Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ihm leben sie Alle.
Predigt über Lucas 20,38., gehalten am Todtenfeste, den 21. November 1852.
Lucas 20,38.
Ihm leben sie Alle.
Geliebte in dem Herrn! Der heutige Sonntag, der letzte eines scheidenden Kirchenjahres, erscheint im Trauerflor und mit dem dunkeln Cypressenkranze. Dem Andenken der Liebe geweiht, versetzt er uns im Geiste in die Versammlung derer, die einst als theure Gefährten Hand in Hand mit uns die Pilgerstraße zogen, aber, unserm Herzen zu frühe, nach Gottes unerforschlichem Rathschluß von unsrer Seite abberufen wurden. Die Sage, daß die Zeit die Wunden heile, welche der Tod geschlagen, hat keine allgemeine Wahrheit. Wie manche frische Thräne wird deß Zeuge sein, die heute auf Grabeshügel niederthaut, auf denen die ersten Kränze vielleicht vor Jahren schon verwelkten. Weißt etwa du von Lebenslücken nicht zu sagen, die auf Erden niemand und nichts mehr ausfüllt, so wissen’s Andre. Hast du dich seit dem und jenem Schmerzensgange mit dem Leben wieder vollständig zu befreunden vermocht, verarge es Andern nicht, wenn sie seitdem als verwaiste Fremdlinge sich fühlen in dieser Welt. Nun, ihr still Trauernden, um die bedeutende Strecke einer ganzen Jahresreise sehen wir uns heute wieder unsern verklärten Lieben näher gerückt. Dieser Gedanke, wie ist er süß und lieblich! Aber besagt er in der That auch mehr, als daß neben den Gräben jener nun bald auch die unsern sich öffnen werden? – Ich denke doch, geliebten Freunde; und unser heutiges Schriftwort soll diese unsere Hoffnung uns neu beleben, befestigen und untermauern.
Was demselben unmittelbar vorangeht, war schon früher einmal an diesem Feste Gegenstand unsrer gemeinsamen Betrachtung. Es sind die denkwürdigen Worte, mit welchen der Herr einen Beweis für die Auferstehung der Todten auch in dem Umstande uns nachweist, daß sich Gott bei der bekannten Erscheinung im brennenden Busche in der Wüste, und folglich zu einer Zeit, da die Patriarchen Israels längst entschlafen waren, vor seinem Knechte Moses den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ nannte. „Der lebendige Gott aber“, so schließt der Heiland, „wird sich nicht nach Leichen nennen; und wird von Todten nicht, sondern nur von Lebendigen eine neue Bezeichnung in seinen majestätischen Titel aufnehmen.“ „Gott“, spricht der Herr, „ist nicht der Todten, sondern der Lebendigen Gott;“ und läßt dann die Worte folgen: “denn sie leben ihm Alle.“ Wenige Sylben, aber welch’ einen Schatz bergen sie in ihrem Schooße. Wir gedenken denselben heute zu heben. Der Ausspruch durchreicht Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit. Kommt, schauen wir die hochwichtige Wahrheit näher an, die das Wort „Ihm leben sie Alle“ zuerst für die Welt der Lebendigen und sodann für die Welt der Todten in sich birgt; und knüpfe der Herr an unsre Betrachtung einen nachhaltigen Segen.
1.
