Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Der Gang in den Nußgarten.

Elfte Predigt

Hohelied Salomons 6,10-12.

Ich bin hinab in den Nußgarten gegangen, zu schauen das Grün am Bach, zu schauen, ob der Weinstück blühete, ob die Granatäpfel Blumen hätten. Ich wußte es nicht, daß meine Seele mich setzte auf die Wagen Amminadib. Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith; kehre wieder, kehre wieder, daß wir dich schauen. Was sehet ihr an Sulamith? Den Reigen zu Mahanaim.

In den vorstehenden Worten erzählt uns die Sulamith, die Braut des Herrn, von einer geistlichen Erfahrung, die uns um so interessanter sein muß, je weniger sie zu den seltneren und ungewöhnlicheren in Zion zu rechnen sind. Aehnliches widerfährt den Kindern Gottes immer noch, und nur zu häufig. Laßt uns das innere Erlebniß etwas näher ins Auge fassen, indem wir die Blicke richten:

  1. Auf den Gang, den die Sulamithin that.
  2. Auf die Lage, in welche dieser Gang sie brachte.
  3. Auf die freundliche Zurechtweisung, die ihr daselbst zu Theil ward.

I.

Die Sulamith meldet uns zuerst, sie habe einen Gang gethan. Diesen Gang hätte sie besser unterlassen; oder mußte sie ihn gehen, so hätte sie nicht vergessen sollen, die rechte Laterne dazu mitzunehmen. Sie war nicht lange zuvor in einem so gar schönen und seligen Stande. Dieser Stand wurde uns im dritten Capitel, sonderlich im dritten, vierten und fünften Vers beschrieben.

