen, und damit verwirft er den Geist aller Befehle seines Vaters, selbst derjenigen, die er dem Buchstaben nach hält.
Jetzt könnt ihr den Gedanken verstehen, den ich Jakobus entlehnt habe. Ihr habt den Geist des sechsten Gebotes übertreten, wenn ihr vorsätzlich ein anderes Gebot, z. B. lass dich nicht gelüsten, übertreten habt. Denn warum habt ihr nicht getötet? etwa weil Gott es verboten hat? Nein, denn dann hättet ihr euch gleichermaßen der Lüsternheit enthalten, die Gott ebenso gut verboten hat. Weshalb habt ihr denn nicht getötet? Deshalb, weil der Mord durch die Gesetze, durch eueren Vorteil, durch die öffentliche Meinung oder durch euer Gewissen untersagt ist. Ihr gehorcht also nicht Gott, sondern den Gesetzen, euerm Vorteil, der öffentlichen Meinung, euerm Gewissen. Gott seid ihr ungehorsam, so sehr es auch den Anschein hat, als gehorchtet ihr ihm. Indem ihr ein einziges Gebot Gottes verwerft, verwerft ihr Gottes Ansehen; damit aber verwerft ihr den Geist aller seiner Gebote, selbst derer, die ihr dem Buchstaben nach haltet.
Um also zu wissen, ob wir den Geist des sechsten Gebotes verlegt haben, müssen wir uns prüfen, ob wir vorsätzlich irgend ein anderes Gebot übertreten, ob wir uns des Ehebruchs, des Diebstahls, der Verleumdung, der Lüge schuldig gemacht haben?
Allein lasst uns zu einer bestimmteren Frage übergehen. Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes, ich sage nicht nur durch Verletzung eines anderen, sondern geradezu übertreten? Ihr habt den Geist dieses Gebotes übertreten, wenn ihr den Hass oder irgend eine ähnliche Stimmung, die Rache, die Eifersucht oder den Zorn in euerm Herzen genährt habt. Der Heilige Geist erklärt das durch den Mund des Apostels Johannes: „Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger“5). Wir wollen, ehe wir die Anwendung von diesem strengen Grundsatz machen, uns davon überzeugen, dass ihr ihn recht versteht, und ihn durch Schlussfolgerungen begründen, wie wir dies auch bei dem Grundsatz des Jakobus getan haben.
Wer seinen Bruder hasst, ist vor Gott ein Totschläger; denn das Gefühl, dem er sich überlässt, kann ihn, wenn nichts die Handlung hindert, von Stufe zu Stufe dahin bringen, dass er seinen Arm gegen seinen Bruder erhebt, wie Kain gegen Abel. Der Mord verhält sich zum Hass, wie die Frucht zum Samen; er ist dessen Entwicklung und Vollendung, er ist sein letztes Wort. Der Herr spricht: „Aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, falsche Zeugnisse6). Lasst euch einmal von einem der Unglücklichen, die ihre mörderische Hand an einen Nächsten gelegt haben, seine traurige Geschichte erzählen. Er ist nicht auf einmal zu diesem schrecklichen Äußersten gekommen; er kann sich wohl einer Zeit in seinem Leben erinnern, wo der bloße Gedanke eines Mordes ihm denselben Schrecken eingeflößt hätte, wie euch am heutigen Tag. Versucht es, die Stufen zurückzusteigen, die er nach einander überschritten hat, bis zum ersten Ursprung seines Verbrechens. Vor einigen Tagen war er voll wilder Anschläge, wälzte in seinem Geist ohne Unterlass den Plan umher, den Gegenstand seines Hasses zu treffen, aber seine Hände waren noch rein von Blut. Und dann, ehe dieses schreckliche Vorhaben sich in seinem Innern festgesetzt hatte, war er sein Todfeind, der im Stillen den Tod seines Feindes wünschte, aber noch nicht daran dachte, seine Feindseligkeit durch ein Verbrechen zu sättigen. Und wieder vorher, ehe er sich selbst diese Feindseligkeit eingestand, hatte er ein für seine Leidenschaften, für die Eifersucht, die Rache, den Zorn geöffnetes Herz, aber diese Leidenschaften waren noch unbestimmt und unklar über den Ausgangspunkt, zu dem sie führen würden.
