Kügelgen, Wilhelm von - Von den Widersprüchen in der Heiligen Schrift für Zweifler - I. Einleitung.

Bei der Verwirrung der sittlichen Lebensprinzipien in unseren Tagen und der daraus resultierenden Unordnung und Unsicherheit der Lebenspraxis kann es nicht fehlen, dass nicht recht Viele sich sehnen sollten nach einem unwandelbar Festen und Ruhenden in Mitten des Haltlosen und wandelbar Unruhigen. Man wird gewiss nicht irren, wenn man annimmt, dass Derer heut zu Tage viele sind, die sich aus der alle Lebensbande auflösenden Skepsis ihrer Zeit herzlich zurücksehnen nach der versöhnenden, nicht auflösenden, sondern ordnenden und gestaltenden Ruhe des Christentums, das sie entweder selbst in früheren Tagen glaubten, oder dessen süße Frucht sie doch hier und da noch an der Befriedigung und Harmonie des Wesens Anderer wahrnehmen. Ja man hat oft gehört, wie diese Andern beneidet werden um das Licht, das ihnen leuchtet in allgemeiner Dunkelheit und um den stillen Frieden ihres Hauses, während um se her haltlose Wogen des Unglaubens in wilder leidenschaftlicher Brandung, Zweifel, Verzweiflung und Schande ausschäumen. So erkennt man denn zwar im Christentume ein Gut, aber man stellt es gleich, etwa dem Glück der Kindheit das in Unwissenheit und Täuschung liegt.

Nach dem stillen Frieden dieser seiner früheren Tage blickt wohl ein Jeder mit Wehmut zurück, wie der ausgewiesene Adam nach dem Paradiese; aber es steht da auf der Schwelle die ernste Gestalt des Cherub mit dem Flammenschwerte, der Niemand hineinlässt. Ein an den Erfahrungen und Täuschungen des Lebens gereiftes Urteil macht es unmöglich, zu den lieblichen Täuschungen der Kinderwelt zurückzukehren.

So auch das Christentum. Zwar ahnt man in ihm einen Garten Gottes, aber es scheint nur ein Garten für Kinder an Geist. Wenn nun ein Mann von Jahren sich als Kind am Geiste zeigt, so wird er in der Regel kindisch, einfältig und unvernünftig genannt werden. Es scheint also die Vernunft zu sein, von der sich diejenigen zurückgewiesen fühlen, die wohl die Schönheit des Glaubens erkennen, aber doch keine Kinder sind. Die Vernunft ist ihnen das Flammenschwert, das sie abhält das Vernünftigste zu tun was sie tun könnten, nämlich einzutreten in den Garten Gottes. So würde also die Vernunft selbst sich hindern, zu sich selbst zu kommen. Kann das Vernunft sein?

Zu dieser Art von Einwürfen, wie zu dem Wesen der Vernunft werden wir am Schluss ausführlicher zurückkommen. Hier aber haben wir es vorzüglich mit einer andern und verständigeren Art von Zweiflern zu tun. Diese nämlich sehen recht gern ein, dass ein Patient nicht unvernünftig sei, der eine Medizin einnimmt die ihm hilft, einerlei wie sie aussehen und schmecken möge, ja selbst wenn's Gift wäre, wie Calomel1) und Assaphötida2). So auch begreifen sie ganz wohl, dass Niemand unvernünftig tue, der irgendetwas Beglückendes, sich in aller Praxis als zweckmäßig Bewährendes für wahr hält, einerlei ob er's begreife oder nicht. Aber es sind diese Verständigen doch der Ansicht, dass ein Kranker, bevor er dem Rate des Arztes Folge leisten könne, vor allen Dingen diesen Rat verstanden haben müsse, Namentlich meinen sie, dass mit einer sich selbst widersprechenden Verordnung ganz und gar nichts anzufangen sei - und wahrlich diese Leute haben Recht in ihrer Art.

So sehen sie auch das Christentum an als eine ihnen unbekannte Größe. Wenn die oberwähnten Zweifler ersterer Art nicht glauben konnten, weil es ihnen mit dem Christentum ging wie den Idealisten mit der realen Welt, die sie, obgleich sie mit dem Kopf dran rennen, doch leugnen, weil sie sie nicht in den Kopf hineinbringen können, so glauben diese letzteren nicht, weil sie das Christentum überhaupt gar nicht sehen; denn eine Sache, von der Widersprechendes ausgesagt wird, existiert nicht für Leute, in denen der Verstand vorherrscht.