Sie hatte den Herrn gefunden und in dem Herrn sich, und Alles in dem Herrn, was sie bedurfte: ihre Gerechtigkeit, ihre Würdigkeit und ihre Stärke. Da sprach sie selig, Anderes nicht mehr schauend, als Ihn, und was in Ihm sie war und hatte: „Ich halte Ihn, und will Ihn nicht mehr lassen!“ Ja, da war ihr Vorsatz, Ihn festzuhalten und Ihn allein, im fröhlichen Blick, im genießenden Erinnern, bis daß sie Ihn brächte in ihrer Mutter Haus, und einzöge mit Ihm in ihrer Gebärerin Kammer, ins Paradies. Und wie gefiel es dem Herrn so wohl, daß Sulamith sich in Ihm zur Ruh begeben! Wie sehr billigte Er's, daß sie hinfort von nichts mehr wissen wollte, als von Ihm und ihrem vollendet und zum Ziel gekommen Sein in Ihm! „Ich beschwöre euch,“ rief Er den Töchtern Jerusalems, den gesetzlicher gestellten Gläubigen zu; „bei den Hinden und Rehen des Feldes beschwöre ich euch; das ist: bei den köstlichsten Besitzthümern, deren ihr euch rühmt, daß ihr meine Freundin nicht weckt aus ihrer Ruhe, noch sie reget, bis daß es ihr selbst gefalle!“ „Ihr selbst.“ Merkwürdig! Der Herr also wird sie ruhen lassen. Ihm gefällt es nicht, wenn seine Kinder sich anderswo finden lassen, als auf der grünen Weide seiner Gnade und Verdienste. Durch Schuld ihres Unglaubens kommen sie von da wieder weg; nicht durch eine Hand aus der Höhe, die sie vertriebe. Der Herr aber läßt es je zuweilen zu, daß sie den Ruhestand einmal wieder verlassen. Läßt Er's aber zu, zu welchem Ende thut Er's, als sie zum Genuß seines Sabbaths nur gründlicher noch zuzubereiten und zu befähigen. „Bis daß es ihr selbst gefällt.“ Nun, dieses: „Bis daß“ trat nur zu bald in Sulamiths Leben ein. „Ich bin hinabgegangen“ erzählt sie an unserm Ort. Ei, wäre sie lieber geblieben mit ihren Gedanken und Beschauungen, wo sie war: außer sich nämlich, in der Gerechtigkeit, die durch den Glauben kommt, in dem Erbe, das ihr beigelegt war in ihrem Bürgen. Aber es wandelte sie ein Gelüste an, nicht außer sich allein eine Herrlichkeit zu haben, sondern auch eine zu besitzen in ihr selber; und so ging sie denn zu einer Musterung hinab. Wohin? „In den Nußgarten.“ Nach unserm Sprachgebrauch: „in den Fruchtgarten.“ Und dieser Garten, wie aus andern Stellen unzweideutig erhellt, ist nichts Anderes, als das Herz und der Wandel, ihr inn'res und äuß'res Leben. Aber da hinein zu treten, wäre uns nicht gestattet? O freilich, wir werden sogar dazu ermuntert. Paulus schreibt: Untersuchet euch selbst, ob ihr im Glauben seid, u. s. w. Jedoch, wie schon bemerkt, werde zuvörderst bei solchen Gängen die rechte Laterne nicht zurückgelassen, ich meine die des evangelischen Christenthums, die des Artikels von der allgenugsamen Gottesgnade in Christo Jesu. Zum andern trete man dergleichen Gänge an mit einem genügsamen und bescheidenen Sinn, und hüte sich, die Ansprüche an den Fruchtgarten und dessen Gewächs zu hoch zu spannen und zu übertreiben. Finden wir z. B. auf solchem Gange in unserm Herzensgarten das „Lust haben an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen“; oder das aufrichtige, redliche Begehren, allein um des Blutes Christi willen zu Gnaden angenommen zu werden; oder das ungeheuchelte Verlangen, in Jesum eingekleidet zu sein, weil man sich außer Ihm nackt ersieht und bloß und jämmerlich: so mögen wir schon über die Entdeckung dieser Blümlein laut aufjauchzen zum Preise Gottes, mögte auf sie auch unser Fund und unsere ganze Erndte sich beschränken, und im Uebrigen nur Unfruchtbarkeit und Oede sich erschauen lassen. Solche Genügsamkeit aber war der Sulamith nicht eigen. Sie ging hinab in den Fruchtgarten, nicht allein zu schauen das Bächlein des Heilsverlangens, sondern am Bächlein auch ein üppig Grün. Sie ging, nicht zu sehen bloß, ob der Weinstock eines neuen, auf den Herrn gerichteten Sinnes in sie gepflanzet sei; auch reiche, duftige Blüthen begehrte sie an dem Weinstock zu gewahren. Nicht wollte sie nur den Granatapfelbaum eines gläubigen Seufzens nach dem Heil in Christo in sich finden; nein, nein, ein ganzes Blumenparadies sollte aus ihrem innern und äußern Leben dem entzückten Blick entgegen schimmern. Ihr Herz, voll wollte sie's sehen von brünstiger Zärtlichkeit zu Gott, von durchhaltender Andachtsgluth, von flammender Nächstenliebe, von nichts als göttlichen Trieben, und heiligen Regungen und Bewegungen voll, und rein auch von der leisesten Spur eines ungöttlichen, fleischlichen oder irdischen Wesens. Und ihrem Herzen sollte die Gestalt ihres Lebens entsprechen. Wie ein gesegnetes Erndtefeld wollte sie es vor sich ausgebreitet sehen; eine Garbe guter Thaten und Worte neben der andern; das Auge des Herrn mit Wohlgefallen darüber offen, und nirgends ein Punkt, ein Fleck, der diesem Auge nicht behagen könnte. Seht, nach dergleichen stand ihr Sinn. Sie hat es selbst kein Hehl. „Ich bin hinab gegangen,“ spricht sie, in den Nußgarten, zu schauen das Grün am Bach, zu schauen, ob der Weinstock blühete, und ob die Granatäpfel Blumen hätten.„ Daß das Gewächs der Willigkeit zu allem Göttlichen durch die Gnade in ihre Wesens-Tiefen gepflanzt worden war, genügte ihr nicht, sie wollte auch an diesem himmlischen Gewächs in jeglicher Beziehung die gereiste Frucht des Vollbringens finden, und glaubte, sie müsse gefunden sein, sie müsse; und das war ein Vergriff, das hieß, den Bogen der Anforderungen an die eigene persönliche Heiligkeit überspannen. Ja, es stak Schlimmeres dahinter. Es hieß, die Merkmale empfangener Gnade mit dem Bedingungs- und Erwerb-Grund der Gnade verwechseln.

II.