In unserm Texte redet der Herr der Herren, der König der Wahrheit, der schon für sein bloßes, nacktes Wort mit vollem Rechte unsern Glauben gebieterisch fordern könnte. Aber er fordert diesen Glauben nicht, ohne zuvor sein Wort mit hundert strahlenden Wundern, ja mit seiner eignen Auferstehung von den Todten, glänzend besiegelt zu haben. Bei dem Ausspruche, der uns heute von seiner Lippe antönt, durchmißt sein Auge einen weiten, weiten Kreis, und ruht zunächst auf den Millionen Sterblicher, die noch diesseits der Ewigkeit mit uns am Staube pilgern. Dieses Menschengewimmel, das unsrer vernünftigen Anschauung in seiner schnell auftauchenden, und eben so bald wieder dahinschwindenden, und wie Wasser zerrinnenden Gesammtheit so leicht nur als ein luftiges Traumgebilde der Natur, ja als ein Wasserblasenspiel auf der die Schöpfung durchrauschenden Strömung allgemeinen Naturlebens erscheinen will, erhebt Er zunächst zu einer hohen Würde. Er weiß nicht von einer Menschenmasse und einer Menschengattung nur, sondern zuerst und vor Allem von einzelnen Menschen, die als Einzelwesen Ihm in Betrachtung kommen, und als solche je ihren besonderen Beruf und ihre besondere Bestimmung haben. Es trifft das Wort des Herrn wie mit der Schärfe eines geschliffenen Schwerdtes den in unsern Tagen so weit unter den Menschen verbreiteten pantheistischen Wahn, daß die Menschheit nur als Ganzes dem ihr gesteckten, und ohnehin nur in einer irdischen Herrlichkeit aufgehenden Ziele entgegenstrebende, der einzelne Mensch dagegen, nachdem er seinen kurzen Daseinstraum geträumt, den Schauplatz wieder räume, und für seine Person auf immer untergehe. Dem gottesleugnerischen Haufen, der zu dieser Ansicht sich bekennt, leben mithin nicht Alle, sondern ihm lebt vielmehr nur das Geschlecht, während die Einzelnen ihm wie die Blumen des Feldes am Morgen erblühen, um am Abend wieder dahinzuwelken, und aus dem Reiche der Seienden zu verschwinden. Der Herr aber, der nichts weiß von einer Menschen erzeugenden dunkeln und unpersönlichen Naturkraft, sondern dem in seinem Vater ein persönlicher Schöpfer der Geister im Himmel thront, eröffnet uns: „Ihm“ (nämlich dem allmächtigen Gott) „lebt nicht bloß das All, sondern Ihm leben sie Alle;“ d.h. zuvörderst: Er, der sie als Personen schuf, kennt und beachtet sie auch als solche. Nicht blos in Masse kennt er sie, wie mancher Fürst nur so sein Kriegsheer kennt; sondern er kennt sie, wie ein Familienvater die Häupter seiner Lieben. Als Individuen stehen sie vor seinem Angesichte. Er hat sie gezählt, Er nennet sie mit Namen, und jeder Einzelne hat vor Ihm seine persönliche Geltung, wie er von Ihm seinen eigenthümlichen geistigen Stempel und Beruf empfangen hat. Trostreiche Wahrheit dies, durch welche wir gleichsam eine Auferstehung aus dem lustig zerfahrenden Schattenreiche der Masse feiern, und unsre Persönlichkeit gerettet sehn. Haupt für Haupt leben wir Ihm, d.h. seiner Beachtung, seiner Anerkennung, seiner Fürsorge und dem Bekümmern seiner Liebe. Wir sind in Seinen Augen Haupt für Haupt zunächst um unsrer selbst willen da, und einzeln, wer immer wir auch seien, von Ihm zur Seligkeit berufen. Da seht ihr, wie das Christenthum uns erhöhet und zu Ehren bringt, während eine neuere Vernunftlehre in einen grauen Gattungsteig uns gleichsam einzustampfen strebt, und zu Geschöpfen uns entwürdigt, die eigentlich nichts sind für sich selbst, sondern nur als verfliegende Atome eines ewig wechselnden Ganzen in einige Betrachtung kommen. Das Christenthum Löst uns von der Gattung, und drückt einem Jeden, der ein Menschenantlitz trägt, den Stempel einer persönlichen Würde, und einer bis in die Ewigkeit hinüberreichenden individuellen Bestimmung an die Stirn.