Da habt ihr die Geschichte dieses Mörders und seht, wie er vom Zorn zur Feindschaft, von der Feindschaft zum geheimen Anschlag, von diesem zur Ausführung übergegangen ist; und nun frage ich euch: seit wann ist er ein Mörder? Nach dem Urteil des Menschen, „der da sieht, was vor Augen ist,“ erst, seitdem er seinen Totschlag begangen hat; nach dein Urteil Gottes aber, der das Herz ansieht“7) war er es da nicht schon, bevor er ihn beging? War er nicht ein Mörder eine Stunde vor dem Totschlag, als er auf dem Weg seines Opfers stand und mit aufgerissenem Auge, mit lauschendem Ohr, mit gezogener Waffe den entscheidenden schrecklichen Augenblick erspähte? War er nicht ein Mörder, als sein Geist zum ersten Mal den noch verworrenen, unbestimmten Gedanken des Mordes fasste? War er nicht ein Mörder, als er insgeheim den Tod seines Feindes wünschte, als er ihn mit Augen des Mordes ansah? War er nicht ein Mörder, als er gegen ihn ein unklares Gefühl der Eifersucht oder des Zornes hegte, das ihn allmählich auf einen Weg zwang, dessen Ausgangspunkt er selbst nicht sah? Hätte der Tod, hätte irgend ein unvorhergesehenes Hindernis ihn aufgehalten, als er nur noch den geheimen Anschlag, die Feindseligkeit oder den Zorn hegte, wäre er da nicht vor Gott schon das gewesen, was er vor den Menschen später werden sollte, da er am Leben blieb und die Gelegenheit dazu hatte? Ja nach einer gesunden Philosophie wie nach dem Wort Gottes war dieser Mensch ein Mörder von dem Tag an, wo er anfing seinen Nächsten zu hassen. Und in den Augen Gottes, „der unsere Gedanken von ferne kennt,“ ist ein Mörder so gut wie ein jeder, der seinen Nächsten hasst. Er ist es schon jetzt im Geist; er kann es auch in der Tat werden, wenn die Umstände seinem Hass zu Hilfe kommen und ihn weiter entwickeln. So kann der ein Mörder werden, der heute ein rechtschaffener Mensch ist, und den schon der Gedanke daran schaudern macht.
Wir werden also mit Johannes anerkennen: „Wer seinen Bruder hasst, ist ein Totschläger;“ und die tiefen Worte unsers Heilandes verstehen: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig“8).
Demzufolge genügt es also, wenn ihr wissen wollt, ob ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten habt, die Frage zu prüfen: habt ihr gehasst? Und ich frage so nicht nur die Leidenschaftlichen, die in ihren Mienen und in ihren Reden die sichtbaren Spuren des Hasses und der Rache an sich tragen, sondern ich richte meine Frage: habt ihr gehasst? an alle.
Gehasst! ruft ihr; ich hätte gehasst! Wie kann man mich so fragen? Sieht man denn nicht an meiner Sprache, an meinem Betragen, dass ich von Zärtlichkeit gegen meine Freunde und von Wohlwollen gegen alle erfüllt bin? - Ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte euerm eigenen Zeugnis beistimmen; aber ich muss dem Gange meiner Predigt gemäß untersuchen, ich muss fragen: hasst ihr?