Wie bekam nun der Sulamith dieser Gartengang? O äußerst übel. Sie gerieth alsbald in eine sehr mißliche, bedrängnißvolle Lage. Sie selbst beschreibt uns diese Lage mit den geheimnißvollen Worten: „Ich wußte es nicht, daß meine Seele mich setzte auf die Wagen Amminadib.“ Diese Worte haben einen mehrfachen Verstand, und sollen ihn haben. In jeglichem Sinne aber deuten sie auf eine mißliche und bedauernswerthe Stellung. Amminadib war ein Feldherr, ein tapfrer, kriegeslustiger General in Juda. Amminadib's Wagen sind Kriegeswagen. Gerieth nun die Sulamith da hinauf, so heißt das nichts anders, als: ihre Ruhe war hin, ihr Friedensstand zu Ende. Und also hatte sich's. „Ich gerieth hinein, will sie sagen, „in Noth, Sturm, Angst, Gedränge.“ - Aber wie denn das? - Ihr mögt es euch ja denken. Die Arme fand nicht, was sie suchte. Die Vegetation am Bach entsprach ihrer Erwartung nicht. Der Weinstock stand nicht in der erwünschten Blüthe. Die Granatäpfelbäume boten nicht die gesuchte Pracht. Ach, auf der Flur des innern wie des äußern Lebens tausendmal mehr Unkraut und wildes Gestrüppe, als himmlisches Gewächs, und Pflanzung aus der Höhe. Sündigkeit, Schuld und Verderben genug im Herzen und im Wandeln; aber nichts, was irgend Würdigkeit verlieh; nichts, nichts, was sie als Wohlgefälliges vor die Augen Gottes stellen, oder darauf sie sich als den Ertrag eines wohlverwalteten Gnadenpfundes berufen konnte. Solch Gesicht aber hat nichts Angenehmes; etwas Schreckhaftes hat's, wenn das Licht von Golgatha nicht hell darein scheint. Und dieses Licht war ihr verdunkelt. Ihr Blick hatte sich verkehrt. Ihr ganzer Standpunkt war verrückt. Sie glaubte auch in sich selbst etwas Heiliges sein zu müssen, um Gott zu gefallen, ganz vergessend, daß Gott mit ihr, als mit ihr selbst, nie handeln wolle, nie handeln werde; ganz außer Augen lassend, daß es nur gelte, in uns die Kennzeichen der uns zu Theil gewordenen Begnadigung aufzufinden, nicht aber deren Bedingungen und Gründe. Und weil sie nun in sich die gewünschte, heilige Tochter nirgend fand, sondern eine Sünderin vielmehr, die in Allem zu kurz kam, so gerieth sie in eine große Noth, und sah den ganzen Bau ihrer Hoffnung schwanken.

Nun aber wird sie auch noch in einer zweiten Weise auf die Wagen Amminadib gesetzt. Sie rüstete sich zu einem Feldzug. Was noch nicht war, sollte erstritten, und die Sünde in ihr im Wege gesetzlicher Bemühungen erwürget werden. Da ward denn der Helm des guten Vorsatzes auf's Haupt gesetzt, und der Panzer - freilich ein papierner - der Fürsichtigkeit um die Brust geschnallt, und das Panier der göttlichen Gebote erhoben, und die Loosung: „Täglich reiner!“ in die Fahne geschrieben. Und das Schwert des sogenannten festen Willens ward ergriffen, und die Posaune der Gelübde vorher geblasen, und die Wagenräder wurden geschmiert mit dem Del des Ernstes, und so ging's denn gegen Welt, Fleisch und Teufel an; so sollte mit Aufpassen nun, mit Verleugnen und Widerstehen der Sünde im Herzen, wie im Wandel der Garaus gemacht, Erkleckliches mit Gottes Hülfe erzielt, ja ein Musterstück von Heiligkeit dargestellt werden.