“Sie leben Ihm Alle.“ Brüder, wir haben die Tiefe des Wortes, selbst sofern es sich auf das Diesseits nur bezieht, nur leise erst berührt, aber noch lange nicht ausgeschöpft. „Sie leben Ihm Alle;“ d.h. weiter: ob sie für Tausende sind, wie die Todten, ihnen unbekannt, und ihrem liebenden Bekümmern fremd; der da droben hat ein Herz für sie, und begleitet sie mit seinem Erbarmen auf ihrem Lebensgange. Ja, du armer, von aller Welt verlassener Hiob, du hättest in deiner Vereinsamung ein Mehreres noch sagen dürfen, als das: „Mein Zeuge ist im Himmel.“ Im Himmel war, wie du nachmals schon erfahren, auch dein Freund, dein Anwalt, dein Retter und dein Helfer! – David, königlicher Saitenschläger, wohl sangest du die Wahrheit, als du in schwerer Bedrängniß, verrathen von deinen Vertrautesten, daherriefst: „Arm bin ich und verwaiset, aber der Herr sorget für mich!“ – Ich weiß gar wohl, wie nicht wenige auch der unsern klagen möchten: Ich lebe Niemandem in der Welt, sondern bin Allen wie ein Gestorbener; mir schlägt kein Herz; ich lebe oder gehe zu Grabe, wer fragt nach mir?“ – Aber wolle nicht also sprechen lieber Bruder, liebe Schwester. Gebrauche mindestens nicht das traurige Wörtlein „Niemand.“ Einer fragt nach dir; - ach fragtest du nur auch nach Ihm! Einer weiß, wo du wohnest, und hält mit seinen Augen über dir Wacht; und hat wohl Raum für dich in seiner Liebe, und hülfe dir so gerne, wo du nur gründlich nach Leib und Seele von ihm dir wolltest helfen lassen. Der ist es, der da bei Mose spricht: „Ach, daß sie ein Herz hätten, mich zu fürchten, auf daß es ihnen wohl ginge und ihren Kindern ewiglich! Der, der so andringlich bei Jesaias ausruft: „O daß sie auf meine Gebote achten wollten, so würde ihr Friede werden, wie die Wasserwellen!“ – Ja, wisse es, und vergiß es niemals wieder: bei ihm ist keiner ein Vergessener; vor Ihm ist Niemand wie ein Todter. Nein, wie der König der Wahrheit es bezeuget, so hat sich’s: „Ihm leben sie Alle.“
Und glaubt, nicht so leben sie ihm, wie auch uns Tausende leben, die wir von Angesicht und vielleicht auch mit Namen kennen, mit denen wir aber weiter in keine Berührung kommen. Sie leben ihm Alle mit oder wider Willen als Bewegte von seiner Hand, als Hebel seiner Weltregierung, und als Werkzeuge bei der Vollziehung und Verwirklichung seiner Pläne. Alle, ein jeglicher an seinem Theil, weben sie mit an dem großen bunten Gewirke der Geschichte; nicht, wie sie sich häufig dünken lassen, als die Webermeister; sondern nur als Gottes Spindeln und Weberschifflein. Sie meinen wohl, sie thäten ihren eigenen Willen, und in einem gewissen Sinne thuen sie ihn wirklich. Dennoch dienen auch sie bewußt oder unbewußt nur einem vorbedachten Rath und Vorsatz dessen, ohne den sie sich nicht regen noch bewegen können. In diesem Sinne lebten Ihm nicht blos die frommen Knechte Moses, David, Josia, Serubbabel, und wie sie weiter hießen. Ihm lebten ebensowohl ein Pharao, ein Nebukadnezar, ein Kaiphas, ein Pilatus, ja ein Nero gar; und wer wäre, der Ihm nicht hätte leben müssen? Und bis zur Stunde noch, - wartet’s ab, es wird sich zeigen, - leben ihm nicht allein die willigen Förderer seines Reiches, sondern auch seines Reiches Feinde und Verfolger. Wie jener fränkische Dränger ihm lebte, der einst im eisernen Kriegsschuh über unsern Nacken einherschritt, und Gott Hohn sprechend, dennoch in mannichfaltigster Weise der Verherrlichung dieses Gottes dienen mußte; wie selbst jene gottvergessene Korah-Rotte in neuster Zeit ihm lebte, die, ohne es zu ahnen, nach Gottes Fügung nur darum für eine Weile durch die Zäume brechen durfte, um uns die sittlichen Verderbenstiefen der Gegenwart aufzudecken, und in weiten Strecken die Kirche Gottes aus ihrem Todesschlafe wieder aufzurütteln; so – die Zukunft wird es lehren, - lebt ihm auch jener werdende Kaiser im Westen, so das zu neuem Fanatismus entflammte Rom, so leben ihm jene Richter, welche treue Unterthanen blos um des Evangeliums willen, das dieselben lasen, und dessen Herrlichkeit sie Andern priesen, zu Gefängniß oder gar zu den Galeeren verdammen. Sie leben Ihm Alle.