Ich setze voraus, dass ihr die Heilige Schrift als Gottes Wort betrachtet, dass ihr folglich das, was sie sagt, für wahr haltet, auch wenn es nicht mit euerm persönlichen Gefühl übereinstimmt, sondern demselben widerspricht. Denn da könnte man ja doch keinen Zweifel hegen, wer von beiden im Irrtum sei, ihr oder Gott. So frage ich denn: erklärt die Heilige Schrift, dass ihr hasst? Das ist eine wirklich leicht zu lösende Frage. Schlagt die Bibel auf. Nicht wahr, in dem Bild, das sie uns im ersten Kapitel des Briefes an die Römer von der menschlichen Natur der Heiden, der Juden, ja aller Menschen entwirft, findet ihr folgende Züge: „voll alles Ungerechten, Hurerei, Schalkheit, Geizes, Bosheit, voll Hasses, Mordes, Haders, List, giftig, Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Frevler, Hoffärtige, Ruhmrätige, Schädliche, den Eltern Ungehorsame, Unversöhnliche, Unbarmherzige“ Und in dem andern Bild, welches sie im dritten Kapitel des Briefes an Titus von den unbekehrten Menschen aufstellt, schildert sie diese als: „die da waren weiland unweise, ungehorsame, irrige, dienend den Lüsten und mancherlei Wollüsten, und wandelten in Bosheit und Neid und, - wie es zuletzt heißt, hassten sich unter einander?“
Diese Worte überraschen und ärgern euch vielleicht; stellt ihr euch aber auf den erhabenen Standpunkt der evangelischen Sittenlehre, so werdet ihr sie anders beurteilen. Ihr werdet dann sogleich einsehen, dass jede Selbstsucht den Hass als einen Grundzug in sich birgt: der Selbstsüchtige hasst die andern in dem Sinn, dass er sich selbst mehr liebt als sie, und wenn ihm nur die Wahl gelassen ist, ihren Vorteil oder seinen eigenen zu opfern, er alles gegen seinen Vorteil zurücktreten lässt. So fragt es sich denn im Grunde nur, ob die Selbstsucht in der Welt herrscht? ob sie in euerm Herzen herrscht? Seid ihr in den Gefühlen, die ihr gegen euern Freund hegt, selbstsüchtig? Gegen euern Freund, sage ich, nicht gegen einen Feind, einen Nebenbuhler, einen Gleichgültigen. Liebt ihr ihn mehr um seinet- als um euretwillen? Erkaltet eure Zuneigung, wenn die Sorgen, die sie euch auferlegt, in Widerspruch geraten mit euerm Geschmack oder euerm Vorteil?
Kommt es vor, dass ihr durch den Wechsel der Stellung, des Vermögens oder der politischen Partei der Feind eures Freundes werdet? Dass ihr hart, ja feindlich gesinnt werdet gegen einen Freund, eine Frau, ein Kind, weil sie an Jesum Christum gläubig geworden sind und der Welt entsagt haben, an der euer Herz noch hängt? Kurz, liebt ihr mit dem Gefühl, welches die Welt Liebe, die Philosophie Selbstsucht, Gott aber Hass nennt? Das sind Fragen in Bezug auf die, welche ihr liebt; wie nun fühlt ihr erst gegen solche, die ihr nicht liebt, die Gleichgültigen, die Nebenbuhler, die Feinde? Hasst ihr sie? Ist kein Hass in eurer Gleichgültigkeit, eurer Gegnerschaft, eurer Feindseligkeit?
Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten? Habt ihr gehabt? Ist Einer unter euch, der seinen Nächsten gehasst hat? Ist Einer unter euch, der seinen Nächsten nicht gehasst hat? Ich richte nicht; ich urteile nicht; ich stelle nur Fragen. Ich überlasse jedem die Sorge, selbst zu antworten.
Schon durch das Vorhergehende seid ihr überrascht und bestürzt; es setzt euch in Verwirrung, dass ich alles Ernstes untersuchen konnte, ob ihr des Totschlags schuldig seid oder nicht; was werdet ihr aber nun denken, wenn ich in der weiteren Entwicklung meines Textes euch fragen werde, ob ihr euch nicht auf eine Weise der Übertretung des sechsten Gebotes schuldig gemacht habt, die noch verderblicher ist, als der Totschlag?