Doch wozu diente dieses Unternehmen, als daß sie vollends auf die Wagen Amminadib kam. Die Wagen in unserm Texte bezeichnen nicht Kriegswagen nur, sondern auch Wagen überhaupt, wegbringende, entführende Carossen. Amminadib heißt aber deutsch: Mein freiwilliges Volk; doch so, daß das Wort freiwillig hier nicht im löblichen, sondern im schlimmen Sinne steht, und ein Volk bezeichnet, das selbstständig sein, das auf eigenen Beinen stehen, und aus sich selber etwas machen will. Und solches wollte nun auch die Sulamith. Sie suchte wieder die Gerechtigkeit aus dem Gesetz; und wirklich, ehe sie sich's versah, war sie auf sich selbst zurückgeworfen, und wie auf Zauberwagen weit, weit von Christo und dem neuen Testamente weggeführt. Aber wie erging es ihr in dieser Entfremdung? O kläglich, kläglich! Saure Arbeit ohne Lohn, Tagelöhner-Mühe ohne Austrag. Schön waren die Fäden aufgezogen; als es an's Weben ging, war die Seide faul. Trefflich lief der Wagen vom Platz: - auf dem Wege - ach! brach die Are. Die Heiligkeit wollte nicht wachsen, und wehe! die Sünde nicht vergehn. Das Gesetz erwies sich nur als Kraft der Sünde, die Sünde weckend, und nicht als der Sünde Tod; wohl aber als der Tod der Heiligkeit: denn je ernstlicher sie dem Gesetze den Gehorsam zu leisten sich bemühete, den es forderte, um desto deutlicher leuchtete es ihr ein, wie sie auch nicht einmal eines Anfangs jenes Gehorsams sich rühmen könne. Und zu den alten Sünden gesellte sich mit der Zeit obendrein die neue eines bitteren Verdrusses, daß das Gesetz so scharf, eines lästerlichen Unmuths, daß Gott so heilig sei. Diese neue Sünde aber setzte der alten die Krone auf und kleidete die Braut vor ihrem Bewußtsein in das Schwarz der alleräußersten Verwerflichkeit. Arme Sulamith, wo geriethst du hin! „Ich wußte es nicht, daß meine Seele mich setzte auf die Wagen Amminadib!“ Ach, wußtest du das nicht? Jetzt spürst du's, du einst so selige Wohnerin in Gottes Friedestadt! Wehe! wo blieb dir das linde, sanfte Sausen? Sturm jetzt und erquickungslose Oede um und um; Gott zurückgetreten, die Hoffnung zerschellt, die Verzweiflung nahe. Sulamith, wagst du nicht noch einen Auslauf? Es mögte ein wiederholter Versuch gelingen, ein erneuter kräftiger Entschluß zum Ziel dich führen, den Widerstand im Fleisch vernichten, und dir die Liebesmacht im Herzen wecken, der Alles möglich ist. Sie hört's, und schweigt, und senkt das Haupt. Nein, nein, ihr Muth ist hin. „Ich Elende,“ schreit ihre Seele, „wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes!“ - Und siehe, da sitzt sie wieder auf Wagenrädern, und weiß es nicht. Ihr Innerstes, auf dem Wagen des Gnadendurstes fährts dahin, auf dem der Sehnsucht nach einem freien, Alles gewährenden Erbarmen. Sie seufzt: „Für mich kann kein Erbarmen sein!“ doch schmachtet sie darnach. Und freilich ist auch dieses Sehnen ein Wagen, ein Wagen Amminadib. Er bricht durch Alles durch, und führt zum Sieg, und ist der Wagen des „freiwilligen Volkes“ auch im besseren Sinne.

III.

Es läßt der Herr die Seinen wohl einmal, aber er verläßt sie nicht. Er gibt es ihnen wohl einmal zu, daß sie der graden Bahn entweichen; aber dann wirft er ihnen das Gängelband der Liebe wieder nach, und bringt aufs neue sie zurechte. Auch unsre Sulamith erfährt es so. Ihr Jammer war auf's äußerste gestiegen, Alles fehlgeschlagen, jede Hoffnung vereitelt. Statt heiliger zu werden, wie sie wollte, war sie auf dem Wege ihrer gesetzlichen Bemühungen nur umfassender noch ihrer gänzlichen Zerrüttung sich bewußt geworden., Es war ihr vollends, was sie von Gerechtigkeit und Kraft noch zu besitzen wähnte, auf diesem Wege zerronnen und vergangen. Nur ihrer Schulden Menge hatte sich vermehrt; nicht der Schatz ihrer Tugenden. Sie hatte Verderbens-Tiefen in sich entdeckt, wie nie zuvor, und Erfahrungen von ihrem Unvermögen gemacht, die sie der Verzweiflung würden überliefert haben, wenn es möglich wäre, daß Kinder Gottes, in denen „der Saame bleibt,“ je wieder verzweifeln könnten. So saß sie da, kraft- und athemlos, voll innern Sturms und Bangens, Scheu und Herzensnoth. Eine Wolke tiefer Schwermuth über ihrer Stirn; ein unbeschreiblicher Unfriede in ihrem Innern; was tönt da herein in ihren Sorgenwinkel? O ein Zuruf, süß und erquicklich ohne Gleichen; und an den Ruf knüpft sich ein Name; nein, ein lieblicherer, ein verheißungsvollerer konnte ihr nicht entgegenklingen.