Freilich meint Mancher, er lebe nur sich. Er wird’s gewahr werden, daß er auch noch einem Andern lebte. Es athmet Keiner unter dem Himmel, der nicht Gott, dem Allerhöchsten verantwortlich wäre; Keiner, Keiner, über den Gott nicht Buch hielte und Kontrolle führte. Einst, - denkt an den reichen Mann im Evangelio; einst – denkt an den Scheunenbauer mit seinem „Iß, und trink, und sei nun ohne Sorge, liebe Seele;“ – einst, - denkt an den, der sein Pfund ins Schweißtuch wickelte, und es in die Erde vergrub; - einst, ehe sie sich’s versehn, schlägt die Stunde, da es ihnen offenbar werden wird, daß sie nicht blos sich, sondern zugleich dem Richter aller Welt gelebt. Ach, wie Wenigen nur kommt hieran ein Gedanke! Als ob sie Niemandem von ihrem Thun und Lassen Rechenschaft zu geben hätten, als nur sich selbst und höchstens etwa noch der Welt, so leben sie unbekümmert um Gott und Gottes Wort in den Tag hinein, und beten nicht, und widerstreben nicht der Sünde, jagen der Heiligung nicht nach, sondern thun, was ihr Fleisch gelüstet. O, wenn sie wüßten, daß jenseits der Wolken ein Schuldregister für sie liegt, mit ihrem Namen bezeichnet, in das all ihr Vornehmen und Unterfangen übergeht, und welches, täglich wachsend, allmählig zu einem furchtbaren Anklage- und Fluchbrief für sie anschwillt! Aber sie wissen’s nicht, oder wollens vielmehr nicht wissen. Es naht jedoch ein dunkler, wetterschwüler Tag, an dem sich diese Akte vor ihnen entrollen wird. Dann, wenn von den Säulen des Richterthrons auch ihnen das schauerliche “Gewogen und zu leicht befunden“ entgegenblitzen wird, werden sie es, jedoch zu spät, erfahren, welch eine große und ernste Wahrheit der Herr einst in die Welt hineinrief, als er die schlichten und unscheinbaren Worte aussprach: “Ihm leben sie Alle.“
Gänzlich jedoch bleibt es schon hienieden Keinem verborgen, daß er einem richterlichen Gotte lebe. Verhüllt sich’s dem Menschen am guten Tage; am bösen, dem Tage der Trübsal, und namentlich auf dem Kranken- und Sterbebette, gelangt’s ihm doch wohl zu dämmerndem Bewußtsein. Denn woher da das dumpfe Bangen in seiner Brust, und das wechselseitige sich Verklagen und Entschuldigen seiner Gedanken, so wie das ängstliche Haschen und Beschönigungs- und Rechtfertigungsgründen für dies und das, was in seinem Leben nicht taugt? Woher dies, als daher, daß endlich das lang unterdrückte Gewissen in dem Sünder zu Worte kommt, und ihm mit Donnerstimme zuruft: „Es steht ein Richterstuhl dort oben, und die Vergeltung ist kein leerer Wahn!“ – Ja, man lebet Gott, wenn man ihm auch der Willigkeit des Herzens nach nicht lebt. Man bringt’s, welche Hebel philosophischer Selbstüberredung man auch ansetzt, nicht dahin, jegliches Verhältniß zu dem Allmächtigen zu lösen. Derjenigen Beziehung wenigstens, in welcher man sich als Schuldiger findet vor Ihm, dem Weltenrichter, entschlägt man sich nicht. Sehet an den König Saul; warum stürzte er sich in sein Schwerdt, als weil er in jener Beziehung sich unaussprechlich unglücklich fühlte, aber mit aller Mühe sich derselben nicht entwinden konnte? Gedenkt an Judas, wie er selbstmörderisch sich den Strick um die unschuldige Kehle legte, weil ihm das unvertilgliche Gefühl, daß er mit seinem Frevel einem richterlichen Gotte lebe, das Dasein zu einer unerträglichen Bürde machte. An einen Voltaire gedenkt, der, nachdem er sein ganzes Leben hindurch den Glauben an das Dasein eines persönlichen Gottes und an eine Fortdauer nach dem Tode als eine Albernheit vor aller Welt laut verlacht, in den Krallen der Verzweiflung starb, und zwar aus Furcht und Grauen vor dem Gerichte, das er verneinte, aber das dafür in seinem Innern um so nachdrücklicher sich selbst bejahte. In diesem Grauen aber lebte er dem Gott, und fühlte Ihm sich leben, den er so entschieden geleugnet hatte; d.h. trotz aller angewandten Künste gelang es ihm nicht, der innern Anschauung seiner selbst als eines Delinquenten, der mit seiner verbrecherischen Vergangenheit Gotte verantwortlich sei, und von Seiten Gottes nur Verdammung und Verwerfung zu gewärtigen habe, sich zu entziehen. – Ja, “sie leben Ihm Alle“, die Gottlosen nicht ausgenommen. Ein Jeder lebt Ihm in einem gewissen Grade auch seinem Gefühl und Bewußtsein nach. Gott hat sie Alle unter Bann und geistigem Verschluß; und wie sie auch an den unsichtbaren Ketten zerren, mit denen sie gebunden sind, sie zerreißen sie nicht, noch entrinnen Sie Dem, der sie gefangen hält.