Dass das Christentum wirklich da sei, oder vielmehr, dass Andere es zu haben meinen, verkennen sie zwar nicht; was aber diese Andern dran haben, das wissen sie nicht. Zwar fragen sie wohl, aber selten vermögen Gläubige von ihrem Glauben gerade dem Verstande recht klare Rechenschaft zu geben. Sie stammeln nur davon, wie Bauernkinder vom Königsschloss, das sie betraten, verfangen sich in Widersprüchen, und ein fester Lehrbegriff erscheint nur selten. Wo indessen ein solcher bis jetzt fertig und abgerundet hervorgetreten ist, da ist er auch sogleich wieder angefochten, ja als falsch und bösen Irrtum begünstigend verdammt worden.

Es gehen aber die Lehrbegriffe hervor aus den Schulen der Theologen, die wir gerne ansehen möchten als Meister im Christentume, und daher weiß der arme Frager immer nicht wie er dran ist, da er die Meister selber uneins findet. Zwar wird er diese bald in zwei Hauptgruppen auseinander fallen sehen, von denen die eine als Christentum nur das gelten lassen will, was sich von selbst versteht. Da er aber gar nicht nach dem gefragt hat, was er auch von selbst schon weiß, sondern vielmehr. nach dem Christentume als nach etwas Anderem, so wird er sich der anderen Gruppe zuwenden, die wenigstens in der protestantischen Kirche darin einig ist, nur die Schriftlehre glauben zu wollen.

Allein auch unter diesen findet er denselben Krieg und Streit. Auch sie treten mit sich entgegengesetzten Lehrbegriffen einander schroff gegenüber, sich gegenseitig das Christentum absprechend. Da sie aber doch darin einig scheinen, sich nur auf die Heiligen Schrift begründen zu wollen, so begreift man nicht wie sie doch bei steter Berufung auf dieselbe, nie einig werden können. Im Gegenteil scheint es, als läge alle Ursache der Zwietracht gerade in jener letzten Richterin selbst. Denn weniger auf Grund subjektiver Einfälle, als vielmehr deutlicher Aussprüche der Heiligen Schrift scheint sich der Lehrbegriff des Christentums zerspalten zu haben.

So könnte man, wenn man nur nach diesen Erscheinungen urteilen wollte, verleitet werden, die Heilige Schrift etwa einem jener Gesetzbücher zu vergleichen, die wegen ihrer Anhäufung sich widersprechender Paragraphen, jeden verdammen oder freisprechen, den der Richter verdammen oder freisprechen will. Indessen würde es offenbar Leichtsinn sein, wenn man so urteilen wollte ohne das heilige Buch selbst angesehen zu haben. Ein ehrlicher Forscher wird sich im Gegenteil entschließen müssen, stets an die Quelle selbst heranzutreten; in unserem Falle also auch die Heilige Schrift von sich selbst ein Zeugnis ablegen zu lassen. Er wird sie aufschlagen und fleißig nach ihrem Inhalte forschen. Um diesen aber rein und lauter herauszufinden, wird er glauben, keinen hineinlegen zu dürfen. Er wird daher von Allem was ihm als Glaubensinhalt schon bekannt geworden, abstrahieren müssen und somit allen Aussprüchen der Heiligen Schrift eine gleiche Berechtigung beimessen, sowohl dem Gebote, Vater und Mutter zu ehren, als dem andern, sie zu hassen. Denn wollte er den einen Ausspruch durch den anderen unterdrücken, so würde er willkürlich zu verfahren meinen, indem er den Maßstab, nach welchem er hier Wesentliches vom Unwesentlichen unterschiede, selbst hinzugetragen hätte.

Auf diesem Gange, wenigstens auf einem wichtigen Abschnitte desselben wollen wir unsern Zweifler nachher begleiten und zusehen, wie es ihm glückt. Wir leugnen nicht, dass wenn er während seines Suchens den Schlüssel findet und ihn braucht, sich ihm auch die Türen öffnen werden. Der Schlüssel zur Heiligen Schrift ist aber der Glaube oder vielmehr die Glaubenserfahrung, ohne welche man trotz aller Voraussetzungslosigkeit, doch immer mit falschen Voraussetzungen lesen wird.

Aber ist es nicht ein Widerspruch, wenn verlangt wird, dass man das, was man sucht, schon im Voraus haben müsse, um es zu finden. So klingt es allerdings; wir müssen uns indessen erinnern, dass vorerst nicht ein subjektives Glauben gesucht wurde, sondern die Forschung galt dem Glaubensobjekt, welches man durch Zergliederung der Heiligen Schrift zu ermitteln hoffte. Ob dies dann brauchbar sei, das sollte später erst praktisch geprüft werden.