Der Name, womit sie sich gegrüßt hört, ist Sulamith. O Name, überfließend von reicher, herzentzückender Bedeutung! Sulamith heißt zuvörderst: Vollkommene, Wohlgestaltete, Schöne ohne Tadel. Dann, das Wort von Salem hergeleitet, heißt's: Jerusalemitin, Kind der Gottesstadt, und erinnert die Braut an ihre erhabene, freie Stellung. Das Wort von Salomo entlehnt, bedeutet: Tochter des Friedens, und Salomo's Braut und Schwester, das ist: mit dem himmlischen Salomo Vertraute und Vereinte, und Theilnehmerin an seinen Vorrechten, Gütern und Vollkommenheiten. Denkt, denkt, welch ein Name! und solchen Namen gibt der Bräutigam seiner Braut schon diesseits des Himmels; ja, so nennt er sie in einem Augenblicke, da sie selbst im Lichte des Gesetzes nur Sünde und Gebrechen an sich findet, und ihr Glaube ein rauchender Docht ist, und ihr Herz eine dunkle, Sturmdurchtoste Oede. Wer kann das fassen? Aber eine Seele, die einmal Christo angehört, ist immer Sulamith, ist Sulamith überall, und bleibt auch in der Verirrung Sulamith, die Vollkommene, die Wohlgefällige, die dem Könige Jerusalems Verlobte.

„Sulamith!“ spricht der Herr, als wollte er sagen: „Kennest du dich selbst nicht mehr, du Schönste unter den Weibern?“ „Sulamith!“ ruft er ihr zu, als mögte er ihr andeuten: „Vergaßest du, daß du deine Gerechtigkeit in mir besitzest?“ „Sulamith!“ als sollte ihr zu verstehn gegeben werden: „O wie weit hast du von deiner Bestimmung dich entfernt, die du nur Frieden haben solltest, und dich freuen.“ „Sulamith, kehre wieder!“ und noch dreimal ruft er's: „Kehre wieder! Kehre wieder! Kehre wieder!“