2.
Brüder, in seinem die Welt der Lebendigen betreffenden Sinne haben wir das Wort des Herrn betrachtet. Es erstreckt sich aber seine Bedeutung über das Diesseits weit hinaus, und reicht zugleich bis in das Gebiet der Todten hinüber. So nennen wir’s. Für Gott giebt’s eine Welt der Todten nicht. Nicht weiß Er, wie wir, von Menschen, die einmal waren; Er weiß nur von solchen, welche sind. Todtenbücher führt die Erde, nicht der Himmel. Am Stuhle Gottes finden sich dergleichen nicht. Ihm leben sie Alle. Unsre Kirchhöfe sind in Seinen Augen nur Stätten, wo die vom Schauplatz Abgetretenen ihre irdischen Pilgerkleider niederlegten. – Aber Alle lebten Ihm?“ – So Viele ihrer je auf Erden geathmet haben. Und nicht leben Ihm ihre Bilder nur, sondern sie selbst, als welchen der Tod nur die Hülle abgestreift, aber nicht die Persönlichkeit, geschweige die Existenz geraubt hat. Redet darum in Zukunft von euern Verblichenen immerhin als von Abberufenen; nicht aber mehr als von Todten; denn dieser Ausdruck hat keine Wahrheit. Höret auf, zu sprechen: „Der und der ist nicht mehr.“ Der Lügenvater selbst spricht so nicht, weil er besser weiß, wie es gegenwärtig um diejenigen steht, die zu eurer Seite nicht mehr wandeln. Ein unermeßliches Menschenreich freilich, welches das Auge Gottes nunmehr zu überschauen hat; aber Gottes Auge überblickt das ganze All, dessen grenzen um eine gute Strecke weiter reichen, als das Gewimmel der verewigten Menschengeister. Und lasset euch nur auch um den Raum für die Millionen, die schon von hinnen zogen, keine Sorge kommen. Schauet auf gen Himmel: Gottes Behausung ist groß! Gedenket an das Wort des Königes der Wahrheit: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ – So bleibt’s denn dabei: “Sie leben Ihm Alle.“ Nur für uns, die Blinden, die Kurzsichtigen und Glaubensschwachen giebt es Verstorbene. Der „Gott der Lebendigen“ kennt ein Reich der Todten nicht.
Sie leben; und Ihm leben sie. Sie leben Seiner Ehre, sei es als Feuerzeichen seiner richterlichen Gerechtigkeit, oder als Denkmale seiner erlösenden Gnade. Eine zweenfache Welt thut jenseits der Grabesnacht sich vor uns auf: eine Welt der Seligen, und eine andre der Verdammten. Wenn es nicht so wäre, was würde aus Gott, und der Ordnung seines Regiments, und wo bliebe die gepriesene Vollkommenheit Seines Wesens? Gottes Liebe ist keine schlaffe Empfindsamkeit, sondern hat einen festen unwandelbaren Kern; und Heiligkeit ist dieses Kernes Name. – Lassen wir übrigens über der letzteren der eben genannten beiden Welten für heute den Schleier ruhen! Wolltet ihr Hoffnung auch für die unbekehrt Dahingeschiedenen aus dem Umstande schöpfen, daß auch die Verdammten noch Gott, d.h. seinem Aufsehen und seiner Beachtung leben, so darf ich euch nicht verschweigen, daß ihr für solchen Trost im Worte Gottes wenig Stütze finden werdet. „Wer an den Sohn Gottes nicht glaubt“, lesen wir, „der wird das Leben nicht sehn, sondern der Zorn Gottes bleibet über ihm.“ „Aber könnten sie nicht“, wendet ihr ein, „da drüben noch glauben lernen?“ Wir lesen: „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben und darnach das Gericht.“ – „Aber es könnte ja möglich sein“, fahrt ihr fort, „daß sie durch ihr Verhalten das Gericht verkürzten, und zuletzt ihm ganz entrönnen?“ – Wenig Aussicht ist hiezu vorhanden. Wir lesen: „Und der Vater Abraham sprach zu dem reichen Manne in der Pein und Flamme: „Und über das Alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestiget, daß die da wollten von hinnen hinüberwandeln zu euch, können nicht, und auch nicht, die da möchten von dannen zu uns herüberfahren.“ – Und was lesen wir weiter? – Es wird eines jenseitigen „Feuers“ gedacht, das „nicht erlischt“, und eines „Wurms, der nicht stirbt“, und ach! eines „Rauchdampfes der Qual, welcher aufsteigt von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ – Doch, wie gesagt, für diesmal wenden wir den Blick hinweg von dieser Schauerwelt, und die Welt der Seligen, das himmlische Jerusalem öffne vor uns seine Perlenthore.