Das Widersprechende liegt also vielmehr in dem ganzen Verfahren selbst, welches scheinbar so richtig, dennoch falsch ist, weil, wie sich das später deutlicher zeigen wird, der Sucher ohne die rechte, mit einer falschen Voraussetzung an die Heiligen Schrift herangetreten ist. Denn diese ist weder ein eigentliches Lehrsystem, noch ist sie von einem einzelnen Autoren verfasst worden, und daher ohne Gleichförmigkeit in ihrer Ausdrucksweise. So lange also die Anschauungen fehlen, oder doch wenigstens das Grundprinzip unverstanden bleibt, aus welchem heraus die Verfasser schrieben, so lange wird auch trotz aller Ehrlichkeit der Forschung ganz und gar nichts erforscht werden können. Ja, es könnte sogar der Fall eintreten, dass man trotz des Glaubens den man etwa schon mitbringt, dennoch irren würde an den eigentümlichen Widersprüchen der Heiligen Schrift, wenn man sie nämlich mit der falschen Voraussetzung, dass sie einem wissenschaftlichen Werke gleichen müsse, betrachten wollte. Und gern wollen wir es uns gestehen, dass unter allen Zweifeln die den angehenden Christen packen können, die in den scheinbaren Widersprüchen der Schrift begründeten, die schwersten Glaubenskämpfe kosten. Denn die vollwichtigsten Einwürfe, die überhaupt irgendeiner Lehre als Lehre gemacht werden können, sind nicht solche, die die Vernunft ihrem Inhalte gegenüber aufwerfen möchte, sondern das sind die Feinde, die aus den Widersprüchen der Lehrform selbst erwachsen, weil eine Form die sich selbst vernichtet hat, anscheinend überhaupt gar keinen Inhalt mehr fassen kann.

Bei genauerer Prüfung indessen, aber nur bei einer Prüfung, die auf lebendigen Anschauungen ruht, möchten wir finden, dass nicht bloß in der Heiligen Schrift, sondern überall im Leben ein bedeutender Unterschied sei zwischen Widerspruch und Widerspruch. Wenn zum Beispiel von einem viereckigen Dreieck die Rede ist, oder wenn Heinrich VIII. gleichzeitig bei Todesstrafe verbietet, seine beiden Töchter weder für eheliche noch für uneheliche Kinder zu halten, die Leute aber nachher dennoch um ihre Meinung fragt, so sind das wirkliche Widersprüche. Es gibt aber einen anderen ebenfalls unbegreiflichen Widerspruch, der dennoch nicht vor den Kopf stößt, weil er sich praktisch bewährt und in der Anschauung auflöst, das ist jene formale Korrelation, ohne die keine Wirklichkeit zu denken ist, wie denn z. B. der Raum alle seine sich entgegengesetzten Dimensionen auf einmal hat. Endlich gibt es einen Widerspruch der nicht im Gegenstande selbst, sondern in uns, in unserer falschen Voraussetzung liegt, die wir an das Ding das wir betrachten, mit heranbringen. So würde z.B. die Liebe, wo sie das Geliebte quält, immer ihrer eignen Idee zu widersprechen scheinen, wenn wir nicht voraussehen, dass sie durch Strafe bessern will und dass sie keinen andern Weg hat wohlzutun, als durch Schmerzen.

Wie nun die Widersprüche in der Heiligen Schrift nur den beiden letzten Gattungen angehören, d. h. wie sie teils nur als Determinationen der Wahrheit anzusehen, teils in unseren eigenen falschen Voraussetzungen begründet sind, dies nachzuweisen ist die Aufgabe dieses Büchleins.

Dass der volle Glaubensinhalt der Heiligen Schrift von Gott gegeben, eine Offenbarung Gottes an die Menschen sei, und dass also die heiligen Menschen Gottes geschrieben haben getrieben von dem heiligen Geist, daran ist niemals in der christlichen Gemeinde gezweifelt worden, sondern gerade darum glaubte die Gemeinde. Aber ganz vorzüglich in unserer protestantischen Kirche bildete sich die etwas unklare Ansicht aus, dass auch die Form, die ganze Ausdrucksweise oder der Buchstabe, vom Heilige Geiste eingegeben sei.

Meinte man nun damit, dass der Heilige Geist die Apostel bewahrt habe, die Sünde und daraus resultierenden Irrtum auf ihre Predigt influieren3) zu lassen, so dass diese dadurch hätte verunstaltet werden können, so hatte man sicherlich ganz Recht. Wir hätten außerdem an der Heiligen Schrift nicht Gottes Wort. Glaubte man aber, die Apostel wären durch die Inspiration befähigt worden in Gottes Wort überall den wissenschaftlich bezeichnendsten Ausdruck zu treffen, so legte man damit dem Buchstaben einen Wert bei, der zu Irrungen führen konnte und wohl auch geführt hat.