Der freundliche Herr! der getreue! Er muß sie zurücke haben, und wieder eingeführt in seinen Frieden. Seine Schafe sind geborgen. Wohin ein Wind des Irrthums sie verschlägt, eine finst're Macht sie fortrafft, eine Kraft der Bezauberung sie entführt; ehe sie sich's versehen, schlägt das: „Kehre wieder!“ an ihr Ohr. Und o! wenn Er sein: „Kehre wieder!“ ruft, ob Er es in ein Menschenwort verhüllt, ob Er es knüpft an einen Spruch der Schrift, ob Er's in Geschicke verkleidet, in entzaubernde Erlebnisse, in zur Nüchternheit verhelfende Erfahrungen; oder ob Er's direct und unvermittelt durch den Geist ins Herz ruft: dann gibt es Wunder, dann fallen augenblicklich die Schuppen von den Augen, die falschen Lichter sind im Flug zerstreut, und der richtige Gesichtspunkt ist in einem Nu zurückgegeben. Es ist an dem, in bedeutende Gemüthsverirrungen können selbst wahre Christen wieder hineingerathen. Geschehen kanns, daß sie dergestalt vom rechten Gleise wieder abkommen, und so gänzlich wieder von werkbündlichen Vorstellungen in Besitz genommen werden, daß sie die Glocken der Stadt Jerusalem kaum noch wie aus weiter Ferne läuten hören, und, nur von dem Richterauge des fordernden Gesetzes angestarrt, an das Vorhandensein eines Evangeliums nicht mehr zu glauben scheinen. Sie haben es nun wieder auf sich selbst genommen, ihre Seligkeit zu schaffen. Jesus ist ein andrer Moses, der vorab bezahlt sein will, und dann erst segnet. Seine Verheißungen sind Gebote, seine Tröstungen Vorschriften. Nun, man will damit schon fertig werden; aber was gibt's? Entweder man löst das Gesetz auf, schwächt es ab, schiebt allerlei menschliche Aufsätze an dessen Stelle, setzt etwa die Erfüllung nur in eine äußerliche Ascetik, Welt- und Selbstverleugnung, und wird, ehe man sich's versieht, ein guter Pharisäer, durch und durch verblendet , und von Dünkel strotzend. Oder das Gesetz macht sich in seinem wahren Gehalte geltend, und verlangt Heiligkeit des ganzen Menschen, Heiligkeit aus einem Stück. Man gedenkt sie zu gewähren, man greift sich an, aber was wird auf diesem Wege gewonnen, als das Bewußtsein der unermeßlichen Entfernung, in der man sich vom Ziel befinde. Man wird müde, man verzagt an der Möglichkeit irgend eines glücklichen Erfolgs, man läßt verdrossen die Hände sinken, man gibt die Sache auf; und vielleicht gelingt's dem Teufel, uns jetzt wieder für eine Zeitlang in die Zauberkreise der Welt hereinzuladen, uns im Genuß des Lebens des Lebens Zweck zu zeigen, uns ganz wieder ins Materielle zu verstricken, und, zum mindesten vor den Augen der Menschen, unsern Abfall zu vollenden. Oder in dumpfen Mißmuth versinkt das Herz, es geräth in Zerfallenheit mit Gott und der Welt; in einem trotzigen Abläugnen, daß überhaupt für Sünder an ein Seligwerden zu denken sei, macht sich's Luft, und diese Herausgeworfenheit aus der Spur der Wahrheit ist nicht geringer, nicht unerheblicher, als jene. Doch das allmächtige: „Kehre wieder!“ des guten Hirten, hat's auch seine Stunde, es erreicht, was einmal Sein war, immer wieder, und bringt in einem Momente wiederum zurecht, was - wer weiß wie lange - wich und sich verirrte. „Kehre wieder!“ Es ist Ruf der Liebe. Sein Herz kann diese Schafe nicht mehr lassen. Ruf der Amtspflicht ist es; denn: „Das ist meines Vaters Wille, daß ich von Allen, die Er mir gegeben, keins verliere.“ Es ist Ruf der Treue. „Niemand,“ sprach er, “ wird sie aus meinen Händen reißen!“ und dem Worte steht er. Ruf der Gerechtigkeit ist's. Sind sie einmal in Ihm unsträflich worden, wie darf er sie je mehr wie Sünder fahren lassen. - O wann wird er auch euch umtönen, jener Ruf, ihr verflogenen Tauben in unserer Mitte; verflogene in das unerquickliche Getreibe der Welt, oder in die Schatten eines unnöthigen Verzagens, oder in das Tagelöhnerthum einer erfolglosen Gesetzesarbeit, oder in Stände vielleicht noch schlimmerer Verirrung. Nun, waret ihr jemals wirklich seine Tauben, und nicht mit Taubenfedern nur geschmückte, unter dem Gefieder aber schwarze Raben: heute oder morgen läutet dann auch über euern Häuptern das: „Kehret wieder! Kehret wieder!“ und der wiederbringenden Macht dieses Klanges ist nicht zu wiederstehen.

„Kehre wieder, o Sulamith!“ ruft der Bräutigam, und fügt hinzu: „Daß wir dich schauen.“ Das ist bedeutsam. Der Nachdruck ruht auf dem „Wir.“ Der Herr will sagen: „Du wolltest dich dir selber präsentiren und den Menschen. Du warst darauf erpicht, schön zu erscheinen in deinen und in den Augen der Welt, und wolltest dann erst glauben, daß du schön seist. Vor Allem aber mache sich die Frage in dir geltend, in welchem Lichte Wir dich schauen, der Vater, Sohn und heilige Geist; und weißt du, wir finden dich schön, was willst du mehr? Es genüge dir. Wir schauen aber nicht, wie ein Mensch schaut. Wir messen deine Schönheit nicht nach der Heiligkeit, die dir persönlich eigen ist. Nicht aus deiner persönlichen Erscheinung entlehnen wir uns dein Bild. Besinne dich, wie du vor uns in einer dir zugerechneten Gerechtigkeit erscheinst, und diese Gerechtigkeit ist vollkommen!“ - Seht, das Alles liegt in dem Zuruf: „Kehre wieder, daß wir dich schauen!“ Dieser Ruf soll die Braut aus ihrer gesetzlichen Befangenheit entbinden. Er ist Aufforderung an sie, den rechten Maaßstab an sich zu legen; Andeutung, wie sie sich nach ganz andern Grundsätzen beurtheile, als der Dreieinige es thue; Erinnerung, daß sie aus dem Gnadenbund in den Werkbund zurückgefallen, und freundliche Weisung, damit zufrieden sein zu wollen, daß, wenn sie sich selbst auch nicht gefalle, sie doch Gott dem Herrn genehm sei. Und Sulamith hat den Herrn verstanden; sie besinnt sich, reibt sich die Augen, wird ihres Rückfalls aus dem Lichte des Evangeliums sich bewußt, und kehret wieder; kehrt wieder unter das Kreuz, faßt die „Rechtfertigung durch den Glauben“ an; hüllt sich in die Gerechtigkeit des Bürgen, und freut sich um so herzlicher, in diesem Kleide sich von Gott erschaut zu wissen, je gründlicher sie es neuerdings erkannt hat, daß, wenn sie auch nur einen Faden des erforderlichen Schmuckes selbst beschaffen müßte, keine Hoffnung ihr in Ewigkeit mehr bliebe.