Ihr werdet, denke ich, die folgenden Wahrheiten nicht ableugnen. Von den zwei Teilen, aus denen der Mensch besteht, ist die Seele wichtiger als der Leib: „Denn der Staub muss wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist muss wieder zu Gott kommen, der ihn gegeben hat“9), und vor Gericht erscheinen. Der Tod des Leibes, der Übergang in ein anderes Sein, ist weniger zu befürchten, als der Tod der Seele, die ewige Verdammnis. Wenn wir also den Körper eines Menschen töten, so ist das ein geringeres Übel, als wenn wir seine Seele töten. Diesen Seelenmord nun, diesen geistigen Mord, habt ihr den jemals begangen?
Was heißt das: eine Seele töten? Wir können dies von Satan lernen, der ein Mörder wie des Leibes, so auch der Seele von Anfang an war. Gott hatte zu Adam und Eva gesagt: „Wenn ihr esst, werdet ihr sterben.“ Satan kommt und sagt: „Ihr werdet nimmermehr sterben.“ Sie essen und sind dadurch zum zeitlichen und ewigen Tod verdammt. Satan hat, da er sie zur Sünde verführte, ihre Seele getötet, denn die Sünde gebiert den Tod. Mag Gott in der Folge Mittel zur Erlösung des verdammten Menschen bereitet haben, so dass seine Seele nicht stirbt, wenn er glaubt; Satan bleibt nichts desto weniger der Mörder seiner Seele, denn er ist der Urheber der Verdammnis und nicht der Erlösung. Die Seele eines Menschen töten bedeutet nun in Betreff seiner dasselbe tun, was Satan in Betreff Adams und Evas tat: es heißt, ihn zur Sünde verführen, die den Tod gebiert.
Habt ihr eine Seele getötet? Habt ihr Jemanden zur Sünde verführt? Habt ihr ihn durch euer Beispiel, wenn auch nicht durch eure Ratschläge zur Sünde verleitet? Habt ihr durch eure Schmeicheleien seinen Stolz genährt, durch eure Gefälligkeiten seine bösen Neigungen ermutigt, durch eure Heftigkeit seinen Zorn entflammt, durch eure Ungerechtigkeit seine Rache gereizt, durch. eure Zügellosigkeit seine Bedenken besiegt, durch eure unehrbaren Reden seine Gedanken verunreinigt, durch eure Zweifel seinen Glauben erschüttert, durch euern Spott seine keimende Frömmigkeit erstickt? Habt ihr irgend Jemanden in irgend einer Weise Ärgernis gegeben?
Ich gehe weiter. Habt ihr in der Weise Ärgernis gegeben, welche die strafwürdigste ist? Habt ihr diejenigen geärgert, deren Seelen Gott euch als ein heiliges Gut anvertraut hat, worüber ihr eines Tages Rechenschaft geben müsset, eure Untergebenen, eure Diener, eure Familien? Und um bei der wichtigsten dieser Fragen inne zu halten: Habt ihr eure Kinder geärgert? Habt ihr sie gefährlichen Freunden überlassen? Habt ihr ihnen verführerische Bücher in die Hände gegeben und ihnen den Anblick der Sünde vor die Augen gestellt? Habt ihr sie durch eure Gleichgültigkeit oder euern Leichtsinn gelehrt, den Herrn zu vergessen, seinen Gehorsam zu vernachlässigen, von seinem Worte sich fern zu halten und seinen Dienst zu meiden? Habt ihr sie angewiesen, das Glück, den Beifall der Menschen und den Erfolg bei der Welt mehr zu suchen, als die Vergebung Gottes und das ewige Leben, ach sogar auf Kosten dieser Vergebung und dieses Lebens? Habt ihr sie mittelbar oder unmittelbar, mit Worten oder mit Werken davon abgehalten, Gott ihr Herz zu geben? Habt ihr euch mit der spottenden, gottlosen Welt vereinigt, um sie im Unglauben, das heißt auf dem Wege des Verderbens zurückzuhalten? Habt ihr durch eure Ungeduld ihr Gemüt erbittert, ihre Eigenliebe durch törichte Lobsprüche genährt, ihre sündhaften Neigungen geduldet, ihrer Sinnlichkeit geschmeichelt, ihre Trägheit befördert, ihre Lügen belächelt, über ihre boshaften Streiche gescherzt? Die Welt fragt wohl auch, aber in gleichgültigem Ton, dem man anmerkt, dass sie einen Augenblick später nicht mehr daran denkt: Väter und Mütter, verzieht ihr eure Kinder? Aber Gott, der Heilige der Heiligen, fragt mit seinem schrecklichen, majestätischen Ernst und mit einer Stimme, die uns ahnen lässt, dass er auf ewig daran denken wird: Väter und Mütter, tötet ihr die Seele eurer Kinder?