Wir verlangen von einem vollkommen guten wissenschaftlichen Werk, dass sich darin nirgends ein Satz finde, der in seinen Konsequenzen dem ganzen Werke widerspricht. Wenn sich aber auch solche Werke von Menschenhand nicht finden sollten, so setzen wir doch voraus, dass der Geist Gottes, wenn er sich einer Menschenhand bediente durch sie ein Werk zu gestalten, diese Vollkommenheit erreichen würde. Wir würden wenigstens erwarten einen jeden Satz so gestaltet zu finden, dass er seinem Wortklange nach nicht missverstanden werden könne.

Wollten wir indessen mit solcher Voraussetzung an die Heiligen Schrift herantreten, so würden wir sie mit oder ohne Glauben eben gar nicht mehr verstehen können. Da wir glauben würden, dem Geiste Gottes keine unsichere Terminologie zutrauen zu dürfen, so würde uns auch kein Weg übrig bleiben manchen Widerspruch zu lösen, und wir würden es uns nicht herausnehmen mögen dem Geiste Gottes gegenüber zu behaupten, dass dieser oder jener Ausdruck (an sich unrichtig) nur zu verstehen sei durch den Zusammenhang und Geist des Ganzen.

Aber leider wurde eben gerade so hier und da in Mitten der Kirche, ohne dass man sich der Sache wohl recht klar war, die Lehre von der Inspiration aufgefasst, und wo dies geschah, da wurde denn natürlich auch der Buchstabe zum infalliblen4) Papste, bei dessen Verehrung man leicht den Herrn vergessen konnte den er darstellt. Luther, der sonst der Heiligen Schrift gegenüber bisweilen eine solche fast übermäßige Selbstständigkeit behauptete, dass er sogar die Authentizität ganzer Bücher des neuen Testamentes anzweifelte, nicht weil sie seiner Vernunft widerstrebten, sondern weil sie, wenn auch nur in einzelnen Stellen, dem Geiste des Ganzen zu widersprechen schienen, hatte doch diesen Weg selbst angebahnt durch die mächtige Bedeutung, die er dem einzelnen Worte „hoc est“ in dem Streite um das Sakrament des Altars gab.

Es ist nun hier keineswegs die Meinung zu bestreiten, dass die Heiligen Schrift und zwar durchgängig ein wahrhaftes Zeugnis von göttlichen Dingen sei, sondern eben dieses soll bewiesen werden. Ebenso wenig wird bestritten, dass die Wahrheit in der Form des Wortes sich wahrhaft verleiblicht habe, sondern nur, dass diese Verleiblichung an sich die Wahrheit selbst sei. Ganz wie in der Person Christi selbst, so ist auch in seinem Wort der Geist aus Gott, der Leib aber von der Erde. Wenn man aber, indem man Irdisches erfasst, dies Irdische meint, so hat man lauter Widerspruch und Tod. Will man den Geist finden, so muss man das Irdische, gerade als das verstehen, was es nicht ist, nämlich geistig. Denn aller Leib an sich ist so sehr Widerspruch, dass sich sein Wesen aller und jeder kritischen Beleuchtung entzieht.

Hier nun möge man doch ja nicht vergessen, dass wir recht ausschließlich zu solchen reden, welche durch die strengen Konsequenzen der Inspirationslehre am Glauben irre geworden sind, denn eigentlich nur in dieser Voraussetzung gewinnen die Widersprüche ihre Kraft. Aber die Menschen sind verschieden, nicht jeder zieht aus Allem jede mögliche Folgerung, und Manche haben aus eben diesem Grunde an einem Irrtum sogar Wahrheit. Wer also an jener von uns bestrittenen Ansicht einen Trost und Segen haben sollte, ohne sich irgendwie dadurch geirrt zu finden, der lege dieses Buch hier aus der Hand.

1)
Hornquecksilber, Merkurochlorid und anderen veralteten Bezeichnungen bekannt, ist ein selten vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der „Halogenide“ mit der chemischen Zusammensetzung Hg2Cl2 und damit chemisch gesehen Quecksilber(I)-chlorid.
2)
Asant (Ferula assa-foetida, früher auch Ferula asa foetida), auch bekannt als Stinkasant oder Teufelsdreck,[1] ist eine Pflanzenart in der Familie der Doldenblütler
3)
Einfluss nehmen
4)
unfehlbaren
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autoren/k/kuegelgen_w/widersprueche/kuegelgen_-_widersprueche_-_03.txt · Zuletzt geändert: von aj
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