Kaum, daß sie nun in jene göttliche Anschauungsweise zurückgetreten ist, heißt es von ihr: „Was sehet ihr an Sulamith? - Den Reigen zu Mahanaim.“ Der Herr spricht die Worte; Er spricht sie rühmend, und seiner Verlobten freudiges Zeugniß gebend. Die Worte erinnern an die Mahanaim, den Engelchor, der dem Jakob begegnete, 1 Mos. 32, 2; zugleich an ein jauchzendes siegfeierndes Heerlager, denn Heerlager heißt das übersetzte Mahanaim. Was wollen sie aber sagen die Worte, als: „Meine Braut erscheine der Welt, wie sie möge; vor mir ist sie wie eine leuchtende Engelschaar! Meine Braut tanzt den Freuden-Reigen. Sie tanze ihn, und frohlocke wie ein triumphirend Heer. Sie triumphirt in Wahrheit!“ Ja, es scheint fast, als liege noch eine größere Bedeutung in den Worten, und es wolle der Bräutigam sagen: „Die Engel umjauchzen meine Braut, und sind entzückt im Anschaun ihrer Schönheit!“

Ja, unsere Sulamith ist nun wieder guten Muthes. Sie fand sich selbst, als Sulamith, als Schöne, in ihrem Bräutigam wieder. O wie ist sie deß so fröhlich, daß sie das, was sie vor Gott sein soll, in dem Herrn schon ist. Doppelt wohl thut ihr das Bewußtsein nach den Vernichtungsschrecken, die sie neuerdings, wie nie zuvor, erfahren. Und diese Erlösungsfreude ergießt sich wie Frühlingssonnenschein und Thau auch über die Pflanzung des Heiligen Geistes in ihrem Innern. Jetzt sprießt's und grünt's am Bach, jetzt blüht der Weinstock, jetzt haben die Granatäpfel Blumen; ja, noch mehr als dies ist jetzt vorhanden. Lähmt das Gesetz: das Evangelium beflügelt; macht das Gebot verdrossen: der guten Botschaft entströmt nur Ermuthigung und Frische. Wir sind nur aufgelegt und geschickt, Gott recht zu dienen, wenn das Gewissen frei ist, die Liebe rege, die Hoffnung auf Erfolg belebt, das Bewußtsein der Gnadennähe Gottes zweifellos. Das Alles aber, durch den Glauben kommt's, nicht durch's Gebot. Dem, der da glaubet, sind alle Dinge möglich.

Kehret denn wieder, die ihr euch von Dem verschlagen ließt, der unser Alles ist. Was ihr noch lebet im Fleisch, lebet es im Glauben des Sohnes Gottes, der euch geliebet hat, und sich für euch dahin gegeben. Freuet euch des Herrn; in der Freude ruht mehr, als himmlischer Genuß. Habet, wie ihr dazu berechtigt seid, ein in seinem Blut vollendetes Gewissen. Lasset euch das nicht irre machen, was ihr noch von Gebrechen an euch wahrnehmet. Geht dawider an, aber nichts als gegen einen Fleck auf dem Gerechtigkeitsschmuck, in dem ihr vor Gott steht. Vergesset nicht das Wort: „Kehre wieder, daß Wir dich schauen!“ Und fragt eine Stimme hämisch aus der Welt: „Was sieht man an Sulamith?“ so entgegnet ihr selbst im tapfern Glauben: „Den Reigen zu Mahanaim!“ Amen.

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