Eine Seele töten heißt nicht nur die Seele eines andern töten, sondern auch die eigene; nicht nur das tun, was Satan an Adam verübte, sondern auch das, was Adam gegen sich selbst beging. Habt ihr eure Seele getötet? Seid ihr Adam in seinem Ungehorsam nachgefolgt? Habt ihr solche Werke getan, von denen es heißt: „der Tod ist der Sünden Sold?“10) Habt ihr den Fluch auf euch geladen: „Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibt in allem dem, das geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, dass er es tue“11)?
Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten? Habt ihr den Seelenmord begangen? Ist Einer unter euch, der den Seelenmord begangen hat? Ist Einer unter euch, der ihn nicht begangen hat? Ich richte nicht; ich urteile nicht; ich stelle nur Fragen. Ich überlasse jedem die Sorge, selbst zu antworten.
So habe ich denn eine ganze Reihe von Fragen über die verschiedenen Anwendungen des sechsten Gebotes aufgestellt und in dem Maß, wie ich von einer Übertretung des Gebotes zu einer noch schwereren überging, meine Ausdrücke entsprechend gesteigert. Welche Ausdrücke bleiben mir übrig, wenn ich nun noch eine Stufe höher steige? Es ist wirklich noch eine da. Es ist noch ein Verbrechen gegen dies Gebot möglich, das verabscheuungswürdiger ist, als alle bisher besprochenen. Es bleibt mir also auch noch eine Frage an euch übrig.
Alle bisher genannten Sünden beziehen sich auf den Menschen. Aber ein Menschenkind zu töten ist ein weit geringeres Verbrechen als Ihn zu töten, den Sohn Gottes, Jesus Christus. Die Größe dieses Mordes lässt sich eben so wenig schildern, als die Größe des Opfers. Jesus Christus ist, wenn ihr anders der Heiligen Schrift glaubt, der Sohn Gottes, der unsere Natur angenommen hat, um die Sünder aus der Hölle zu erlösen, indem er eine Hölle für sie erduldete. Er ist das Wort Gottes, das von Anfang an bei Gott war und Gott selbst war. Er ist das Ebenbild Gottes, die Ehre Gottes, die Weisheit Gottes, die Gerechtigkeit Gottes. Er ist das Licht, die Tür, der Weg, die Wahrheit, das Leben. Er ist der ewige Vater, der Friedefürst, der König der Könige und der Herr der Herren, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Herr unsre Gerechtigkeit, Emmanuel Gott mit uns. Ihn zu töten, was wäre das? Hat jemand Worte für dies Verbrechen, so mag er sie sagen; ich habe keine dafür. Und nun meine letzte Frage, die ich nur mit Schaudern stelle: Habt ihr den Sohn Gottes getötet? Ruft nicht: das ist Übertreibung, Beschimpfung! Dies Verbrechen ist möglich, denn es ist begangen; es ist Menschen möglich, denn es ist von Menschen begangen.