Dort sind sie, die einst auf Erden mit willig ergebenem Geiste Gott gelebt. Dort weilen auch die Eurigen, die vor kürzerer oder längerer Frist, in Hoffnung selig, in dem Herrn entschliefen. Aller Sünde sind sie jetzt entladen, aller Erdensorge baar. Der Mühsal der Pilgrimschaft auf ewig entrückt, umjauchzen sie den Thron des Allmächtigen, und dienen Ihm Tag und Nacht in seinem heiligen Tempel. „Und der auf dem Stuhle, wohnet über ihnen. Und es hungert und durstet sie nicht mehr; noch fällt mehr auf sie die Sonne oder irgend eine Hitze: denn das Lamm mitten im Stuhle weidet sie, und leitet sie zu dem lebendigen Wasserbrunnen. Und Gott hat abgewischt alle Thränen von ihren Augen, und der Tod ist nicht mehr, noch Leid noch Geschrei noch Schmerzen: denn das Erste ist vergangen, und der ewige Sabbathmorgen für sie angebrochen.“ – „Ist dies gewiß?“ höre ich euch fragen. – So gewiß, Freunde, als Der, der es bezeugt, sein Zeugniß nicht allein mit einem Leben voller Heiligkeit, Wunder und Zeichen, sondern mit seiner eignen Auferstehung von den Todten besiegelt hat; so gewiß, daß, wer es in Abrede stellen wollte, zuvor in einem Titanensturme gleichsam Himmel und Erde zusammenreißen, das Dasein Gottes leugnen, die Weltgeschichte zertrümmern, und Christum, den Fürsten des Lebens und den König der Wahrheit, zu einem Rasenden, seine Apostel zu eitel Gauklern und Fälschern, die Blutzeugen Seiner Kirche zu verirrten Schwärmern, und die Edelsten der ganzen Menschheit durch alle Jahrhunderte hindurch zu Wahnwitzigen und Narren stempeln müßte.
So wißt ihr denn, ihr Trauernden in unsrer Mitte, wo ihr das Fest, das in so ernstem Aufzug heute durch unsre Kirche schreitet, zu feiern habt. Nein, nicht bei den Hügeln da draußen, nicht zwischen den bemoosten Leichensteinen! Da sind sie nicht, die ihr suchet. Was suchet ihr die Lebendigen bei den Todten? Schwingt euch mit Glaubensflügeln zu der Anschauungsweise Gottes empor, der „nicht ein Gott der Todten,“ sondern „der Lebendigen Gott ist,“ und welchem sie Alle, Alle leben;“ und grüßt eure Heimberufenen dort, wo sie, nach dem Todesthal der Erde nicht mehr zurückverlangend, die Palme des Triumphes schwingen, und nun nach Herzens Begehr Den wieder lieben können, der so unaussprechlich sie zuerst geliebt. Wenn aber beim entzückenden Anblick eurer Verklärten dort auch aus eurer Brust der Sehnsuchtsruf sich losringt: „Selig, die zum Abendmal des Lammes berufen sind“; so wisset, daß im Himmel und auf Erden nur eine einzige Hand gefunden wird, die von der Pforte jenes Gemachs des Friedens und der Freude euch die Riegel löset. Es ist die Hand, die blutbeflossen einst vom Stamme des Kreuzes her nach den Sündern sich ausgestreckt, und die auch heute noch nicht verkürzet ist, sondern allen Mühseligen und Beladenen winket, sie ewig zu retten. O ergreifet sie, theure Brüder, und vertrauet mit Leib und Seele gänzlich Ihm euch an, der wie der Hölle und des Todes, so des Paradieses und des Thronsaals Gottes Schlüssel trägt! O, hin zu Ihm, ihr sterbend Wandelnden und wandelnd Sterbenden, daß Er auch euch durch die Nebel dieses Jammerthals eine wolkenfreie Aussicht in die Gottesstadt eröffne! Sonder Säumen zu Ihm hin, und nicht Ruhe Ihm gegeben mit Gebet und Flehen, nicht gewichen von Seines Hauses Thür, bis auch ihr mit der vollen inneren Wahrheit des Apostels sprechen könnt: “Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ Amen. -