Erinnert ihr euch dessen, was der Menschensohn erduldet hat? Als er kaum geboren war, bedrohte Herodes sein Leben und ließ alle kleinen Kinder einer ganzen Stadt niedermetzeln, um ihn sicher zu töten. Er lebte verlassen und arm und hatte nicht, wohin er sein Haupt legte. Er ward verachtet, verworfen, geschmäht, verleumdet. Man nannte ihn Nazarener, Samariter, Galiläer, Sünder, Sabbatschänder, Fresser und Weinsäufer, Betrüger, Lügner, Gottesleugner, Teufel. Wir sehen ihn in seiner Todesangst zu Gethsemane von seinen drei Lieblingsjüngern verlassen. Judas verrät ihn, Petrus verleugnet ihn, alle lassen ihn im Stich und überliefern ihn ohne Verteidigung falschen Zeugen. Ein Mörder wird ihm vorgezogen. Man speit ihm ins Angesicht, schlägt ihn, verbindet ihm die Augen, man fesselt ihn, peitscht ihn. Man bekleidet ihn mit einem Scharlachmantel, setzt ihm die Dornenkrone auf, drückt sie mit Geißelhieben in seine blutende Stirn. Man führt ihn zum Richtplatz, er unterliegt der Last des Kreuzes. Zwischen zwei Mördern gekreuzigt stirbt er: er stirbt von Juden und Römern verspottet, verspottet bis zu seinem Ende, verspottet bei seinem verzehrenden Durst, bei seinem Todesschrei, bei seinen letzten Gebeten. Seht, so hat man den Sohn Gottes getötet! Man hat ihn nicht nur am Tag seines Todes getötet, sondern alle Tage vom Anfang seines Amtes bis zum Ende. Man hat ihn dem Buchstaben und dem Geist nach getötet, denn man hat ihn verfolgt, gequält, gemartert, gehasst, versucht, verspottet, gekreuzigt. - Und wer hat das getan? Menschen haben es getan. Aber welche Menschen? Wärt ihr es, die es getan haben?
Die Christus gekreuzigt, das sind nicht bloß die römischen Soldaten, die ihn an das Kreuz geheftet und ihm Hände und Füße mit Nägeln durchbohrt haben. Es sind nicht bloß die Pharisäer, die ihn vor Pilatus geschleppt haben, oder das Volk mit seinem Schrei: „kreuzigt, kreuzigt ihn!“ Dies sind nur die, welche ihn dem Buchstaben nach gekreuzigt haben. Wer sind aber die, welche ihn dem Geist nach gekreuzigt haben? Alle die sind es, die durch ihre Sünden Ursache sind seines Todes. Das lehrt uns Paulus. Denn wie könnten wir die Stelle anders erklären, wo es heißt, dass, „wer das Evangelium einmal erkannt hat und in die Sünde zurückfällt, der aufs Neue den Sohn Gottes kreuzigt“ und ihn der Schande aussetzt? Wie aber kreuzigt er ihn? Zwar nicht mit seinen Händen, doch mit seinen Sünden; dadurch, dass er sich im Geist mit seinen Mördern vereinigt, als wollte er ihr blutiges Werk erneuern. Erscheint euch dieser Gedanke seltsam? Lasst mich euch einen andern zur Vergleichung vorführen. Ich nehme an, dass ihr ein vor menschlichen Richtern des Todes würdiges Verbrechen begangen habt; im Augenblick aber, wo ihr den Tod erleiden sollt, kommt ein großmütiger Freund und erbietet sich ihn statt euer zu erleiden; sein Opfer wird angenommen, er stirbt für euch und ihr bleibt am Leben. Ich frage euch: seid ihr am Tod dieses Menschen unschuldig? Klagt euer Gewissen euch wegen seines dahinströmenden Blutes nicht an? Und nun frage ich euch aufs Neue: seid ihr unschuldig am Tode Jesu Christi, wenn ihr zu denen gehört, für die sein Blut geflossen ist? Am Fuß seines Kreuzes teilen sich die römischen Soldaten in seine Kleider und werfen das Los über seinen Rock. Am Fuß seines Kreuzes schlage ich euch heute eine andere Teilung vor. Wem gehören diese Sünden an, die in jenem Augenblick auf den Sohn Gottes gehäuft sind, die sein erhabenes, heiliges Haupt unter die Last des Vaterfluchs beugen, die ihm den Schmerzensruf entreißen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wem gehören die Sünden an, die ihn kreuzigen? Wem die Lügen, die Veruntreuungen, die Rachegedanken, die Verleumdungen, die Schmähungen? Wem das Murren, der Spott, die Unreinigkeit? Kommt herzu und erkenne ein jeder bei dieser demütigenden und schmerzlichen Teilung, was ihm zugehört. Was sagt ihr dazu? Findest du und du auch deinen Anteil? Hast auch du Teil am Blut dieses Gerechten? Gehörst auch du zu den Feinden, die er mit seinem Vater versöhnt hat, indem er mit seinem Leben das Lösegeld zahlte? Gehörst auch du zu dem verfluchten Geschlechte, in dessen Namen ein Prophet gesagt hat: „Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“12)?
Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes verletzt? Habt ihr den Sohn Gottes gekreuzigt? Ist Einer unter euch, der den Sohn Gottes gekreuzigt hat? Ist Einer unter euch, der den Sohn Gottes nicht gekreuzigt hat? Ich richte nicht; ich urteile nicht; ich stelle nur Fragen. Ich überlasse Jedem die Sorge, selbst zu antworten.
Bleibt uns nun noch eine neue Anwendung des sechsten Gebotes oder noch eine Frage an euch? Nein, wir stehen am Ende. Und bliebe auch noch etwas zurück, so fehlte mir doch der Mut, es auszuführen, ich vermöchte nicht noch weiter zu gehen. Der Gedanke, das Gefühl, die Sprache, alles würde mir fehlen. Ich fasse daher das Ganze noch einmal zusammen und schließe.
Meine ganze Rede kommt auf die Frage zurück: Habt ihr das sechste Gebot übertreten? Und zwar erstens: Habt ihr den Buchstaben des sechsten Gebotes übertreten; habt ihr Jemanden das Leben geraubt oder verkürzt? Und zweitens: Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten? Nämlich zunächst: Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten, indem ihr irgend ein Gefühl nährtet, das zum Mord führen kann, besonders den Hass? ferner: Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten, indem ihr eine Seele tötetet, das heißt, sie zur Sünde verführtet? und endlich: Habt ihr den Geist des sechsten Gebotes übertreten, indem ihr den Sohn Gottes kreuzigtet?
Ich kenne eure Antwort auf alle diese Fragen nicht; ich gebe euch die meinige. Ich antworte ja auf die erste Frage wie auf die zweite und auf alle folgenden bis zur letzten. Ja mein Heiland, ich gehöre zu diesem gottlosen Geschlecht, das seine mörderische Hand an dich legte; mein Heil war dein Werk, dein Leiden das meinige. Ich bin vor Gott ein Mörder. Ich meines Teiles habe den „feurigen Schwefelpfuhl“ verdient, der für die Mörder bereitet ist.
Noch ein Wort. Ich könnte eins der zehn Gebote Gottes nach dem andern nehmen und euch über ein jedes befragen, wie ich es mit dem sechsten getan habe, das ich nur deshalb wählte, weil seine Übertretung am wenigsten erkannt wird. Ich würde euch dann fragen: Habt ihr andere Götter vor dem Angesicht des wahren Gottes gehabt? das heißt: seid ihr seinem Dienst ungehorsam gewesen? Habt ihr Götzenbilder gehabt? das heißt: habt ihr das Geschöpf mehr geliebt als den Schöpfer? Habt ihr den Namen Gottes missbraucht? das heißt: habt ihr ihn ohne Ehrfurcht ausgesprochen? Habt ihr den Sabbat entheiligt? das heißt: habt ihr den Tag der Ruhe schlecht gefeiert? Habt ihr unterlassen euren Vater und eure Mutter zu ehren? das heißt: hat es euch an Unterwürfigkeit und Liebe gegen sie gefehlt? Habt ihr die Ehe gebrochen? das heißt: habt ihr ein unreines, fleischliches Herz? Habt ihr gestohlen? das heißt: habt ihr ein selbstsüchtiges, ungerechtes Herz? Habt ihr falsches Zeugnis gegeben? das heißt: habt ihr verleumdet, gelästert, gelogen, die Rede missbraucht? Habt ihr euch gelüsten lassen? das heißt: habt ihr ein neidisches, eifersüchtiges Herz?
Auch auf diese Fragen alle kenne ich eure Antwort nicht. Hier habt ihr die meinige. Ich antworte auf die erste, auf die zweite, auf die dritte, auf alle bis zur letzten Frage ein Ja. Ja, ich habe alle Gebote Gottes vom ersten bis zum letzten übertreten; mehrere dem Buchstaben, alle dem Geist nach. Ich bin nicht besser als Hiob, der da sagt, „Von tausend Dingen wüsste ich nicht auf eins zu antworten.“ Ich habe alle Strafen verdient, die auf die Übertretung aller Gebote gesetzt sind. Ich habe in dieser Welt tausendfachen Tod verdient, und in jener Welt habe ich mehr als tausendfachen Tod verdient: jenen Tod, der sich weder teilen noch vervielfältigen lässt, jenen einen, einzigen, unendlichen, ewigen Tod. Die Hölle hat keine Strafen zur Züchtigung meiner Sünden, die zu schmerzhaft noch zu lang wären. Ich bin dazu verdammt, und ich kenne den Weg wohl, denn ich bin ihn lange gegangen.
Könnt ihr meinen Antworten nicht beistimmen, ist eure Antwort ein Nein auf alle meine Fragen; habt ihr dem Buchstaben wie dem Geist nach alle Gebote Gottes gehalten; seid ihr weder Mörder noch Götzendiener, weder Sabbatschänder noch Fleischesdiener; seid ihr nichts von allem, was ich bin, so predige ich nicht für euch, so braucht ihr mich nicht. So braucht ihr auch die Bibel und Jesus Christus nicht. Ihr haltet euch für heilig, für gerecht, für frei von aller Gefahr, für würdig des Himmels: was kann man euch noch sagen?
Ist aber Jemand hier, der mir gleicht, der sich, und wäre es zum ersten Mal in seinem Leben, für schlecht, für verdammt, für verloren und von Gott verflucht hält, der freue sich. Eigens für ihn ist vom Himmel die Stimme erschollen, die noch aus allen Blättern der Bibel hervorbringt: Gnade! Gnade! Aber Gnade nur für den Sünder; Heil nur für den, der verloren ist; ewiges Leben und das Reich Jesu Christi nur für den, der auf dem Weg des ewigen Todes und im Reich Satans ist. Gnade, ja Gnade! aber keine von uns zu verdienende Gnade, keine erst zukünftige Gnade: nein eine Gnade, die uns bereitet ist von Anbeginn der Welt; keine Gnade, die ein gutes Werk, nein eine Gnade, die wirklich eine Gnade ist: „Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde“13). So komme denn, mein armer Genosse der Sünde und des Elendes, wir wollen uns mit einander eintauchen in „jenen Born, der in Jerusalem geöffnet ist wider die Sünde und Unreinigkeit“14). „Und wenn eure Sünde gleich blutrot ist, da soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden“15). Ich könnte euch noch mehr sagen; wer sich aber für verloren hält, der findet alsobald einen besseren Arzt. Es ist nicht mehr meine Sache, ihm Fragen zu stellen; es ist seine Sache, die Frage an das Wort Gottes zu richten: „Was muss ich tun, dass ich selig werde?“ Diese Frage erhält nicht nur, nein sie enthält in sich die Antwort: „Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du selig“16).
O Hirt unserer Seelen, Dir empfehle ich dies geängstigte und gequälte Herz. Gib ihm Frieden, o mein Heiland! Ja du wirst ihm deinen Frieden geben, seine Angst und seine Schrecken verbürgen es mir. Ist er von seiner Sünde und seinem Verderben überzeugt, so hat dein Geist sein Werk in ihm angefangen; und wenn dein Geist einmal zu ihm redet, so wird er ihn sicher zu dir führen: zu dir, der du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes; der du hast Worte des ewigen Lebens17). Zu dir, „du Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt.“ Zu dir, den wir hienieden mit unserm Glauben als die einzige Hoffnung unsers Erdenlebens, im Himmel einst als die einzige Freude unsers ewigen Lebens umfassen! Amen.